3 Minoische Zivilisation

Ich tat so, als hielte ich ein Mikrofon: »Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit, denn nun ist der Augenblick der großen Diva gekommen. Die Grande Dame der griechischen Vorgeschichte betritt rund 2000 vor Christus die Bühne, und sie wird allen die Schau stehlen. Das minoische Kreta war die Marinella[4] der Vorgeschichte. Sie hat den Felsen geöffnet und ist hindurchgegangen. Und sie hatte Erfolg, unverschämten Erfolg! Sie hat sogar ein eigenes Album mit dem Titel Phaistos herausgebracht! Seit Tausenden von Jahren steht es an der Spitze der Charts. Mit den Lyrics haben wir Probleme, wir haben noch nicht wirklich verstanden, was sie singt, aber wir sind guter Dinge, dass sich auch das irgendwann lösen wird. Jedenfalls, wenn du dich wunderst, dass dieses Album einen solchen Erfolg hat, muss ich dir sagen, dass es trotzdem nie Platin wurde. Die Platte ist klein und aus Ton, lag weggeworfen in der Ecke eines Lagerraums im Palast von Phaistos. Die Zeichen, die auf ihr sind, können wir nicht lesen.«

»Irgendwo stand mal, dass jemand sie lesen konnte.«

»Das stimmt aber nicht.«

»Warum bist du so absolut? Und wenn der Mann doch recht hat? Was ist denn der Diskos von Phaistos deiner Meinung nach?«

»Ich werde dir nicht sagen, was ich glaube. Ich werde dir hingegen sagen, aus welchem Grund es unwichtig ist, was ich oder sonst jemand behauptet. Dass jemand eine Idee äußert, genügt nicht. Sie muss auch belegt werden können. Eine Schrift wie die auf dem Diskos von Phaistos ist nirgendwo sonst gefunden worden, und das Muster ist so klein, dass wir keine sicheren Schlüsse ziehen können. Wir können nicht testen, ob das, was irgendein Forscher meint, auch wirklich zutrifft. Wenn wir weitere Objekte in derselben Schrift finden, besteht eine gewisse Hoffnung. Bis dahin kann jeder kommen und seine Meinung dazu äußern, er hat jedes Recht dazu, aber wenn es ihm nicht gelingt, es auf eine Weise zu belegen, die die Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft überzeugt, kann seine Ansicht nicht akzeptiert werden.«

»Und warum ist das so? Warum soll diese Ansicht nicht zählen?«

»Weil die Geisteswissenschaften so funktionieren. Es wird immer welche geben, die eine andere Meinung vertreten. Der Wissenschaftler ist verpflichtet, die Resultate seiner Forschung, zu denen er gelangt ist, zu veröffentlichen, damit sie von den übrigen Spezialisten überprüft werden können, und wenn sie als überzeugend und für die Mehrheit akzeptabel angesehen werden, dann okay! Dass einer sagt, er habe den Diskos ›gelesen‹, ist einfach eine Behauptung. Und es bleibt eine unbegründete Behauptung. Das Beeindruckende besteht jedenfalls darin, dass der Diskos ›gedruckt‹ ist. Das heißt, jedes Symbol ist mit Stempeln gemacht worden, die in den Ton gedrückt wurden, so oft man sie brauchte. So, wie die Typografie viele Jahrhunderte später funktionierte.«

»Und warum hat die wissenschaftliche Gemeinschaft bis heute keine einzige Lesart des Diskos akzeptiert?«

»Eben weil keine anderen Objekte wie der Diskos von Phaistos existieren, mit denen man eine wahrscheinliche Lesart bestätigen könnte. Der Diskos ist sehr klein, und alle wahrscheinlichen Interpretationen sind theoretisch gleichwertig. Aber gleichermaßen unbestätigt.«

»Und was ist, abgesehen vom Diskos von Phaistos, in Kreta sonst noch so passiert?«

»Der magische Boden von Kreta hat eine sehr nährstoffreiche Erde, die alle schmackhaften Lebensmittel der Landwirtschaft hervorgebracht hat. Kreta war unabhängig, und das war zu seinem Besten. Es hatte bereits die Wellen bezwungen, und die minoischen Wasserfahrzeuge durchpflügten das östliche Mittelmeer.«

