»Alexander III. Der Große Alexander. Alekos der Große. Offensichtlich sind die Gründe, warum in der Geschichte einige als großartig bezeichnet werden, subjektiv und fraglich. Nicht bei Alex. Alex hat diesen Namen wirklich verdient, würde ich sagen.«
»Warum nennst du ihn Alex? Ist das nicht ein wenig … beleidigend?«
»Warum soll ein Kosename beleidigend sein? Wie du siehst, bin ich ein riesiger Fan von Alex. Er hat den Lauf der Weltgeschichte wie nur ganz wenige andere verändert. Ich glaube auch nicht, dass es irgendeinen Nutzen hat, wenn wir unsere Geschichte auf den Sockel heben. Es geht in der Geschichte nicht um Ruhm und Ehre. Das führt oft auf falsche Pfade. Ich ziehe es vor, dass wir die Vergangenheit kennen und mit ihr vertraut sind.«
»Ja, okay, das hast du schon mal gesagt, und trotzdem hebst du ›Alex‹, wie du ihn nennst, auf den Sockel. Warum bewunderst du Alexander den Großen? War er letzten Endes nicht ein … Schlächter?«
»Ich hebe ihn auf gar keinen Sockel. Sein Leben beeindruckt mich so, wie es war. Und warum soll der Große Alex ein Schlächter gewesen sein? Im Vergleich mit welchen anderen Anführern des Altertums oder auch späteren? Entweder du bezeichnest alle als Schlächter, oder du akzeptierst, dass die ganze Geschichte so oder so blutig ist.«
»Aber hat Alexander der Große in seinen Kriegen nicht viel mehr abgeschlachtet als die anderen?«
»Ich sage dir, Alexander war um einiges weniger zerstörerisch als sehr viele andere Kriegsherren. Er hat viel weniger Schlachten geführt, hat sich den Besiegten gegenüber immer mit größerer Milde verhalten als jeder andere Feldherr und hat versucht, wann immer möglich, jeden kriegerischen Konflikt zu vermeiden. Er war kein Heiliger, aber auch kein Dämon. Er war ein äußerst fähiger, sehr kluger junger Mann, der selbstverständlich an einem gewissen Punkt übergeschnappt ist.«
»Ich weiß, dass er einen Eroberungskrieg geführt hat.«
»Er hat einen Krieg gegen das Perserreich geführt, das stimmt. Er hat das getan, wovon viele geträumt haben und was sich seit Jahrhunderten angekündigt hatte. Die griechische Welt und das Perserreich waren seit den Perserkriegen in ein seltsames Tauziehen verstrickt. Von da an hat Persien, obwohl besiegt, keine Ruhe gegeben und sich in die griechischen Angelegenheiten eingemischt. Wer wohl hat Sparta Gold gegeben, damit es seine Flotte bauen und Athen im Peloponnesischen Krieg besiegen konnte? Persien! 150 Jahre nach den Perserkriegen herrschte noch immer ein ›Kalter Krieg‹ zwischen den Griechen und den Persern. Für Alexander war der Moment gekommen, als die griechische Welt beschloss, den Kampf in Persien selbst auszutragen.
Aber beginnen wir am Anfang. Alexander musste ziemlich plötzlich den Thron von Makedonien besteigen. Er war zwar der gesetzliche Nachfolger seines Vaters, aber zu der Zeit steckte er noch mitten in der Pubertät und war mit seinem Vater verkracht. Philippos II. hatte wieder geheiratet, und als König schien er noch viele Jahre voller Lebenskraft vor sich zu haben. Er hatte Pläne, den uralten Feind der griechischen Welt, das Perserreich, anzugreifen. Er hat die Griechen in Korinth versammelt und den Korinthischen Bund ins Leben gerufen, gemäß dem die griechischen Städte ihre Feindseligkeiten untereinander begruben und sich gegen die Perser zusammenschlossen. Philippos ist es als Erstem gelungen, die griechischen Städte tatsächlich zu vereinen.«
»Alle?«
»Nicht ganz. Ein kleines Dorf in der Mitte von Lakonien, das Sparta hieß, weigerte sich, sich zu unterwerfen. Als Philippos alle besiegt hatte und nur Sparta blieb, schickte er ihm eine Nachricht: ›Wenn ich Sparta erobere, werde ich kein Erbarmen zeigen!‹ Die Spartiaten antworteten kurz und bündig mit einem ›Wenn‹.«
»Hat er ihre Arroganz ernst genommen?«
»Nein. Aber man legte sich auch nicht einfach so mit den Spartiaten an. Philippos respektierte Sparta und ignorierte es, er versammelte alle in Korinth, und sie schlossen ein Bündnis. Später veranstaltete er ein großes Fest in der alten Hauptstadt seines Königreichs, in Aigai, zur Hochzeit seiner Tochter, und auf der Liste der Eingeladenen standen unzählige Namen von VIPs aus der ganzen griechischen Welt. Im Theater von Aigai, vor den Augen ganz Griechenlands, ließ Philippos, völlig in Weiß gekleidet, die Statuen der zwölf olympischen Göttinnen und Götter vorbeiziehen, und die dreizehnte stellte ihn selbst dar.«
»Er hat Gott gespielt?«
»Ja, und das war eine ungeheure Hybris. Er hat umgehend dafür bezahlt. Ein Verschwörer stürmte aus der Menschenmenge hervor und stach ihn nieder.«
»Weiß man, warum er ihn erstochen hat?«
»Den Grund für den Mord kennen wir nicht, auch nicht, wer den Täter bezahlt hat. Aber der mächtige König war tot. Und der zwanzigjährige Alexander war plötzlich der Erbe der zu dieser Zeit größten Macht Griechenlands.
