V. Compton Lodge

Nach dem Frühstück machten wir uns für einen Morgenspaziergang fertig. Holmes verstaute die Papiere in einer ledernen Umhängetasche und steckte seinen Feldstecher ein. Draußen erwartete uns zu meiner Überraschung Jason Butler, der in einem robusten Arbeitsanzug steckte. Was hatte Holmes vor? Eine Landpartie? Es war diesig und feuchtkühl.

»Wohin soll es denn gehen?«, wollte ich von ihm wissen.

»Nur eine kurze Reise in die nähere Umgebung, lieber Freund.«

Butler ließ uns in eine schon bereitstehende Kutsche steigen, die er selbst fuhr. Wir verließen Fordwich in Richtung Nordosten und passierten dabei eine Vielzahl von Hopfenfeldern. Mein Gefährte hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Immer wieder sog er die Luft tief ein. Plötzlich war der Geruch des Meeres allgegenwärtig.

»Und, Watson? Wissen Sie schon, wohin wir fahren?«, fragte er mich plötzlich.

»Compton Lodge?«, mutmaßte ich.

Er verzog keine Miene, ein deutliches Zeichen, dass die Annahme richtig war.

»Nach meinen Informationen ist das Gut seit etwa zwanzig Jahren unbewohnt. Wir werden uns erst einmal einen Eindruck verschaffen und dann die Gebäude ablaufen. Alles Weitere wird sich vor Ort ergeben.«

Kurz darauf bogen wir in einen matschigen, von Bäumen gesäumten Weg ein. Ich lehnte mich aus dem Fenster und betrachtete den stattlichen Besitz, der vor uns auftauchte. Wir kamen auf einen breiten Kiesweg, der allerdings unter der fehlenden Pflege litt, denn an vielen Stellen wucherte Unkraut. Die Kutsche hielt auf dem Vorplatz, und wir stiegen aus. Es lag feiner Nebel in der Luft. Holmes klärte mich darüber auf, dass es sich um einen Herrensitz aus dem späten 18. Jahrhundert handelte.

»Wie, um alles in der Welt, können Sie sich nicht mehr an Ihren Besuch hier erinnern?«, fragte er mich.

»Wenn ich es wüsste, wären wir wohl kaum hier.«

Er sah sich um. Den Eingang des Haupthauses hatte man mit einer Vorhängekette verriegelt, und wie sich herausstellte, waren alle Fenster im Erdgeschoss mit Klappläden verschlossen.

»Das war zu erwarten«, murmelte mein Gefährte vor sich hin. Er trat an eines der Fenster auf der Rückseite des Haupthauses, inspizierte die schmale Balustrade und winkte Butler zu sich heran.

»Hier sind wir richtig, die Küche. Geben Sie mir das Stemmeisen aus der Werkzeugtasche.«

Butler trat zu Holmes und reichte es ihm. Dieser besah es kurz und nickte zufrieden.

»Sie wissen sicherlich, dass Läden in der Küche durch den häufigen Gebrauch und die zusätzliche Feuchtigkeit von innen für gewöhnlich weniger widerstandsfähig sind als die übrigen.«

Dabei setzte er das Eisen im unteren Drittel des Holzes an und nach zwei, drei energischen Zügen brach eine schmale hohe Planke ab. In rascher Folge öffnete er Laden und Fenster. Mit der eingeschalteten Blendlaterne stieg Holmes in die Küche von Compton Lodge ein. Ich folgte. Butler wurde angewiesen, draußen auf uns zu warten. Der Küchenraum sah verlassen aus. Keinerlei Anzeichen deuteten auf einen eiligen oder unerwarteten Aufbruch hin. Auch die Zimmer der Bediensteten schienen mit Sorgfalt geräumt worden zu sein. Allerdings waren vereinzelte Einrichtungsgegenstände noch vorhanden. Die Halle war herrschaftlich, einem Landsitz des 18. Jahrhunderts angemessen.

Im Empfangszimmer blieb Holmes mit einem Mal mitten im Raum stehen, kniete sich hin und suchte den Boden ab. Derselbe Vorgang wiederholte sich in Salon und Bibliothek. Den ersten Stock untersuchte er weniger genau, er wanderte von Raum zu Raum, strich gedankenverloren mit der rechten Hand über ein Sofa in einem Ankleidezimmer und warf einen näheren Blick auf den Kamin in einem der Wohnzimmer.