»Du meinst Fischerboote?«

»Nein, eine richtige Flotte! Wir können tatsächlich von einer minoischen Seeherrschaft in der Ägäis sprechen. Sie bekamen den Osten zu Gesicht. Paläste, große Kulturen, Entwicklung, Kunst. Wir wissen nicht, wie sich die Minoer selbst nannten, aber wir wissen, dass sie bei den Ägyptern den Namen Keftiu trugen.«

»Hatten sie ständige Beziehungen auf diese Distanzen?«

»Natürlich, und höchstwahrscheinlich viele und verschiedene. Tausch von Lebensmitteln? Handel? Verlobungen und Hochzeiten? Alles wahrscheinlich!«

»Holla, was für Verlobungen? Das hast du jetzt sicher nicht zufällig gesagt!«

»Nein, tatsächlich nicht …« Ich lächelte listig. »Ich sag’s dir gleich, es wird dich umhauen. Aber langsam! Das minoische Kreta also sah, was in der übrigen Welt geschah, und wurde inspiriert; aber es verfolgte seinen eigenen, einzigartigen Weg. Mit Anmut, mit Finesse, im Mittelmeerstil, und sicher mit gutem Essen und Liebe zur Natur. Es war, wie gesagt, die große Diva des Altertums. Sie bauten Paläste! Was für Paläste? Ungetüme! Um 2000 vor Christus entstand der erste Schwung von Palästen, in der sogenannten Altpalastzeit. Keine 300 Jahre später, in der Neupalastzeit, errichteten sie noch größere, noch prächtigere, in Knossos, Phaistos, Malia, Zakros …«

»Warum ist Knossos bekannter als alle anderen geworden?«

»Knossos, der erste und größte der verschiedenen minoischen Paläste, war unvergleichlich in Ausmaß, Luxus und Pracht. Er hatte Treppen und Plätze, riesige Lager, Veranstaltungsräume, Bäder, gepflasterte Straßen, ein Wasserversorgungs- und Abwassersystem, bis hin zu Kesseln.«

»Denen hat gar nichts gefehlt.«

»Etwas schon! Es gab einen eklatanten Mangel. Einen Mangel, der die minoische Zivilisation noch eindrücklicher macht. Sie hatten keine Mauern rund um ihre riesigen Paläste.«

»Und was bedeutet das?«

»Dass die zentrale Macht so stark und erfolgreich war, das politische und kulturelle System so beständig, dass es keiner Bedrohung ausgesetzt war und keine Notwendigkeit zur Verteidigung bestand; sie mussten also keine hohen Mauern um ihre Zentren ziehen, um sich zu schützen. Und was blüht selbstverständlich in dieser Welt des Wohlstands?«

»Ich möchte sagen, Mandelbäume … Aber dann wirst du nur wieder schimpfen. Jedenfalls müssen sie, wenn sie so lässig mit sich umgingen, das Leben in vollen Zügen genossen haben.«

»Ich weiß nicht, ob sie immer Highlife hatten, aber sie haben eine ganz große Kultur geprägt. Zuerst einmal hatten sie den Sport. Sie ließen sich von den Aktivitäten der östlichen Völker inspirieren und schufen ihre eigenen: Stierkämpfe und Akrobatenkunststücke.«

»Warum ausgerechnet Stierkämpfe?«

»Das war ein ganz typischer Sport in jener Zeit. Sie trieben einen Stier an, über den Platz zu rasen, und versuchten, über seinen Rücken zu springen, mit Akrobatik und Pirouetten, und dann auf der anderen Seite wieder zu landen. Außerdem übten sie verschiedene bildende Künste aus, die sich außergewöhnlich rasant entwickelten. Dabei schufen sie große, monumentale Dimensionen oder aber probierten sich in der Kleinkunst, mit diesen mikroskopischen, geschmackvoll verzierten Schmuckstücken, bei denen du denkst, dass der Künstler, wenn er sie so winzig machte, ja zu schielen anfangen musste. Und neben den Schmuckstücken fertigten sie auch Wandmalereien von einer derartigen unbegreiflichen Schönheit, dass du meinst, sie seien erst gestern angefertigt worden.«

