11 Hellenistische Zeit

»Alexandros war tot. Und schon begann der Kampf der Diadochen, also der Nachfolger.«

»Es hat offizielle Nachfolger gegeben?«

»Er hatte einen Sohn von Barsine, Herakles, der schon ein Jüngling war, aber er war nicht das offizielle Kind aus einer offiziellen Ehe.«

»Hatte er kein anerkanntes Kind?«

»Er führte eine offizielle Ehe, und zwar gemäß der Legende mit der schönsten Frau, die er je gesehen hatte, einer Prinzessin aus Baktrien, Roxane. Die war auch schwanger, aber sie hatte bei seinem Tod noch nicht entbunden. Würde es ein Knabe werden, wäre er der Nachfolger. Er hatte auch einen Halbbruder, den sein Vater Philippos mit einer Tänzerin gezeugt hatte, er hieß Arrhidaios. Aber Arrhidaios war geistig zurückgeblieben. Die Feldherren, die darauf warteten, sich das größte Stück des Reichs, wenn nicht das ganze einzuverleiben, beschlossen, so zu tun, als unterstützten sie das ungeborene Kind von Alexander; dieses wurde auch bald geboren, es war tatsächlich ein Knabe, der den Namen Alexandros IV. bekam. Aber sie unterstützten auch Arrhidaios, den behinderten Bruder von Alexander, der ebenfalls einen Anspruch auf den Thron hatte, und nannten ihn Philippos III. Beide wurden zu Königen gekrönt, und alle schworen, sie zu beschützen. Doch dann begann ein weltumspannendes Gemetzel. Jahrzehntelang mobilisierten die Nachfolger von Alexander Armeen, wechselten Allianzen wie Unterhemden, gerieten sich in die Haare, verheirateten ihre Töchter und Söhne gegenseitig.«

»Und so ist das Reich auseinandergebrochen? In wie viele Teile denn?«

»Die größten waren vier. Zu den wichtigsten Königreichen, die aus dem Schaden entstanden, gehörte das Königreich von Ptolemaios, mit dem Hauptsitz in Ägypten; dieser hat auch die gleichnamige Dynastie gegründet. Ein anderes wichtiges Königreich war das von Seleukos, es umfasste den größten Teil von Asien. Er begründete die Dynastie der Seleukiden und hat mehr als alle anderen versucht, die Vision von Alexander zu bewahren, aber genauso erfolglos. Das Königreich von Thrakien hatte keine beständige Zukunft wie die anderen beiden, aber ein kleines Königreich entstand im Nordwesten von Kleinasien, das Königreich von Pergamon, das indirekt geschaffen wurde. Zuerst war es sehr klein, aber rasch gewann es an Macht und wurde nicht nur militärisch, sondern auch kulturell stark und beachtenswert.«

»Und in Makedonien? Was ist dort mit dem Königreich passiert?«

»Dort kam nach langem Tauziehen Kassandros an die Macht, er hatte die Halbschwester von Alexander geheiratet, Thessalonike. Unter seinem eigenen Namen gründete er Kassandreia, dort, wo heute Potidaia in Chalkidiki ist, und Thessalonikeia nach dem Namen seiner Frau.«

»Verzeihung, aber was passierte mit den ›offiziellen‹ Nachfolgern? Dem Bruder und dem Sohn von Alexander?«

»Philippos Arrhidiaos haben sie als einen der Ersten umgebracht. Olympias, die Mutter von Alexander dem Großen, tötete ihn, damit ihr Enkel, Alexandros IV., der einzige Nachfolger blieb, auch weil die Witwe Alexanders, Roxane, Zuflucht bei ihrer Schwiegermutter in Makedonien gefunden hatte.«

»Hat Olympias so viel Macht gehabt?«

»Diese Olympias war eine sehr Furcht einflößende Persönlichkeit. Doch Kassandros ließ auch sie, ihre Schwiegertochter und ihren Enkel töten. Die Soldaten, die er dafür schickte, sind allerdings abgehauen; sie konnten es nicht tun, so einschüchternd war Olympias. Da lieferte Kassandros sie den Müttern und Frauen von denen aus, die sie selbst getötet hatte. Und die haben sie ermordet und ihren Körper den Hunden zum Fraß vorgeworfen.«

»Und der kleine Sohn von Alexandros, wurde der auch den Hunden zum Fraß vorgeworfen?«