»Das dürfte Sir Edwards privates Raucherzimmer gewesen sein.«

Holmes ging zur rechten Seitenwand und betrachtete einen goldgefassten Spiegel, den man zurückgelassen hatte und der antik zu sein schien. Ich war erstaunt, dass sich mein Gefährte ausgiebig darin besah, denn Eitelkeit in Bezug auf sein Aussehen gehörte nun wirklich nicht zu seinen Schwächen.

»Kommen Sie bitte einmal her und werfen Sie einen Blick auf sich.«

Erst wollte ich ablehnen, doch Holmes insistierte.

»Er stellt sehr gut dar, das Abbild ist kaum verzogen. Für sein Alter ein exquisites Stück«, bemerkte ich.

»Natürlich, was hatten Sie denn erwartet? Sonst noch etwas?«

Ich warf einen erneuten Blick auf mein Spiegelbild, aber außer der Tatsache, dass ich an den Schläfen immer weiter ergraute, konnte ich nichts von Belang feststellen.

»Für den Moment habe ich genug gesehen, Butler erwartet uns sicher schon«, stellte er fest. Wir stiegen die Treppe nach unten, erreichten die Küche und waren im nächsten Augenblick wieder zurück auf dem Grundstück. Unser Begleiter schloss Fenster und Laden. Das abgebrochene Stück Holz schob er geschickt in seine ursprüngliche Position zurück. Der Schaden war nur bei genauem Hinsehen zu entdecken. Wir gingen gemeinsam zur Vorderseite des Hauses und setzten uns dort auf eine flache Steinmauer, die den Kiesweg begrenzte.

»Watson, ich sollte Sie endlich darüber aufklären, um wen es sich bei Jason Butler überhaupt handelt.«

»Wenigstens denken Sie jetzt daran.«

Natürlich überhörte er meine Bemerkung geflissentlich.

»Er ist der Sohn von Admiral Reginald Butler, einem ehemaligen Offizier der Britischen Armee, der zu den wenigen Freunden von Sir Edward zählte. Seltsamerweise verschwand der Admiral dann einige Wochen nach dem Ableben Ihres Großvaters. Sein Sohn ist überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden seines Vaters und dem Tod, beziehungsweise der Testamentseröffnung von Sir Edward gibt.«

»Ihr Vater übernahm wohl die Aufgabe, das Erbe seines Freundes zu verwalten?«, wollte ich von Butler wissen.

»Ja, so könnte man sagen«, pflichtete er mir bei.

»Was genau wissen Sie denn über die Zusammenhänge in Bezug auf die Erbschaft?«, fragte ich weiter.

»Nur, dass Sir Edward mit seinem Besitz wohl ganz andere Absichten hatte, als er seinen Enkeln gegenüber vorgab. Mein Vater ist da wohl in eine Geschichte hineingerutscht, deren Ausmaß er zweifelsohne unterschätzt hat.«

Butler hielt inne und schien nach Worten zu ringen. Es fiel ihm offensichtlich schwer, über das unerklärliche Verschwinden des Admirals zu sprechen.

»Sie werden das Watson zu einem späteren Zeitpunkt darlegen. Lassen Sie uns erst einmal einen Blick auf das Nebengebäude werfen«, unterbrach ihn Holmes.

Wir überquerten den Vorplatz des Haupthauses und erreichten die Stallungen, die rechts davon lagen. Die beiden rundbogigen, hölzernen Flügeltüren waren mit einer schweren Kette verschlossen. Etwa fünf bis sechs Yards weiter rechts davon befand sich eine kleine Seitentür, die Holmes ohne zu zögern ansteuerte. Er fasste den Knauf, hob die Tür an und drückte sie mit einem gezielten Stoß auf. Eine Staubwolke kam uns entgegen. Wir wichen ein paar Schritte zurück und warteten. Schließlich nahm Holmes sein Taschentuch vor den Mund und ging voran. Das Licht der Blendlaterne schwang hin und her, es handelte sich ohne jeden Zweifel um den Raum mit den Arbeitsgeräten. Teile davon waren noch vorhanden. Holmes trat durch eine offene Tür und wandte sich nach links. Plötzlich blieb er stehen und begann mit den Füßen auf den Boden zu stampfen. Fast hätte ich losgelacht, aber er war bereits fündig geworden und legte eine Falltür frei.