»Ja, an die Wandmalereien erinnere ich mich. Sie sind wirklich eindrucksvoll.«

»Ja, und damit kehren wir zu den Verlobungen und Hochzeiten zurück, die ich vorhin erwähnt habe, zwischen den Königen von Knossos und den Pharaonen Ägyptens. In einem Palast in Ägypten, an der archäologischen Stätte Tell el-Dab’a, sind nämlich minoische Wandmalereien gefunden worden.«

»Wirklich minoische?«

»Sie waren den minoischen zumindest so ähnlich, dass sie entweder von minoischen Künstlern gemalt wurden oder von Künstlern, die große Kenntnisse von der minoischen Kunst hatten. Denn über den Kunststil hinaus zeigen sie auch Stierkämpfe.«

»Und was kann das bedeuten?«

»Schau … Die Mitglieder der Königshäuser in jenen Zeiten, aber auch später, heirateten untereinander im Rahmen der Diplomatie. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass es eine große königliche Hochzeit eines Ägypters mit einer minoischen Prinzessin gegeben hat.«

»Und die hat, sagen wir mal, ihre Künstler mitgebracht?«

»Wahrscheinlich sollten sie ihr neues Haus so gestalten, dass es sie an ihre Heimat erinnerte.«

»Und was hat sie sonst noch mitgenommen?«

»Das können wir nicht wissen! Aber wir können es uns vorstellen. Du hast sicher gemerkt, dass die Archäologie dazu führt, dass deine Fantasie sich Dinge ausmalt, an die du nie gedacht hast.«

»Ja, ich habe mir tatsächlich nie vorgestellt, wie Minoer in Ägypten auf Stieren tanzen.«

»Und jetzt stell dir die Prinzessin vor, wie sie das Schiff besteigt und vom Hafen aus voller Angst auf die wunderschönen Berge von Kreta zurückblickt. Selbstverständlich hat sie die Sachen, die sie bei sich haben will, mitgenommen – vielleicht ein Lieblingskleid? Ein Spielzeug aus ihren Kindertagen? Etwas, was ihr Sicherheit und Erdung gibt auf ihrer Reise ins Unbekannte? Unbekannt ist ebenfalls, zu wem sie reist, einem Fremden, der eine andere Sprache spricht und andere Götter verehrt – von denen man ihr erzählt hat, es seien riesige Menschen aus Stein mit einem Tierkopf. Und sie hat von Städten mit gigantischen Mauern und Palästen gehört, und von einem mächtigen Fluss, der riesige Ebenen voller Sand durchschneidet. Dass dort zwischen den Dünen monströse Bauwerke von sonderbarer Gestalt hervorschießen, mit vier Seiten, die sich in einer Spitze vereinen! So groß sind sie, dass sie es nicht glaubte, als man ihr versicherte, sie seien vor tausend Jahren gebaut worden. Für sie ist das Größte und Wichtigste, das es auf der Welt gibt, der zentrale Platz von Knossos, wo man sich versammelt, um die Stierkämpfe zu verfolgen.«

»Als Kind bin ich in Knossos gewesen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie sie dort Feste feierten und auf Stieren tanzten und über sie sprangen.«

»Und das war noch nicht alles! Sie haben auch eine Schrift geschaffen, um ein bisschen Ordnung in ihre öffentlichen Finanzen zu bringen. Wie sonst willst du solche Riesenpaläste und ein solches Netz verwalten, wenn du dir nicht irgendwelche Notizen machst? Als Schrift hatten sie am Anfang Hieroglyphen …«

»Ägyptische?«

»Nein. Es war eine kretische Hieroglyphenschrift. Wir haben sie so genannt, weil sie an die Hieroglyphenschrift der Ägypter erinnert. Aber rasch hat sich diese Schrift zu einer neuen weiterentwickelt, einer komplizierteren, zur sogenannten Linear A.«