»Das mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht. Es ist eher wahrscheinlich, dass er für die Augen der Leute mit großen Ehren begraben wurde. Man glaubt, dass eines der Königsgräber im großen Hügelgrab von Vergina dem Sohn von Alexandros gehört. Deshalb nennen wir es auch Prinzengrab.«

»Aber es ist noch ein halb offizieller Nachfolger geblieben, dieser Sohn von Alexander dem Großen, den du erwähnt hast.«

»Der hat tatsächlich noch gelebt. Er war ein Jüngling, und einer der makedonischen Feldherrn, Polyperchon, wollte ihn tatsächlich dabei unterstützen, den leeren Thron zu besteigen. Aber Kassandros überzeugte ihn davon, dass es im Interesse aller sei, die königliche Familie endgültig verschwinden zu lassen. So kam auch Herakles zu Tode.«

»Auch er hat vor den Hunden geendet?«

»Das können wir nicht wissen. Aber 2008, während der Grabungen auf der Agora der alten Stadt Aigai, der ersten Hauptstadt Makedoniens und traditionellen Stätte für die Königsgräber, ist man auf eine heimliche königliche Beerdigung gestoßen.«

»Was denn nun? Königlich oder heimlich?«

»Die Überreste lagen in einer Metallwanne in der Erde, aber es waren alle Anzeichen für eine aristokratische Beisetzung vorhanden, bis zum goldenen Kranz aus Eichenlaub. Diese goldenen Kränze waren in der Regel Grabbeigaben für die Aristokraten der Makedonier, aber die Kränze aus Eichenlaub werden eher mit der Königsfamilie verbunden oder mit einer ganz hohen Stellung. Im Jahr darauf, 2009, wurde daneben ein ähnliches Grab gefunden. Die Gebeine darin waren aber so zerstört, dass man weder Alter noch Geschlecht herauslesen konnte. Die Knochen im ersten Grab hingegen werden einem jungen Mann zugeschrieben. Möglicherweise wurden der junge Herakles und seine Mutter Barsine zwar ermordet, aber vielleicht haben ein paar übrig gebliebene makedonische Royalisten, die das Geschlecht von Alexandros verehrten, versucht, dem letzten Nachkommen des großen makedonischen Königshauses die ihm gebührende letzte Ehre zu erweisen und ihn königlich zu begraben, in aller Heimlichkeit. Natürlich sollten wir sehr vorsichtig dabei sein, wie wir uns ausdrücken, und nicht einfach erklären, das sei das Grab von diesem oder jenem; es muss schon eine starke Wahrscheinlichkeit bestehen.«

»Und was hat sich im übrigen Griechenland abgespielt?«

»Die verschiedenen Stadtstaaten versuchten, ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen, aber damit war es aus und vorbei. Die riesigen Armeen der Diadochen ließen ihnen keinen großen Raum. So schlossen die Städte, die keinem der Königreiche in die Hände fielen, Bündnisse, damit sie sich verteidigen und auch zum Angriff schreiten konnten. Die beiden größten Konföderationen waren der Achaiische Bund auf der Peloponnes und der Aitolische Bund auf dem Festland.«

»Und hat dieser Dreh Erfolg gehabt? Die Stärke in der Einheit?«

»Sowohl die Aitoler als auch die Achaier schafften es, beachtenswerte Kräfte im griechischen Raum zu werden. Auch sie sind in den ununterbrochenen Kriegstanz eingetreten, haben im Lauf der Jahre Allianzen und Interessen gewechselt.«

»In diesem ganzen Chaos, das du beschreibst … hat es da gleichzeitig eine bedeutende Kultur gegeben?«

»Es gab im Altertum immer Krieg. Es ist nicht von Belang, dass ich nicht alle Konflikte erwähnt habe. Wir wissen auch gar nicht von allen. Doch die Menschheit hat inmitten des Feuers auch immer Kultur geschaffen.«

»Dann ist es mit der griechischen Kultur so weitergegangen, wie wir es aus der klassischen Zeit kennen?«

»Nun ja, die Umstände haben sich in der hellenistischen Zeit, wie die Epoche seit der Krönung Alexanders genannt wird, verändert. Die griechische Lebensweise verbreitete sich in der damals bekannten westlichen Welt, und die neuen Gegebenheiten brachten Anreize anderer Art mit sich. Die größte kulturelle Errungenschaft der hellenistischen Zeit kennen wir alle. Es handelt sich um das Museum von Alexandria.«

»Alexandria in Ägypten?«

»Natürlich! Eine der bedeutendsten Stätten, wenn nicht die bedeutendste, der hellenistischen Zeit. Wenn du an seinen Hafen denkst – er war der größte der alten Welt –, verstehst du, von welchen Größenordnungen wir sprechen.