»Watson, Sie dürfen jetzt Ihr heimliches Gelächter wieder einstellen«, sagte er trocken, »wenn Sie den Geruch des Bodenstaubs richtig einzuschätzen gewusst hätten, wäre Ihnen sofort klar gewesen, dass eine kühle Feuchtigkeit mitschwingt. Dieser Raum ist zu trocken, es muss folglich noch einen Keller geben.«

Mit diesen Worten stand er auf und versuchte erfolglos, die Tür nach oben zu wuchten. Wir holten Butler zu Hilfe, doch sie blieb verschlossen.

»Darum kümmern wir uns später.«

Er musste bereits Schlüsse aus Beobachtungen gezogen haben, die ich noch nicht einmal gemacht hatte. Nachzufragen hatte jetzt sowieso keinen Sinn. Wir verließen den Anbau und fanden uns auf dem Vorplatz wieder. Mein Gefährte stand da und rieb sich die Hände. Plötzlich rief er uns zu sich und bat Butler, in hohem Tempo um das Haupthaus herumzufahren. Ich war sprachlos. Was in Gottes Namen sollte das? Nach der vierten Umrundung ließ er die Kutsche auf der Rückseite des Gebäudes anhalten, stieg aus, ging zum Laden der Küche und horchte mit dem Ohr am Holz. Dann kam er zurück und ließ das Manöver ein zweites Mal durchführen.

»Was soll dieses unsinnige Verhalten?«, fragte ich ihn reichlich irritiert, nachdem auch die zweite »Tour de Maison« beendet war. Er sah mich lange an.

»Ich möchte Sie als Arzt fragen: Wenn sich Ihnen ein höchst ungewöhnliches Krankheitsbild böte, wären Sie dann bereit, einen außergewöhnlichen Weg zu gehen? Ich kenne Ihre Antwort, mein Lieber, natürlich würden Sie das!«

Ich war verwirrt. Warum sprach Holmes von einem Krankheitsbild? Er schlug vor, die Dinge erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Ihm sei eben etwas aufgefallen, das diese Maßnahme erfordert hatte.

»Was auch immer, Holmes.«

Mein Gefährte gab unserem Mitstreiter ein Zeichen, die Kutsche zurück auf die Landstraße zu steuern. Nach ein paar hundert Metern ließ er in einer bewaldeten Kurve anhalten, beorderte Butler vom Kutschbock, stieg selbst hinauf und zog einen Feldstecher hervor. Sein Blick war auf Compton Lodge gerichtet. Nach ein paar Minuten sprang er, ohne Kommentar, nach unten und wies Butler an, weiterzufahren.

»Und, haben Sie gesehen, was Sie erwartet haben?«, wollte ich von ihm wissen.

»Ich habe etwas gesehen, das ich nicht erwartet habe«, sagte er kopfschüttelnd.

Wir fuhren zurück zum Pigeons Inn, wo sich Butler von uns verabschiedete. Wir nahmen indes eine kleine Mittagsmahlzeit ein. Es folgten zwei geruhsame Stunden auf dem Balkon des Zimmers, die wir eingewickelt in dicke Decken verbrachten. Ich begann die bisherigen Ereignisse in eines meiner Notizbücher einzutragen.

»Frönen Sie schon wieder Ihren Märchenerzählungen?«

Ich ging nicht darauf ein, diesen Vorwurf hatte er mir schon viele Male gemacht. Nachdem ich meine Aufzeichnungen beendet hatte und überaus zufrieden die Landschaft genoss, fing er erneut an.

»Darf ich fragen, was Ihnen bei unserem kleinen Ausflug heute Morgen aufgefallen ist?«

Ich nahm mein Heft zur Hand, aber er unterbrach mich.