»Was war das für eine Sprache? Wissen wir das?«

»Die Schrift ist das eine, die Sprache das andere! Eine Sprache kann in vielen Schriften geschrieben werden. Und nein, wir wissen nicht, in welcher Sprache die Linear A geschrieben ist, noch haben wir sie nicht entziffert. Einen Teil verstehen wir ansatzweise (vor allem Zahlensymbole), aber sonst ist es uns noch nicht gelungen, sie zu lesen. Das bleibt den nächsten Generationen von Wissenschaftlern vorbehalten.«

»Kreta hat eine besondere Ausstrahlung, was? Einen gewissen Glamour.«

»Hat es. Aber vieles ist auch mysteriös. Es ist kein Zufall, dass es uns immer noch begeistert. Es gab auch Frauen für Vergnügungen und Feiern. Wenn das Wetter schön war, gingen sie segeln. Und wenn es ihnen gerade passte, klemmten sie sich zwei Schlangen unter die Arme und gingen mit nackten Brüsten bummeln.«

»Warum mit Schlangen und warum oben ohne?«

»Warum nicht?«

»Was ist denn das für eine Antwort?«

»Ich zieh dich nur auf. In Wirklichkeit haben wir keine klare Antwort auf die kretischen Frauen mit ihren nackten Brüsten und den Schlangen, auch nicht auf die Frage nach ihrer Religion oder ihren Werten, wir haben ja keine schriftlichen Quellen dazu. Es wäre Hochstapelei, wenn wir unsere Annahmen als Fakten ausgeben würden! Aber allgemein erkennen wir, dass hinter all diesen Elementen eine vollendete Philosophie über das Leben und die Kunst gesteckt hat. Das allein genügt, um uns zu beeindrucken. Und natürlich war es Nahrung für vielerlei Mythen. Es ist kein Zufall, dass, gemäß der Mythologie, Zeus auf Kreta zur Welt gekommen ist.«

»In der minoischen Zeit?«

»Das wissen wir nicht! In historischer Zeit jedenfalls hat die ganze griechische Welt Kreta als Heimat des Vaters aller Götter anerkannt. Hör zu, wie sich die Sache verhält: Der Vater von Zeus, Kronos, war abergläubisch, er glaubte an Voraussagen. Er hörte einen Orakelspruch, dass eines seiner Kinder ihm den Thron rauben werde. Da die Methoden der Empfängnisverhütung noch nicht entdeckt waren, tat er das einzig Logische: Er fraß seine Kinder bei lebendigem Leib. Mit einem Bissen waren sie in seinem Magen. Was hätte er auch sonst tun sollen? Den Thron verlieren? Gott bewahre! Seine Frau, Rhea, beschloss schließlich, nachdem genug Neugeborene als Vormittagsmahlzeit ihres fruchtbaren Gatten ein Ende gefunden hatten, das jüngste Kind, Zeus, in einer Höhle auf Kreta zu verstecken. Und als Kronos von ihr das Kind verlangte, um es zu fressen, machte sie ihm eine Fajita mit einem großen Stein und gab sie ihm. Und weil der göttliche Winzling recht quengelig war, gingen die Kureten, regionale Dämonen, die auch Krieger waren, hin und taten so, als kämpften sie, um das Weinen des Babys zu übertönen.«

»Dass das Baby geweint haben könnte, weil es eine Horde von langen Lulatschen sah, die sich vor ihm mitten in der Höhle prügelten, ist wohl niemandem eingefallen?«

»Verlang jetzt nicht noch Kenntnisse in Kinderpsychologie von mir! Zeus, schließlich und endlich, gesäugt von einer Ziege mit dem Namen Amaltheia, wuchs zu einem strammen Jüngling heran, der beschloss, die Welt zu erobern. Er brachte seinen Vater dazu, die Geschwister auszuspucken, die sich, obwohl sie von Magensäften umgeben und von den schwierigen Lebensbedingungen in den Eingeweiden ihres Vaters mitgenommen waren, schnell erholten. Natürlich standen sie dem jungen Zeus im Krieg, den er gegen seinen Vater und seine Onkel, die anderen Titanen, führte, zur Seite. Schließlich siegten sie, und Zeus wurde die Königsherrschaft verliehen. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms wollte der neue Gebieter dann die Publicity gleich ausnutzen und beschloss, auch das weibliche Geschlecht zu erobern. Er ging bis nach Phönizien und raubte, in einen Stier verwandelt, ein junges Mädchen mit Namen Europa und brachte es für einen Schönheitsurlaub nach Kreta. Nach dieser attraktiven Geliebten von Zeus wurde der Kontinent genannt.«