»Der größte? Für Verkehr und Handelswaren?«

»Und das in riesigen Ausmaßen! Stell dir vor, in Syrakus, einer großen Stadt auf Sizilien, wollte der Tyrann Hieron II. irgendwann das mächtigste Schiff seiner Zeit bauen. Er nahm dafür so viel Holz, wie für sechzig normale Schiffe nötig war, mit Seilen aus Spanien, Teer aus Frankreich, die besten Materialien von überallher. Er engagierte das größte Genie seiner Zeit, Archimedes, als Chefingenieur. Das Schiff hatte zwanzig Ruderbänke und drei Decks. Das untere Deck war für die Ladung und die Bediensteten, mit Lagerräumen, Ställen, Backöfen, Schreinerwerkstätten, Mühlen, sogar ein Aquarium gab es! Auf dem mittleren Deck waren die offiziellen Appartements mit dreißig Vier-Bett-Zimmern, einer Turnhalle, Gärten und einem Tempel der Aphrodite. Und auf dem oberen Deck gab es Kriegsgeräte, Katapulte, Armbrüste … Es war eine richtige schwimmende Stadt, in der Lage, sich zu versorgen, zu leben, sich zu unterhalten und Krieg zu führen. Sie haben dieses Schiff Syrakusia genannt.«

»Und was ist mit dem Schiff geschehen?«

»Es war ein kompletter Misserfolg! Es war viel zu groß und fand in keinem Hafen Platz. Einzig und allein im Hafen von Alexandria. Und so schickte der arme Hieron es als Geschenk nach Ägypten, wo es im Hafen verankert und als schwimmende Mall genutzt wurde.«

»Wow! Alexandria hört sich wirklich interessant an. Und es hatte also ein Museum? Mit Ausstellungsstücken?«

»Kein solches Museum, nicht wie die heutigen. Das Museum war, sagen wir, ein Zentrum der Wissenschaften und der Forschung. Sie haben es so genannt, weil es den Musen gewidmet war. Diesen neun Mädchen, den Töchtern von Zeus und Mnemosyne. Natürlich hat das Museum auch Bücher gebraucht. Und wohin mit diesen Büchern? In die berühmte Bibliothek von Alexandria.«

»Wie sind sie auf die Idee gekommen, eine solche Bibliothek zu errichten?«

»Ptolemaios, Feldherr und Freund von Alexander, aber auch sein Mitschüler an der Schule von Aristoteles, Begründer der gleichnamigen Dynastie, war sehr gebildet und verehrte die Wissenschaften und die Künste. Also beschloss er, etwas in seiner Zeit Einzigartiges zu schaffen: Er gründete das Museum, einen Ort des Denkens und der Forschung, und lud die größten Geister der Epoche ein, zu ihm zu kommen. Er versprach ihnen das Blaue vom Himmel – und er hielt Wort. Alle Intellektuellen, die nach Alexandria kamen, bekamen Essen und ein Dach über dem Kopf, einen fetten Lohn, dazu einen Fonds für die Forschung, die sie betreiben wollten, Steuererleichterungen et cetera. … Ptolemaios hat sie verhätschelt, wenn sie nur forschten! Und damit die Forschung auch die besten Früchte trug, sollte alles Wissen, das es damals gab, an einem Ort gebündelt werden. Und es wurde nicht einfach nur zusammengetragen, sondern geprüft, korrigiert, bestätigt – kurz, es hat sich gefestigt und wurde erweitert. Schließlich hatte die Bibliothek die größte Zahl von Büchern, die in der antiken Welt je zusammengetragen wurden.«

»Und wie haben sie diese Bücher gefunden und gesammelt? In einer Zeit, wo es noch keine Druckereien gab, waren die Bücher selten, und es hat ja anscheinend nur sehr wenige Kopien gegeben.«