Alle dachten: ›Jetzt ist es aus mit Makedonien.‹ Aber Alexandros war anderer Ansicht. Im Korinthischen Bund fing es an zu knirschen. Als erste Stadt stieg Theben aus, weil sie dort das falsche Gerücht glaubten, der junge Makedonier sei in einer Schlacht gegen die Thraker gefallen. Athen ermutigte Theben und flüsterte: ›Mach schon, erhebe dich.‹ In Rekordzeit erreichte Alexander Theben und eroberte es. Man sagt, er habe die Stadt dem Erdboden gleichgemacht, um Vergeltung zu üben. In Wahrheit hat er die Entscheidung aber der Gemeinschaft der Böotier überlassen, das heißt, den Städten, die an Theben angrenzten. Diese Gemeinschaft der Böotier, die von den Thebanern unterdrückt wurden, beschloss, dass Theben zerstört werden sollte. Alexander befahl, dass das Wohnhaus von Pindar, dem großen Dichter, nicht niedergerissen werden durfte. Und Athen, das Theben angestachelt hatte, sich zu erheben, verzieh er.«
»Warum das?«
»Weil er an der Seite von Aristoteles studiert hatte und wusste, dass Athen die Stadt war, in der die größten Geister der antiken Welt wirkten und schöpferisch tätig waren. Dann zog Alexander nach Asien und setzte die Pläne seines Vaters um: das Perserreich zu besiegen.«
»Dieser Konflikt war nach den Perserkriegen noch nicht gelöst?«
»Selbstverständlich nicht. Die Perserkriege waren mit dem Sieg der Griechen zwar zu Ende gegangen, aber wie gesagt, Persien hatte immer ein Auge darauf, sich in die griechischen Angelegenheiten einzumischen und diese zu untergraben. Die erste Schlacht fand am Fluss Granikos statt. Das Heer von Alexander war weit unterlegen. Aber dank seiner strategischen Fähigkeiten besiegte er den Feind und rückte weiter vor. Er befreite die griechischen Städte an den Küsten Kleinasiens.«
»Er hat sie also erobert?«
»Ja, aber er erlaubte ihnen, ihre Regierungsform frei zu wählen. Die meisten waren alte Demokratien und haben diese wieder eingeführt.«
»Aber war Makedonien nicht ein Königreich? Was brachte es ihm, Demokratien zuzulassen? Musste er als König die Städte nicht unter seine Macht bringen?«
»Nun, das ist ein weiteres Beispiel für seine Andersartigkeit: Nach einem Halt in der phrygischen Stadt Gordion in der heutigen Türkei, wo er den bekannten Knoten durchschlug, zog er weiter nach Syrien. Dort fand bei Issos die nächste Schlacht statt. Diesmal erschien Persien mit einem noch viel größeren Heer. Der Sieg war für Alexander nicht leicht, aber er schaffte es, den persischen König Dareios III. in die Flucht zu schlagen; wobei dieser seinen ganzen tragbaren Palast mit Mutter, Ehefrau und allem Hab und Gut zurückließ.