»Stell dir vor, er hätte sich in eine mit dem Namen Afroxylanthi verliebt. Dann würden wir heute von der Afroxylanthischen Union und vom Afroxylanthischen Rahmen zur Stützung der Wirtschaft sprechen.«

»Auf Kreta herrschte damals der mächtige König Minos, dessen Frau sich in einen Stier verliebt hatte; aus dieser Verbindung war der Minotaurus hervorgegangen, halb Mensch, halb Stier. Ganz eindeutig psychisch gestört, dieses Kind einer dysfunktionalen Familie, wahrscheinlich mit einem Syndrom, das nicht rechtzeitig diagnostiziert wurde. Diesem Minotaurus kam in den Sinn, dass er Menschen fressen wollte. Der Rest der minoischen Seifenoper ist ein bisschen besser bekannt. Der hübsche, junge Theseus schmuggelte sich ins Land, tötete den Minotaurus, nahm die Königstochter Ariadne mit und machte sich aus dem Staub. ›Da kommen die Ausländer und stehlen uns die besten Mädchen‹, murmelten die giftigen Minoerinnen in ihren bunt verzierten Röcken auf den Gassen von Knossos.«

»Weißt du, wie ich mir die Minoer vorstelle, Herr Archäologe? Als liebenswerte Menschen, ohne Kriege, die in einem Blumenmeer sangen und tanzten. Ohne irgendwelche Komplexe, mit schönen Frauen, die oben ohne herumspazierten. Ist sie so gewesen? Die ideale naturliebende Gesellschaft?«

»Das ist eine völlig aberwitzige Vereinfachung, mein Freund! Sie wurden mit Waffen begraben! Warum sollten sie Waffen gehabt haben, wenn sie den Krieg nicht kannten? Du meinst, die Kreter waren wie John Lennon und Yoko Ono? Vergiss nicht, dass das Bild, das wir von der minoischen Zivilisation haben, das Bild von Sir Arthur Evans ist, das er schaffen wollte und das ihn berühmt gemacht hat. Wir wissen, dass die Minoer keine Blumenkinder waren. Sie brachten sogar Menschenopfer dar.«

»Ausgeschlossen!«

»Aber ja! Durch einen großartigen Zufall hat man auf einem Berg in Anemospilia am Hang des Giouchtas ein Heiligtum entdeckt, das bei einem Erdbeben zerstört worden ist. In einer Kammer wurden drei Skelette gefunden. Zwei, ein Mann und eine Frau, sind bei dem Erdbeben und dem folgenden Brand umgekommen. Aber das dritte Skelett, von einem jungen Mann, lag mit gebundenen Füßen auf einem steinernen Tisch, wie auf einem Altar. Und auf dem Altar lag ein Messer. Wahrscheinlich wurde in einer Zeit mit intensiver Erdbebentätigkeit die Opferung des Jungen beschlossen, zur Besänftigung der Götter. Und während des Opfers gab es ein Erdbeben, und das Gebäude begrub alle miteinander.«

»Aber macht all das nicht das Bild kaputt, das wir von unseren Vorfahren haben? Ist es nicht ein wenig so … als ob wir es beschmutzen?«

»Warum sollte das Bild von der Vergangenheit tadellos sein? Sind wir jetzt die perfekten menschlichen Wesen auf unserem Planeten? Warum sollten sie damals perfekt gewesen sein? Können wir uns nicht trotzdem von ihren Errungenschaften beeindrucken lassen, ungeachtet ihrer unvermeidlichen Fehler? Es waren raue Zeiten. Würdest du zu einem vorgeschichtlichen Menschen gehen, um mit ihm über einen Tempel zu reden, der für Menschen mit Handicaps keine Barrierefreiheit bietet? Wäre das nicht absurd?«