»Erstens haben sie die Bücher, die zirkulierten, beschlagnahmt. Zweitens hat Ptolemaios ein Heer von Jägern nach Handschriften und Büchern ausgeschickt, die alles schriftliche Material sammelten, dessen sie im Mittelmeerraum habhaft werden konnten. Sie gingen zum Beispiel nach Athen, wo die berühmten Handschriften der Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides gehütet wurden, und haben sie verlangt. Die Athener wollten die Bücher natürlich nicht hergeben. Da schlugen die Alexandriner ihnen vor, die Bücher mitzunehmen, zu kopieren und sie zurückzubringen, mit einer Bürgschaft von 15 Talenten.«

»War das viel Geld?«

»Eine gigantische Summe. Ein Talent reichte aus, um sämtliche Tagelöhne für alle Männer, die auf einer Kriegstriere dienten, einen Monat lang zu bezahlen. Bei einer solchen Bürgschaft glaubten die Athener natürlich, dass sie die Bücher auch wirklich zurückbringen würden. Also nahmen die Alexandriner sie mit und kopierten die Texte, doch dann schickten sie den Athenern die Kopien. Die Bürgschaft war ihnen egal. So groß war das Verlangen von Alexandria, Bücher zu sammeln.«

»Diese Bibliothek muss riesig und eindrucksvoll gewesen sein, was?«

»Leider haben wir in Bezug auf die Bibliothek viele Lücken. Wir wissen nicht, wie sie ausgesehen hat. Du darfst dir jedenfalls die antiken Bibliotheken nicht wie die heutigen vorstellen. Vor allem, weil sie keine Bücher, sondern Papyrusrollen hatten. Wir wissen sicher, dass das ganze – oder fast das ganze – Wissen der Antike hier versammelt war; es wurde erforscht, erfasst, analysiert und bewahrt. Damit wurde Alexandria de facto zum kulturellen Zentrum der hellenistischen Zeit. Aber es war nicht das einzige. Eine kleine Stadt im Nordwesten Kleinasiens, das bereits erwähnte Pergamon, sollte zur Hauptstadt eines sehr starken und reichen hellenistischen Königreichs werden. Pergamon war eifersüchtig auf den Glanz von Alexandria und beschloss, ebenfalls eine Bibliothek zu schaffen und sich auf die Kultur zu konzentrieren. Ägypten, so wird gesagt, habe versucht, den Konkurrenzkampf zu unterbinden, und den Export von Papyrus nach Pergamon untersagt.«

»Und wenn? Hat es sonst nirgends Papyrus gegeben?«

»Nein. Papyrus war damals das am weitesten verbreitete Schreibmaterial, und Ägypten hatte das Monopol. Doch Pergamon ließ sich nicht einschüchtern und entwickelte die Verarbeitung von Leder weiter, das gelegentlich schon als Schreibmaterial benutzt wurde. Es kam in Mode und erhielt den Namen Pergament. Aber Pergamon gab sich damit nicht zufrieden. Auch in der Kunst wurde die Stadt zur Pionierin. Ihre Kunst wurde reicher an Verzierungen. So viel reicher, dass wir sie als hellenistischen oder pergamenischen Barock bezeichnen. Bei den Statuen gab es nun sowohl ineinander verflochtene Gruppen als auch ganze Ensembles.«

»Was ist der Unterschied zwischen den beiden?«

»Gruppe sagen wir, wenn die Statuen miteinander zu einer Ansammlung verbunden sind, wie zum Beispiel die berühmte Laokoon-Gruppe, während wir als Ensemble Statuen bezeichnen, bei denen eine neben der anderen steht, wie beim Daochos-Monument in Delphi.«

»Hat sich also die Bildhauerei in diesen Jahren verändert?«

»Ja, du kannst es am Pergamonaltar mit seinen Hunderten riesiger Statuen von Göttern und Titanen, die miteinander kämpfen, sehen, an der Nike von Samothrake, die beinahe abzuheben scheint, die Kleider schmiegen sich im Wind an ihren Körper.«

»Und die Keramik? Wie ist es mit den schwarzfigurigen und den rotfigurigen Vasen von Athen weitergegangen?«

»Keramik gab es weiterhin, aber die schwarz- und rotfigurigen Vasen, die im ganzen Mittelmeerraum einmal sehr begehrt gewesen waren, sind schlicht aus der Mode gekommen. Man hat andere Keramiksorten geschaffen.«