»Watson, verschonen Sie mich mit diesem Gefühlskompott. Fakten bitte, und in Ihren Worten.«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Also, das Gut ist seit Jahren unbewohnt, das lässt sich alleine schon aus dem verwilderten Zufahrtsweg schließen.«

»So, so. Und weiter?«

»Die Zimmer wurden beim Verlassen ordnungsgemäß hergerichtet. Und man hat die Gemälde im Haus abgehängt, ich vermute, sie sind versteigert worden. Vielleicht ließen sich die Besitzverhältnisse nicht genau klären, oder der jetzige Eigentümer hat nicht die finanziellen Mittel, um den Landsitz zu unterhalten. In jedem Fall scheint die Erbstreitgeschichte zu keinem guten Ende geführt zu haben, denn es steht ja alles leer.«

»Was würden Sie über dieses Zimmer im ersten Stock sagen? Sie erinnern sich doch an den Spiegel in Sir Edwards ehemaligem Raucherzimmer?«

»Auch hier wurde zusammengeräumt und …«

»Lieber Freund, der Spiegel an der Wand. Hat man etwa vergessen, ihn zu entfernen?«

Ich spielte verschiedene Szenarien durch und zuckte schließlich mit den Schultern.

»Und noch auf einen weiteren bemerkenswerten Umstand möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken. Warum hängt ein letztes Gemälde in einer Nische am unteren Treppenaufgang? Es ist Ihnen doch aufgefallen? Es handelt sich um eine recht interessante Ansicht auf das Anwesen.«

»Es ist mir aufgefallen, Holmes, aber irgendwie auch nicht.« Ich überlegte, was darauf zu sehen gewesen war und warum ich es nicht erwähnt hatte. »Es sah aus, als gehörte es dorthin, ganz wie ein Wandgemälde. Spätherbstliche Stimmung, nur noch wenige Blätter an den Bäumen, leichter Regen, tief hängende Wolken, Pfützen auf dem Zufahrtsweg und vor dem Hauptgebäude«, beschrieb ich die Ansicht.

»Ausgezeichnet, Watson. Und warum, denken Sie, wurde gerade diese Herbstansicht des Gutes hängen gelassen?«

Ich verstand die Frage nicht. Spielte es tatsächlich eine Rolle, welche Jahreszeit auf dem Bild zu sehen war?

»Sie haben nicht die leiseste Ahnung, nehme ich an. Stattdessen schwelgen Sie in Ihren prosaischen Ausschweifungen.«

»Mehr Interesse, Holmes? Finden Sie nicht, dass Sie etwas übertreiben?«, sagte ich ein wenig verärgert. Er stand auf, warf die Decke auf den Stuhl und verschwand im Zimmer, aus dem er kurz darauf mit zwei Brandys zurückkam.

»Ich gehe doch recht in der Annahme, dass Sie auch … werter Freund?«

Ich nickte und zog meinen Arm unter der Decke hervor, um das Glas in Empfang zu nehmen. Holmes blieb auf dem Balkon stehen und blickte hinaus in die Landschaft.

»Sie kennen meine Theorie über die Risiken von Verbrechen fernab von London, die Abgeschiedenheit und Einsamkeit frei stehender Häuser.«

Es war eine seine bevorzugten Ausführungen, wenn wir im Zug durch ländliche Regionen reisten. Holmes erwartete regelrecht, dass sich auf diesen Gütern Tragödien ereigneten. Und wir hatten solche in unserer bisherigen gemeinsamen Zeit schon häufig genug erleben müssen.

»Aber zurück zu Ihren Beobachtungen. Ja, Küche und Gesinderäume sind, wie drückten Sie sich doch aus, ordnungsgemäß hinterlassen worden. Aber warum hat man die Zimmer im ersten Stock nicht vollständig geräumt? Aus welchem Grund hängen der Spiegel und das Bild noch? Nur so viel, Watson: weil sie einen Zweck erfüllen.«

Ich wartete, dass er mir noch weitere Einzelheiten verraten würde, doch weit gefehlt. Holmes ließ sich in den Lehnstuhl fallen, wickelte sich wieder in die wärmende Decke und war kurz darauf eingeschlafen. Er hatte wohl noch keinen konkreten Ansatzpunkt, sonst hätte er auf Compton Lodge sicherlich so lange weitergesucht, bis ihm etwas Brauchbares in die Hände gefallen wäre. Ich begnügte mich mit dieser Erkenntnis und schloss ebenfalls die Augen.