»Ja, wäre es wohl. Aber weißt du, wie ratlos du mich lässt, während du über Kreta redest? Was ist währenddessen auf den Inseln der Kykladen passiert? Ist dort die Zivilisation verschwunden?«

»Sicher nicht! Im Gegenteil. Die Kykladen gerieten in jener Zeit in die Einflusssphäre von Kreta.«

»In was für eine Einflusssphäre? Die politische? Die wirtschaftliche? Die kulturelle?«

»Höchstwahrscheinlich alle zusammen. In die kulturelle jedenfalls sicher! Santorini hat es uns bewiesen, mit dem Vulkanausbruch dort, ungefähr Ende des 17. Jahrhunderts vor Christus. Der Vulkan begann zu brüllen, und die Bewohner flohen. Darum haben wir keine beim Ausbruch Getöteten gefunden – zumindest noch nicht, wirst du jetzt sagen.«

»Was meinst du mit ›noch nicht‹? Ist die archäologische Stätte noch nicht ganz ausgegraben worden?«

»Natürlich nicht! Nur ein kleiner Teil ist bisher erschlossen. Der Vulkan ist jedenfalls heftig ausgebrochen. Vulkanasche bedeckte die ganze alte Stadt, dort, wo heute das Dorf Akrotiri ist; sie hat uns ein Lebensniveau offenbart, das wir nicht erwartet hatten.«

»Wie ein vorgeschichtliches Pompeji?«

»Ganz genau, wie ein vorgeschichtliches Pompeji. Man hat Straßen und Plätze entdeckt, Stadtviertel mit verschiedenen gut gebauten Häusern, mit allen Bequemlichkeiten. Ausgeschmückt mit fantastischen Wandmalereien, mit zwei Arten von Bildern (Stillleben und Darstellungen von Meer und Schifffahrt), gemalt auf einem zucker- oder magnolienfarbenen Hintergrund. Die Häuser hatten geschmackvoll geschnitzte Möbel, schöne Gefäße, der Luxus war beneidenswert. Und alles ist erhalten geblieben dank dem Ausbruch des Vulkans von Santorini.«

»Der die minoische Zivilisation zerstört hat?«

»Er hat die minoische Zivilisation nicht zerstört. Mit diesem Mythos ist es seit Jahrzehnten vorbei. Der Ausbruch hat ihr sicher einen Schaden zugefügt, sie aber nicht zerstört.«

»Und wie ist es schließlich mit der minoischen Zivilisation zu Ende gegangen, wenn es nicht der Vulkan war?«

»Keine Zivilisation geht wegen eines einzelnen Ereignisses von heute auf morgen unter. Nein, es gab aus unbekannten Gründen und auf eine Weise, die wir nur annehmen können, einen Einfall vom griechischen Festland her. Kreta war es lange Zeit bestens ergangen, aber das große Griechenland begann, das Leben in Abgeschlossenheit, das es bis dahin gekennzeichnet hatte, zu überwinden. Das Land begann, eine Zivilisation zu entwickeln, die eine Aristokratie, ein Heer und Lust auf Eroberungen hatte. Die mykenische Welt, die anfangs in Südgriechenland zu Hause gewesen war, baute ihre eigenen Paläste und wandte sich in alle Richtungen. Und entweder durch Handel oder mithilfe des Heeres breitete sie sich im ganzen helladischen Raum aus, in der Ägäis, auf Kreta und an den Küsten von Kleinasien. Kreta, mit seinem luxuriösen Leben und dem hohen Stand der Kultur, war verlockend für die mykenischen Griechen, sowohl für eine Eroberung als auch als Inspiration.«

»Ihr Archäologen habt nichts als Hypothesen. Ihr nehmt etwas über den Diskos von Phaistos an, vermutet, dass die minoische Zivilisation zusammengebrochen ist. Könnt ihr nicht einfach graben und herausfinden, was wirklich passiert ist?«

»Mein Lieber, so einfach ist es eben nicht. Die Archäologie besteht nicht nur aus Graben.«

»Was meinst du damit?«

FAQ: Was meinst du mit »nicht nur graben«?

