Einleitung

Alles begann mit einem unvorhergesehenen, aber sehr einfachen Ereignis: Wir waren in einem Lift eingeschlossen!

Es gab keinen Grund zur Panik. Die Kabine war geräumig, modern und aus Glas; es war einer von diesen imposanten Aufzügen, wie man sie aus Einkaufszentren kennt. Du trittst ein und freust dich beim Hinauffahren wie ein kleines Kind, aber du verbirgst sorgfältig deine Begeisterung, schließlich bist du erwachsen.

Durch die Glaswände des Lifts war das Atrium des Geschäftskomplexes zu sehen, die Sonne schien zwischen den Palmen und Farnen in den Beeten hindurch. Aus den Lautsprechern ertönten leise griechische Hits. Und wie gesagt war ich nicht allein. Ich hatte Gesellschaft. Vor mir stand ein Typ, den ich beim Betreten des Aufzugs kaum bemerkt hatte; er schaute mich gelassen, aber auch etwas verlegen an. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt hatten, baten wir übers Telefon um Hilfe. Nun hieß es warten, und so beschlossen wir, das einzige Naheliegende zu tun: uns mit Plaudern die Zeit zu vertreiben. Wir stellten uns einander vor, und er fragte, was ich beruflich machen würde.

»Ich bin Archäologe.«

»Archäologe, wie schön! Als Kind wollte ich auch Archäologe werden. Heute erinnere ich mich natürlich nicht mehr an viel aus dem Altertum, vielleicht noch an Perikles, Sokrates, die Götter auf dem Olymp. Doch, mir fällt noch ein Satz ein, den die Alten gesagt haben sollen … Lass mich mal überlegen …« Er legte nachdenklich die Hand an die Stirn. »Alles fließt!«, rief er endlich mit einem Lächeln der Befriedigung.

»So grundsätzlich haben es die Alten nicht ›gesagt‹ … Es ist der Ausspruch eines antiken Philosophen, Heraklit. Um genau zu sein, hat er es nicht genau so gesagt, sondern Platon hat Heraklits Idee in diesen Worten zusammengefasst. Aber im Grunde ist das egal. Es ist tatsächlich ein schöner und weiser Satz.«

Er sah mich an, als versuchte er herauszufinden, ob ich nur ein Nerd oder doch eher verrückt sei. Wahrscheinlich entschloss er sich, mich noch ein bisschen zu prüfen, und so sagte er: »Die haben schöne Sachen gesagt, die Alten, was? Lauter Weisheiten.«

»Na ja, nicht alle Aussagen sind gleich Weisheiten, es gibt einfach eine Menge flotter Sprüche, die von der Geschichte überliefert worden sind.«

»Und welcher ist dein Lieblingsspruch?«

»Hm, ich glaube nicht, dass ich einen solchen habe. Aber einer von Heraklit hat mir immer Eindruck gemacht.«

»Von dem, der ›alles fließt‹ gesagt hat?«

»Genau. Er konnte nämlich auch richtig böse sein: ›Homer verdient, aus den Preiswettkämpfen herausgeworfen und mit Rutenstreichen gepeitscht zu werden, und ebenso Archilochos.‹«

»Aha. Und was soll das bedeuten …?«

»Der Satz meint, man müsse Homer von den Dichterwettbewerben ausschließen, denn er verkünde in seinen Werken keine Weisheit. Er sei ein Schwindler. Und er solle geprügelt werden. Und dasselbe gelte für Archilochos.«

»Das ist alles? Was für einen Unsinn hat dieser Philosoph denn da verzapft?« Seine Augen funkelten vor Neugier.

»Das war kein Unsinn.«

»Jedenfalls ist es kein Satz, den du dir tätowieren lässt. Und ich dachte immer, er hätte schlaue Sachen gesagt.«

»Er hatte eine andere Sicht auf die Dinge. Er meinte damit, dass die Autoritäten, die prominenten und hochgepriesenen Persönlichkeiten diesen Ruhm nicht immer auch verdienen, nur weil wir es so von unseren Eltern und Großeltern gelernt haben.«

»Das heißt, dass Homer es nicht verdient? Das will der Kerl uns sagen? Geht’s noch?«

Ich hätte auf eine Antwort verzichten können. Aber ich habe diese kribbelnde Angewohnheit, unbedingt über meine Arbeit und meine Wissenschaft zu reden, mich befällt ein sonderbarer Juckreiz, wenn ich sehe, dass die Leute eine andere Auffassung umtreibt. Und diesen Juckreiz will ich loswerden. (Ich darf nicht vergessen, das bei meinem Therapeuten zur Sprache zu bringen.)