»Die Mode wechselt eben.«

»Richtig. Nun waren einfarbige Gefäße in, rote, aber vor allem schwarze, mit sehr charakteristischen Verzierungen, sie sehen aus wie Stickereien. Wir nennen sie West-Slope-Keramik.«

»Was ist das wieder für ein Name?«

»Ganz einfach: Die ersten Gefäße dieses Stils wurden am westlichen Abhang der Akropolis gefunden. An dieser Seite hat der König von Pergamon eine Stoa gebaut, ein Geschenk für Athen.«

»Und warum war diese Stoa ein Geschenk?«

»Die Stoa gehörte zu den wichtigsten Architekturen des antiken Griechenland und kam in der hellenistischen Zeit stark in Mode. Überall stellte man eine Stoa hin! Im Wesentlichen war sie ein überdachter Gang, der auf einer Seite geschlossen war und wo es Räume für jede beliebige Nutzung gab, Lagerräume, Kaufläden, ein Archiv, ein Restaurant; die andere Seite war offen und mit Säulen bestückt, damit der Ort belüftet und hell war. Die geschlossene Seite lag im Norden, sodass ein Schutz vor Winterstürmen bestand. Im Winter konnte die offene Seite durch die tief stehende Sonne erwärmt werden, während der Gang der Stoa im Sommer bei hochstehender Sonne im Schatten lag und kühl blieb.«

»Und dort haben sich die Philosophen versammelt und sich unterhalten?«

»Ja, aber nicht nur Philosophen. Die Philosophen konnten dort allerdings öffentlich diskutieren, und so entwickelte sich die Philosophie in der hellenistischen Zeit weiter. Die Epikureer, die Stoiker und andere Schulen bildeten sich.«

»Ein Rummelplatz!«

»Könnte man so sagen! Und diese ganze kulturelle Orgie blieb in einer kleinen Stadt in der Mitte von Italien nicht unbemerkt. Damals war Rom nichts Besonderes, die Stadt stand aber in regem Kontakt mit der griechischen Kultur – und war beeindruckt.«

»Eine kleine Stadt, wie du sagst … wie ist es Rom dann gelungen, die Welt zu erobern?«

»Auf seinem Weg, den Mittelmeerraum zu kontrollieren, hatte Rom zwei Gegner: die Karthager im Westen und die Griechen im Osten. Beide griffen es auf seinem Boden an. Auf griechischer Seite nahm Pyrrhos es mit Rom auf; er war König von Epirus, ein legendärer Feldherr und ein Cousin von Alexander dem Großen.«

»War Epirus ein starkes Königreich?«

»Ja, es wurde von der Dynastie der Molosser geleitet.«

»Hat die ihren Namen von den Hunden bekommen?«

»Im Gegenteil. Die Hunde wurden so genannt, weil sie eine epirotische Rasse waren. Epirus hatte eine mächtige Dynastie. Eine Prinzessin der Molosser war Olympias, sie hat Philippos II. von Makedonien geheiratet und Alexander den Großen zur Welt gebracht.«

»Also war Alexander nicht nur Makedonier, sondern auch ein halber Epirote?«

»Ja, und die Epiroten waren stolz darauf. Pyrrhos beschloss, ebenfalls ein Eroberer zu werden. Er ging nach Italien, und obwohl er eine Schlacht nach der anderen gewann, machte er auch unglaubliche Verluste. So ist der Begriff ›Pyrrhussieg‹ entstanden. Ein Sieg, der völlig umsonst ist, weil du immense Verluste hast, bis du ihn erringst.«

»Und die Römer, die verloren, hatten die keine hohen Verluste?«

»Natürlich hatten sie die. Aber die Römer hatten etwas, was Pyrrhos nicht hatte: Reserven. Sie konnten eine neue Armee mobilisieren, während Pyrrhos gezwungen war, mit der Armee, die er auf die italienische Halbinsel gebracht hatte, zu kämpfen. Aus dem gleichen Grund hat auch der andere große Gegner von Rom den Krieg verloren, Karthago.«