In Ägypten empfing man Alexander als Befreier, denn bei seinem Kommen flohen die Perser, die die Ägypter gar nicht schätzten. Die Ägypter versprachen ihm, ihn als Gott zu verehren, was Alexander natürlich gefiel. Die Griechen verehrten die ägyptische Zivilisation, da sie viel älter und bedeutend war. Immerhin war die Große Pyramide für Alexander viel älter als er für uns! Im Nildelta gründete er viele Städte, und Alexandria sollte die berühmteste werden. Dann führte er sein Heer nach Asien und näherte sich dem Herzen Persiens. Dareios schickte ihm eine Nachricht und bot ihm einen Deal an: ›Willst du, dass wir das Reich in der Hälfte teilen? Behalte, was du dir bis jetzt genommen hast, und lass mir die andere Hälfte.‹«
»Kein schlechtes Angebot.«
»Dieser Ansicht war auch einer der größten Heerführer von Alexander, der alte Parmenion, der zu ihm gesagt haben soll: ›Wenn ich Alexandros wäre, würde ich den Vorschlag annehmen.‹ Darauf erwiderte Alex: ›Auch ich würde ihn annehmen, wenn ich Parmenion wäre.‹ Alexander aber rückt vor und erobert eine nach der anderen alle Hauptstädte des Reichs. Schließlich zieht er als Triumphator in Babylon ein, schlägt die persische Armee endgültig in die Flucht und wird zum Herrscher des Persischen Reichs.«
»Das war alles? Drei Schlachten?«
»Um das Reich zu erobern, ja. Doch er kommt nicht zur Ruhe. Er muss Dareios finden, den Aufständische gegen Lösegeld entführt haben. Er zieht bis in die äußersten Provinzen des Persischen Reichs, wo er in Pakistan auf einen regionalen König trifft, Poros. Der hat eine riesige Armee und Kriegselefanten. In der Schlacht am Hydaspes besiegt Alexander auch diesen. Aber die Tapferkeit von Poros überrascht ihn, und sie werden Freunde. Er lässt Poros Herrscher bleiben und zieht weiter.
Dort ungefähr fing es an, mit Alexander bergab zu gehen. Aber er war ein junger Mann, schön, erfolgreich, CEO und CFO im Familienunternehmen, das die ganze Welt erobert hat. Wie sollte er da nicht verrückt werden? Er begann, überall Feinde und Verschwörungen zu sehen. Aus Angst tötete er Mitarbeiter und Freunde. Bis er in Babylon plötzlich krank wurde.«
»Was hatte er?«
»Wir wissen es nicht. Das ist ein großes Thema. Man diskutiert schon ewig darüber.«
»Ich erinnere mich, dass nach seinem Tod sein Reich zusammengebrochen ist … Hat er keinen Nachfolger hinterlassen?«
»In den letzten Stunden vor seinem Tod wurde er gefragt, wen er zum Nachfolger bestimme. Und er stammelte: ›den Besten‹.«
»In Griechenland glauben alle, sie seien die Besten.«
»Und so haben seine Heerführer angefangen, einander die Haare auszureißen und sich gegenseitig umzubringen, bis es einige Jahrzehnte später zu einer endgültigen Aufteilung des grenzenlosen Reichs in kleinere Königreiche kam.«
»Hat Alexander letzten Endes seinen Ruf verdient?«
»Der Große Alexander ist die Figur im Altertum, die im Vergleich zu allen anderen das größte Interesse auf sich gezogen hat. Seine Einzigartigkeit besteht darin, dass das auf zwei Seiten geschah. Bei denen, die seine Größe überbetonen und sich alle Mühe geben, ihn zu idealisieren, und bei den anderen, die ihn verurteilen als Symbol des Bösen, als Imperialisten oder als ›den Einzigen, der einen Expansionskrieg geführt hat‹ im antiken Griechenland. Aber denk mal nach … Glaubst du, nach seinem Tod hätten die anderen ihre Meinungsverschiedenheiten mit Debatten gelöst? Als wären alle Politiker oder Feldherren der griechischen – und der weltweiten – Geschichte Blumenkinder gewesen. Haben sie sich mit Briefen und Unterschriftensammlungen an ihren Feinden gerächt und diese besiegt? Es hat keinen Sinn, Alexander mit Mahatma Gandhi zu vergleichen.«
»Aber wir haben in unserer Geschichte keinen anderen Eroberer.«
»Aber Athen hat seine Verbündeten, zum Beispiel Milos, auch gequält, hat seine Männer getötet, die Mädchen versklavt und verkauft, ganze Städte zerstört. Alexander der Große muss als Herrscher in einer Welt der Herrscher gesehen werden, und auch dann ragt er über alle hinaus. Entweder du verurteilst die Weltgeschichte – und die griechische Geschichte – in ihrer Gesamtheit als absolut gewalttätig und blutig, oder du akzeptierst auch Alexander den Großen als einen konkreten Moment in ihr, der äußerst drastisch gewesen ist. Nur das eine oder nur das andere geht nicht.«