»Archäologie heißt nicht einfach, dass ich grabe und nachschaue, was im Boden ist. Das passiert bei der Ausgrabung. Das wissenschaftliche Prozedere fängt vor der Ausgrabung an und wird lange danach weitergeführt. Die Funde müssen schließlich interpretiert werden.«

»Interpretiert? Aber die Sachen, die du findest, ›reden‹ doch nicht mit dir!«

»Ich würde mich wundern, wenn irgendeiner mit seinem Ohr an einem Stein, einem Gefäß oder am Erdboden darauf warten würde, einen flotten Spruch zu hören. Natürlich reden die Dinge nicht. Die Scherben und Bruchstücke bewahren ihre Stille. Das Dumme an diesen Funden ist, dass sie die Tendenz haben, mit dem, was wir über sie sagen, einverstanden zu sein. Wenn du die Gegebenheiten so anpassen willst, dass sie mit der Theorie, die du in deinem Kopf hast, übereinstimmen, wird sich ein Weg finden, sie zum Passen zu bringen. Folglich ist das größte Problem, wie du das, was du in der Erde findest, interpretierst.«

»Das klingt kompliziert.«

»Schau. Vor vielen Jahren war die Archäologie schlicht und naiv. Du würdest sie unerfahren nennen. Sie bekam etwas zu Gesicht, interpretierte es auf die erste offensichtliche Weise, die ihr in den Sinn kam, und ging weiter. Oder sie saß da und bewunderte den schönen Schnickschnack, den sie aus der Erde befördert hatte. Ein Beispiel: Wenn einer ein Gefäß fand, das antik griechisch oder keltisch aussah, glaubte er, dass dort wohl Griechen oder Kelten gelebt hatten. Diesen Ansatz wollen wir kulturgeschichtlich nennen.«

»Ja, okay. Und was ist daran naiv?«

»Diese Annäherung ist nicht logisch, sie ist eine riesige Vereinfachung, und letztlich hat sie sich als sehr gefährlich erwiesen. Erstens, weil diese Logik als ideologische Rechtfertigung für viele Völker benutzt wurde, um Gebiete, Boden, Hinterlassenschaften zu beanspruchen und imperialistische Praktiken zu bekräftigen, und zweitens, weil damit die Essenz und die magische Komplexität der menschlichen Zivilisation in ihrer ganzen Pracht verloren gingen.«

»Es will mir trotzdem nicht in den Kopf, warum, wenn du irgendwo ein antikes griechisches Gefäß findest, das nicht bedeutet, dass dort Griechen existierten.«

»Ich erkläre es dir mit einem Beispiel: Wenn in der Zukunft einer kommt, um mein Haus auszugraben, findet er Objekte japanischer, deutscher, italienischer, türkischer, koreanischer et cetera, et cetera Herkunft – und nur sehr wenige griechische. Aus diesen Ländern hat aber niemals auch nur einer einen Schritt über meine Schwelle gesetzt. Wenn es also darum geht, meine Nationalität anhand der Objekte, die ich besitze, zu bestimmen, bin ich tatsächlich nicht identifizierbar. Und wenn ich im Schlussverkauf diverse koreanische Geräte gekauft habe, wird ein späterer Ausgräber mich für einen Koreaner halten. Ist das logisch?

Zweites Beispiel, als Zeugnis für die Gefährlichkeit: Während des Aufstiegs und der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland benutzte man die Archäologie bis zum Überdruss zur Rechtfertigung, um Gegenden, wo alte Funde von germanischen Stämmen außerhalb Deutschlands lokalisiert wurden, als eigene zu beanspruchen. Beispielsweise in Polen. Wir alle wissen, wie sich diese Geschichte entwickelt hat. Besonders von 1939 bis 1945. Und wenn du sie nicht kennst, erzähle ich sie dir in einem Satz: Es hat kein gutes Ende genommen.