»Erzähl mir von Karthago.«

»Karthago war die größte phönizische Stadt im westlichen Mittelmeer. Auch sie war uralt. Zuerst war Karthago eine phönizische Kolonie, dann wurde es aber so stark, dass es sich von seinen alten Mutterstädten ablösen konnte; es wurde selbst zu einer Mutterstadt und gründete im ganzen westlichen Mittelmeerraum Kolonien. So stand es in ständiger Konkurrenz zu den griechischen Kolonien der Gegend und später natürlich auch zu Rom. Rom war drauf und dran, von Hannibal in die Knie gezwungen zu werden.«

»Wer war noch mal Hannibal?«

»Hannibal der Karthager, ebenfalls ein legendärer Feldherr, brachte Rom den Krieg ins Haus. Er hat das ganze heutige Spanien und Südfrankreich durchquert, mit Kriegselefanten die Alpen überschritten und die Römer auf jedem Schlachtfeld besiegt.«

»Wie das?«

»Der Kerl war ein wahres strategisches Talent! Er hat mit den römischen Legionen gespielt wie die Katze mit der Maus. Aber wie ich schon sagte: Rom hatte etwas, was auch er nicht hatte: Reserven.«

»Rom ist standhaft geblieben?«

»Es ist nicht nur standhaft geblieben, sondern es ist regelrecht ausgerastet. Zuerst hat es sich um die Karthager gekümmert. Weil Griechen den Westen des Mittelmeers bewohnten, die gar nicht gut mit den Karthagern konnten, benutzte Rom die Griechen gegen die Karthager und die Karthager gegen die Griechen. Der Trick gelang. Im östlichen Mittelmeer, wo es keine Karthager gab, benutzte Rom die Griechen gegen die Griechen. Und wieder war der Trick erfolgreich.«

»Sicher, Karthago war eine Stadt, aber hellenistische Königreiche und Staaten gab es viele. War es da nicht viel schwieriger, mit allen Griechen fertigzuwerden?«

»Aber Rom hat sich ja nicht mit allen gleichzeitig angelegt! Zuerst ging es auf Makedonien los. Nur unter großen Schwierigkeiten und mithilfe der Griechen aus dem Süden hat es 168 vor Christus in der Schlacht von Pydna Perseus besiegt, den letzten König von Makedonien. Perseus wurde gefangen genommen, nach Rom gebracht und in einem Triumphzug durch die Stadt geführt.«

»Und das übrige Griechenland?«

»Die Römer sollten es zwanzig Jahre später endgültig erobern, im Zuge der völligen Zerstörung von Korinth 148 vor Christus. Natürlich sind auch andere Städte nicht davongekommen. Der römische Feldherr Sulla übte keine besondere Nachsicht, als er in das belagerte Athen eingedrungen ist. Als die Delegation von Athen ihn aufsuchte, bemühte sie sich, ihn umzustimmen, indem sie auf den Rührfaktor setzte, wie bedeutend Athen früher gewesen sei und welche Zivilisation es geschaffen habe – eine Rhetorik, die auf der Nachsicht gründete, die schon viele Feldherren aufgrund ihrer Schwäche für die griechische Kultur geübt hatten. Aber so war Sulla nicht. Er hat ihnen schlicht gesagt: ›Was kümmert’s mich, dass ihr die Wiege der Bildung gewesen seid? Ich bin hergekommen, um Aufständische zu unterwerfen.‹ Und Athen wurde geplündert. Tausende von Kunstwerken gingen als Beute nach Italien. Diese Katastrophe war natürlich eine Lektion für die übrigen griechischen Stadtstaaten.«

»Es gab aber noch andere griechische Orte.«

»Auch die haben die Römer auf die eine oder andere Weise erobert. Gegenüber in Kleinasien haben sie das reiche und mächtige Pergamon als Erbe übernommen.«

»Erbe? Was meinst du damit? Von wem? Hat der König von Pergamon in seinem Testament geschrieben: ›Ich vermache mein Königreich Rom‹?« Er lachte über die Absurdität seiner Annahme.

»Genau so ist es gewesen, lach nicht!«

Sein Lachen erstarb, und er starrte mich ungläubig an.