»Noch eine Frage. Hat er die Barbaren zivilisiert?«
»Er hat überhaupt niemanden ›zivilisiert‹! Er ist zu Völkern gegangen, die eine jahrtausendealte Zivilisation hatten, lange bevor das alte Griechenland sich entwickelte. Zu Zivilisationen, die die griechische inspirierten, als diese noch in den Windeln lag. Unvermeidlich wurde dabei aber durch seinen Feldzug, den auch ein Konvoi von Wissenschaftlern begleitete, auch die gute Seite der griechischen Kultur verbreitet, der Sport, die Würde des Einzelnen, die Philosophie, die Literatur, das Theater, die Wissenschaften. Infolgedessen hat er Kulturen verbunden. Er hat die griechische mit anderen vereint, und das Ergebnis war erschütternd. Denn so ist es mit Zivilisationen, sie wollen, dass sich ihre Bastarde weiterentwickeln. Überdies hatte Alexander, trotz seines Größenwahns, die Weitsicht zu merken, dass es für die Koexistenz der Völker nötig ist, dass wir alle als gleich betrachten. Darum hat er Tausende von Griechen mit Frauen aus anderen Völkern verheiratet. Und darum war er auch mit seinem Lehrer Aristoteles zerstritten. Der Philosoph fand nicht, dass die ›Barbaren‹ den Griechen gleichwertig waren.«
»Alexandros war mit Aristoteles zerstritten?«
»Aber nicht nur deswegen, er hat auch dessen Neffen, Kallisthenes, umgebracht, weil er ihn der Verschwörung gegen sich verdächtigte.«
»Das macht mir den Mythos von Alexander dem Großen doch ziemlich kaputt.«
»Aber genau das ist es. Es sind … Mythen, keine Realitäten.«
»Wo wir schon von Mythen sprechen … Eine unwichtige Frage, aber sie plagt mich schon lange. Ist die ganze Mythologie nicht ein Chaos, oder kommt mir das nur so vor?«
»Die Mythologie ist tatsächlich ein Chaos. Und es ist logisch, dass es so ist. Denn das, was wir Mythologie nennen, sind ihrem Wesen nach Geschichten, die der alten griechischen Religion ein Kleid angelegt haben. Und die Religion, und mit dieser zusammen die Mythologie, basiert nicht auf einem einzigen Text oder auf einem Heiligen oder auf der Inspiration eines Menschen. Im alten Griechenland hat es keine heiligen Texte gegeben.«
»Und wie haben sie gewusst, wen oder was sie verehren sollten?«
»Die Religion und ihre Regeln sind durch mündliche Überlieferung von Generation zu Generation vermittelt und verewigt worden. Wenn es keinen konkreten heiligen Text gibt, der die Religion definiert, kann er auch nicht für die Mythologie existieren.«
»Was sind dann unsere Quellen für die Mythologie?«
»Ganz früh waren es Homer und Hesiod, die ersten großen epischen Dichter im 8. und im 7. Jahrhundert vor Christus. Dann kamen die verschiedenen anderen Dichter und das Theater mit den drei Großen, also Aischylos, Sophokles und Euripides. Diese haben den Mythos, der ihnen gefallen hat, genommen und ausgeformt, um Emotionen zu wecken. Am Ende des Altertums ist dann der Roman entstanden, der ebenfalls sein eigenes Publikum zufriedenstellen wollte. Wirf jetzt die regionalen Überlieferungen und Abwandlungen und die Fantasie der Menschen in einen Mixer, und wir erhalten ein Konglomerat von Mythen, das hauptsächlich dank der schöpferischen Fantasie von Künstlern geschaffen wurde. Vielleicht sind die Mythen gerade deswegen noch heute so zauberhaft und üben auf alle eine so starke Anziehung aus. Es ist kein konkreter Text ›aus göttlicher Eingebung‹, der den Menschen geschenkt wurde.«
»Und wie ist die Mythologie entstanden?«
»Aus der Kunst der künstlerischsten Köpfe jener Zeit. Sie wurde nicht von weisen Priestern definiert, streng und starr wie ein Stein. Sie war zart und locker wie frischer Teig. Und vergiss nicht, dass die Mythologie für uns eine Sammlung von schönen Geschichten ist. Für die alten Griechen war sie ein Teil ihres Alltags. Alexander der Große hat tatsächlich geglaubt, er stamme von Herakles ab und sei der Sohn von Zeus! Seine Nachfolger haben all das politisch ausgenutzt. Sie wollten ihm ähnlich sein.«
»Erzähl mir doch noch, was sich nach dem Tod von Alexander dem Großen abgespielt hat.«
»Oh, das war schlimm! Hör zu …«