»Was der Kerl genau gesagt hat, ist … relativ. Ich habe seine Worte interpretiert. Heraklit war der Meinung, dass bei den Berühmten nicht alles wunderbar und großartig ist, genau wie bei den Dingen und Eigenschaften, die wir von unseren Vorfahren übernommen haben und die wir unkritisch verehren, bloß weil sie sie uns vererbt haben. Es ist eine Bemerkung gegen die Autoritäten. Heraklit hat es gewagt, eine andere Meinung zu haben und seine Zweifel zu äußern, und er hat damit auch nicht vor dem größten aller Dichter Griechenlands haltgemacht. Vielleicht sogar der ganzen Welt.«

»O jaaa.« Er hob misstrauisch die Brauen. »Okay, Homer kenne ich. Aber wer war der andere, den er nennt, dieser Archilochos?«

»Archilochos war ein Lyriker, der am liebsten erotische Gedichte schrieb.«

»So liebliche, romantische Gedichtchen?« Er lächelte.

»Keine sentimentalen. Erotische. Normale erotische Dichtung.«

Das war der Moment, in dem sich sein Blick veränderte.

Ich fuhr fort: »Leider ist keins seiner ›schandbaren‹ Gedichte erhalten geblieben. Er kam übrigens aus Paros.«

»Was bedeutet eigentlich Lyrik?«

»Lass dich nicht verwirren von unserem heutigen Gebrauch des Wortes. Ich meine damit die Lyra als Begleitinstrument. Es war eine Art Musik, die sich nicht mit den Ruhmes- und Heldentaten der Vergangenheit beschäftigte wie Homer. Nein, Archilochos hat Epen verfasst, aber über das Heute und den Alltag der Menschen. Man könnte sagen, Volksdichtung.«

»Aha, dann war er also Musiker! Aus Paros, hast du gesagt? Und erotisch? Wie Giánnis Pários?«[1]

»Wenn du so willst. Ein antiker Pários. Archilochos benutzte andere Muster als die, die wir von den Alten kennen. Zum Beispiel bekam er in einer Schlacht Angst, machte sich tüchtig ins Hemd, wandte sich um und rannte davon, so schnell er konnte. Nicht, dass er sich etwa geschämt hätte über seine Feigheit in der Schlacht, er hat sogar ein Gedicht darüber geschrieben.«

»Du machst Witze! Ist das Gedicht bekannt?«

»Ja.«

»Und wie geht es?«

»Man kann es etwa so übersetzen: ›An meinem Schild soll der Feind seine Freude haben, im Gebüsch, wo ich ihn weggeworfen habe, dann hab ich mich davongemacht! Was kümmert’s mich? Mir geht’s prächtig, ich besorg mir einen neuen.‹«

»Er hat seinen Schild liegen lassen und ist abgehauen? Ausgeschlossen! ›ἤ τάν ἤ ἐπί τᾶς – e tan e epi tas‹, haben die Alten gesagt. Feigheit war eine Schande!«

»Dieses ›e tan e epi tas‹ ist uns als Satz erhalten geblieben, den die Spartaner benutzten. Nicht alle alten Griechen. Außerdem muss ich dir sagen, dass Archilochos im ganzen Altertum ein außerordentlich populärer Dichter war. Mochte er sich auch einen Spaß aus seiner Feigheit in der Schlacht gemacht haben. Immerhin hat Heraklit ihn auf die gleiche Stufe mit Homer gestellt!«

»Uff, diese vielen Namen, die du erwähnst, mir wird ganz schwindlig. Wann haben die eigentlich gelebt? Und darf ich dich etwas Grundsätzliches fragen? Warum gibt es eine solche übertriebene Analysiererei bei den Archäologen und den Historikern und allen, die sich mit dem Altertum befassen? Es war schön damals, eine wichtige Epoche, wir haben den Parthenon gebaut, die Philosophie begründet, aber was hat das jetzt für eine Bedeutung? Haben wir nichts Wichtigeres zu tun?«

»Du kannst doch nicht eine ganze Wissenschaft verneinen! Es gibt einen Grund für ihre Existenz.«

»Und welchen? Wofür braucht man sie?«, fragte er mit spöttischer Miene.