Weitere Beispiele für den Umgang mit der Vergangenheit zum Nutzen einer modernen Ideologie sind die sowjetische Archäologie, die sich fast ausschließlich auf eine marxistische Interpretation konzentrierte, und die Archäologie der Apartheid in Südafrika, welche die Möglichkeit ablehnte, dass die Ureinwohner in alten Zeiten eine Zivilisation gehabt hatten, und die jeden Fund als Beweis für die Kolonisation aus Europa deklarierte. Und auch die Benutzung des Altertums seitens der griechischen Politik, größtenteils im 19. und im 20. Jahrhundert, diente dem Nationalgefühl und dem Stolz, indem sie es unternahm, die Vergangenheit zu ›läutern‹, damit diese in reinem Glanz erstrahlte.«

»Und wie kann man diese Schwierigkeit überwinden?«

»In dem Moment, da die Archäologie begriff, dass es nicht genügt, Altertümer zu lokalisieren, einzuordnen und mit Völkerschaften zu verbinden, sondern dass es darum geht, tiefer zu graben und das Offensichtliche anzuzweifeln, war es für die junge Wissenschaft mit der Naivität vorbei. Das begann um die Sechziger- und dauerte bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein. Es war die Zeit der Neuen Archäologie. Haben wir nicht gesagt, die Archäologie sei ein junges Mädchen gewesen, das sich mit den positiven Wissenschaften zusammengetan hatte? Eben, so versuchte sie, diese nachzuahmen und nach den Prozessen, die hinter den kulturellen Erscheinungen stecken, zu suchen. Darum wurde sie auch ›prozessuale Archäologie‹ genannt. Die antiken Kulturen wurden als System mit Untersystemen betrachtet und mit Methoden der Analyse und statistischen Modellen erforscht.«

»Dann sind wir also fertig mit der Theorie. Die Archäologie hat ihr Ziel erreicht.«

»Nein. So einfach war es nicht. Irgendwann begann, vor lauter Analyse von Statistiken, das Wesentliche unterzugehen. Man begriff, dass auch das nicht genügte, denn man musste sich sowohl des unberechenbaren menschlichen Faktors bewusst sein, als auch der Tatsache, dass die Archäologen ihre eigenen Zwangsvorstellungen und Vorurteile haben. Da hat man den Begriff der postprozessualen Archäologie geschaffen.«

»Was ist denn das nun schon wieder?«

»Die postprozessuale Archäologie suchte anhand der Objekte nach dem Menschen. Eigentlich sollte sie die prozessuale Archäologie ergänzen, aber das wissenschaftliche Gezänk ging einfach weiter.«

»Ihr wollt es einander zeigen, was? Ist die Archäologie endlich zu einem Schluss gekommen, oder kämpft sie immer noch um ihre Identität?«

»Was die Archäologie heute zu tun versucht, ist, alles, was ich dir gesagt habe, zu kombinieren, indem sie auch andere Facetten der menschlichen Existenz ins Auge fasst. Von der Gender-Archäologie, die nach der Bedeutung des Geschlechts in der Zivilisation sucht, bis zur gesellschaftlichen Archäologie, die nach den ökonomischen und gesellschaftlichen Facetten des Altertums sucht. Alle zusammen ergeben das riesige Puzzle der archäologischen Wissenschaft.«

»Aber warum eine derartige Diskussion über die Theorie der Archäologie?«

»Wie wir am Anfang gesagt haben: Wenn du nicht weißt, was du suchst und aus welchem Grund du das Altertum erforschst, wenn du keinen klaren Arbeitsplan hast, dann kannst du auch keine klaren Interpretationen liefern. Dann bist du nicht mehr als ein Schatzjäger. Und du kannst keine Antworten haben. Um auf Antworten zu stoßen, musst du die richtigen Fragen stellen. Wie zum Beispiel die, die wir vorhin erwähnt haben. Was hat zum Zerfall der minoischen Zivilisation geführt?«

»Ah ja! Da sind wir stehen geblieben. Du hast gesagt, die Mykener seien gekommen! Wie stand es um die mykenische Zivilisation?«

»Sehr gut, hör zu, was sich mit Mykene abgespielt hat …«