»Wirklich! Das Königreich von Pergamon wurde von seinem letzten König im wahrsten Sinn des Wortes als Erbe an die Römer weitergegeben. So hat er es in seinem Testament geschrieben. Die Bewohner von Pergamon widersetzten sich vergebens. Die Römer haben selbstverständlich beansprucht, was ihnen überlassen worden war. Dann eroberten sie das Reich der Seleukiden sowie alle Widerstandsnester, die nun ohne Beistand waren, und es blieb nur noch das letzte hellenistische Königreich der Geschichte, das Ägypten von Ptolemaios. Als letzte Königin bestieg die berühmte Kleopatra den Thron. Julius Cäsar reiste hin und verliebte sich in sie. Aber Cäsar war ein Diktator und wurde ermordet.«

»Diktator? Kaiser wolltest du wohl sagen.«

»Da sind viele verwirrt. Julius Cäsar war nie Kaiser von Rom. Bis zu seinem Tod hatte das Römische Reich ein oligarchisches System, die Res publica. Res bedeutet Sache und Angelegenheit. Und publica meint das Öffentliche. Also die öffentlichen Angelegenheiten, die öffentlichen Dinge.«

»Und haben die Römer mit dieser Republik Schluss gemacht?«

»Ja, bald nachdem Cäsar ermordet worden war. Vor der Einführung des Kaisertums und nach dem Tod Cäsars ging ein anderer römischer Feldherr nach Alexandria, Marcus Antonius, und der hat sich auch in Kleopatra verliebt.«

»Diese Frau muss wirklich besonders gewesen sein.«

»Seit dem Altertum hatte sie den Ruf einer Femme fatale. Antonius hatte einen Gegner, Octavian, und der nutzte die Gelegenheit, um das Volk gegen Marcus Antonius aufzubringen. Die konservative Gesellschaft von Rom unterstützte Octavian. Ein Bürgerkrieg brach aus, im Grunde genommen ein Krieg Roms gegen Ägypten, denn Antonius kämpfte an der Seite von Kleopatra. Die Flotten Octavians stießen bei Actium, gegenüber von Preveza im Ionischen Meer, auf die Streitkräfte von Antonius und Kleopatra, und Octavian siegte. Antonius und Kleopatra nahmen sich das Leben. Nun beherrschte Rom das gesamte Mittelmeer. Und Octavian nannte sich Cäsar Augustus und wurde der erste römische Kaiser.«

»Und so begann das römische Kaiserreich? Das Kaiserreich der Intrigen, der perversen Gelage und der bösartigen Machenschaften?« Er lächelte verschmitzt.

»Du hast das römische Erbe ein wenig missverstanden, nicht wahr?«

»War es denn nicht so düster?«

»Düster, mein Freund, war das ganze Altertum. Hör zu …«

FAQ: Hat die Antike auch eine dunkle Seite?

»Wir sind es gewohnt, das klassische Altertum für bewundernswert zu halten. Und das ist es auch. Aber es hatte nicht nur diese leuchtende Seite. Wenn du das Altertum kennen willst, musst du auch seine finstere Seite kennen.«

»Aber machst du so nicht seinen Ruf kaputt?«

»Überhaupt nicht. Wenn du die Vergangenheit in ihrer ganzen Realität erkennen willst, ist es essenziell, auch ihre finsteren Facetten zu akzeptieren, sie zu verstehen, dich zu freuen, dass die Menschheit in verschiedenen Punkten besser geworden ist, und das Destillat aus diesem Wissen um Licht und Dunkelheit zu bewahren.«

»Was waren denn nun die finsteren Seiten des griechischen Altertums?«

»Im Altertum gab es zum Beispiel keine Ehrfurcht menschlichen Schwächen gegenüber. Eine Behinderung kam einer Verurteilung gleich. Egal ob von Geburt an oder erworben. Wie schon gesagt bedeutete natürliche Schönheit, dass die Götter dich mochten, während sonst …«

»Haben sie auf dich gespuckt!«

»Viele Kinder, die mit einer Beeinträchtigung geboren wurden, sind hilflos gestorben, unter freiem Himmel alleingelassen.«