»Einverstanden. Gute Frage. Ich gebe dir die Antwort. Sagen wir, du wachst eines schönen Morgens auf und hast dein Gedächtnis verloren. Du erinnerst dich nicht, wer dein Vater und wer deine Mutter ist. Du erinnerst dich nicht an deine Großväter und Großmütter. Dann ist wohl offensichtlich, dass du zum Arzt gehst, oder nicht?«

»Ja.«

»Prima. Nehmen wir jetzt an, der Arzt sagt dir, alles ist gut, mach dir keine Sorgen, das lässt sich reparieren. Aber er macht dir einen Gegenvorschlag und gibt dir zwei Dinge zur Auswahl. Erstens kannst du eine Therapie machen, um deine verlorenen Erinnerungen wiederzubekommen, oder zweitens, du bleibst bewusst ohne Erinnerung. Wofür würdest du dich entscheiden? Willst du dich erinnern und deine individuelle Vergangenheit kennen, oder ziehst du es vor, dass sie dir unbekannt bleibt?«

»Natürlich will ich mich erinnern!«

»Und warum willst du dich erinnern?«

»Okay, mein Freund, es kann sein, dass unsere Vergangenheit nicht immer angenehm ist, und idealerweise wollen wir uns nicht an jede Einzelheit in unseren gestörten Familien erinnern. Aber natürlich wollen wir wenigstens wissen, was geschehen ist und wer die Menschen sind, die uns zur Welt gebracht haben, von wem sie zur Welt gebracht wurden und was für Menschen sie alle waren. Wir wollen uns an die guten Momente erinnern und wissen, wo wir Hilfe gebraucht oder geleistet haben. Aber das ist etwas anderes als die Sache mit der Archäologie. Es betrifft mein eigenes Leben!«

»Genau! Aber so anders ist es gar nicht. Genauso, wie du dich dafür entscheiden würdest, die Erinnerungen, die du an dem Morgen verloren hast, wiederzubekommen, braucht die Menschheit die Archäologie. Denn wir wollen wissen, woher wir gekommen sind. Kollektiv können wir unsere Erinnerungen nicht so aufbewahren, wie wir es als Individuen tun. Und darum brauchen wir die Wissenschaft. Sie hilft uns nämlich zu verstehen, wie wir bis hierhin gekommen sind. Und wenn wir etwas ändern können, schaffen wir es vielleicht sogar, uns zu retten!«

»Und warum geht mich diese kollektive Vergangenheit etwas an?«

»Gehörst du nicht zu einer Gesellschaft? Willst du etwa leben und handeln wie ein Roboter? Oder hast du das Bedürfnis, die Welt um dich zu begreifen und zu einer eigenen Weltanschauung zu gelangen? Wenn du wie eine Arbeitsmaschine ohne irgendeinen Gedanken leben, schlafen, aufwachen, essen und arbeiten willst, und dann das Ganze wieder von vorn, ist das dein gutes Recht. Aber genügt dir das? Was für eine Arbeit du auch machst, auf welchem Gebiet du dich auch beschäftigst, willst du doch wissen, was bereits geschehen ist. Es reicht, wenn du offen bist und die Augen aufmachst, und das umfasst die ganze Menschheit.«

»Okay, all das ist gut und schön. Aber die Archäologie ist auch schwer zu begreifen. Man hat sie uns eben nicht richtig beigebracht …«

»Schau, dieses ›man hat sie uns eben nicht richtig beigebracht‹ ist ein altes Trostzückerchen. Aber es ist auch gerechtfertigt. Es geht ja nicht um Quantenphysik. Wie logisch kommt es dir vor, dass wir uns als Gesellschaft mit dem begnügen, was man uns in der Schule beigebracht hat? Wir sind fälschlicherweise der Auffassung, dass die Bildung mit unseren Schuljahren anfängt und aufhört. Aber das Wissen steht uns jederzeit zur Verfügung. Auch die Archäologie ist zugänglich. Es ist einfach, sie zu verstehen und zu entdecken. Hast du mal versucht, sie als Erwachsener zu entdecken? Ganz von dir aus?«

»Was soll ich denn da entdecken, Mann? Wo soll ich anfangen? Ich weiß nicht mal, wann Alexander der Große lebte, oder Odysseus, Sokrates, der Minotaurus. Oder wann Mykene existierte. Und du? Du hast doch studiert; kannst du es mir nicht in einfachen Worten der Reihe nach erklären?«

Er lächelte breit, glaubte, seine Frage werde mir den Mut nehmen und er werde ein Nein zu hören bekommen.

»Natürlich! Ich werde dir alles der Reihe nach in einfachen Worten erzählen. Wir haben ja genug Zeit.«

Er sah mich eindringlich an, ratlos, als versuchte er herauszufinden, ob ich es ernst meinte. Ich schwieg, lächelte jedoch.

»Da bin ich gespannt«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Aber ich habe Hunger. Wenn wir nur etwas zu futtern hätten.«

Ich ließ mich auf dem Boden nieder, auch er setzte sich, und wir machten es uns im Schneidersitz bequem. Ich steckte die Hand in meine Tasche, nahm eine Tüte Kartoffelchips heraus, öffnete sie, legte sie zwischen uns und bedeutete ihm, er solle sich bedienen. Aus den Lautsprechern des Aufzugs dudelten immer noch leise griechische Schlager. Er nahm einen Chip, steckte ihn in den Mund, und beim ersten Knuspern begann ich zu sprechen …