»Wie in Sparta, meinst du?«

»Nicht nur in Sparta, überall in Griechenland. Kinder, die mit einer Krankheit oder einfach unerwünscht auf die Welt kamen, wurden für gewöhnlich auf einem Berg ausgesetzt, als Fraß für die wilden Tiere. Ödipus aus Theben, warum hieß er so? Weil sein Vater ihm zwei Löcher in die Fußsohlen gebohrt und ein Seil hindurchgezogen hat; er sollte zum Sterben an einem Baum aufgehängt werden. Die Schwellung an seinen Füßen, ein Ödem, von dieser groben Behandlung ist ihm als Merkmal geblieben. Mit größter Wahrscheinlichkeit waren die meisten zum Sterben ausgesetzten Kinder allerdings Mädchen. Die Frau hatte in der Regel keine Rechte. Es ist sicher nicht so, dass sie immer und überall unterlegen war. Aber allgemein in der klassischen Zeit des griechischen Altertums im größten Teil der antiken Welt waren die Frauen, fünfzig Prozent der Bevölkerung also, der grundlegenden Menschenrechte beraubt. Aber es hat darum auch handfeste Auseinandersetzungen gegeben.«

»Sie hatten aber auch Göttinnen. Nicht nur Götter. Im Mythos hat die Frau gar keine so untergeordnete Stellung.«

»Okay, bei den Gottheiten mag es eine gewisse Gleichheit gegeben haben. Aber bei den Sagengestalten? Nimm das Bild, das für das weibliche Geschlecht durch eine Vielzahl von Mythen erzeugt wurde, die meistens von Männern geschaffen wurden. Zum Beispiel Medea, die Prinzessin und Tochter von Aietes im weit entfernten Kolchis. Sie beschließt, sich mit Iason aus dem Staub zu machen, der mit einem ganzen Schiff voller Argonauten gekommen ist und das prächtige Goldene Vlies geraubt hat. Man sagt, der Vater von Medea, Aietes, sei ein schlechter Vater und ein schlechter Anführer gewesen, und ganz allgemein habe er in seinem Strafregister einen Haufen Sünden gehabt, und du kannst, wenn auch weit hergeholt, Gründe finden, um seine Bestrafung zu rechtfertigen. Aber Medea hat nicht ihn selbst bestraft, sondern nahm an seiner Stelle ihren kleinen Bruder mit, Absyrtos. Und solange Aietes sie mit seinen Schiffen verfolgte, hat sie dem Knaben ein Körperglied nach dem anderen abgehauen und es ins Meer geworfen! Aietes hielt jedes Mal an, um die Teile seines Kindes einzusammeln, und so ist es den Argonauten gelungen, zu entkommen. Aber für Medea ging die Beziehung mit Iason nicht gut aus, und um sich an ihm für seine Untreue zu rächen, hat sie ihre beiden Kinder eigenhändig getötet und ist verschwunden. Die weibliche Natur wird hier mit undenkbarer Härte und Wildheit dargestellt, die männliche hingegen als ehrbares Opfer.«

»Nun, das war allerdings ein besonderer Mythos!«

»Aber nicht der einzige. Ein ähnliches Ende hat auch die Geschichte von Prokne und Philomela. Sie waren Schwestern. Tereus, der König von Thrakien, heiratete Prokne und hatte mit ihr einen Sohn, Itys. Aber er vergewaltigte ihre Schwester Philomela. Um sich an ihm zu rächen, haben die zwei Schwestern den kleinen Itys ermordet und sind ebenfalls verschwunden.«

»Schon wieder Frauen als Rächerinnen!«

»Fällt dir etwas auf? In all diesen Mythen zeigt die Frau als Mutter keinerlei Gefühl. Der männerzentrierte Mythos betont die Strafe des Vaters mit dem Verlust des Nachfolgers. Die mütterliche oder allgemeiner die weibliche Natur wird als blutrünstig und gefühlskalt gezeichnet. Aber eine Mutter hat es gewagt, sich gegen die Opferung ihrer Tochter zu wehren und sich dem mörderischen Vater zu widersetzen. Klytaimnestra, die nie damit einverstanden war, dass Agamemnon ihre Tochter Iphigenie opferte, damit es mit dem Trojanischen Krieg endlich losgehen konnte. Aber auch sie wurde später als schlechte Gattin beschimpft, die einen Liebhaber hatte, während ihr Mann zehn Jahre lang in der Ferne im Krieg und am Plündern war. Selbstverständlich spiegeln all diese mythischen Gestalten die weibliche Natur in keiner Weise wider. Und natürlich waren auch nicht alle Frauen im Mythos paranoid und Kindsmörderinnen. Es ist nur interessant zu sehen, dass einige Mythen krankhafte Vorstellungen vom Patriarchat begünstigten.«

»Und was gibt es neben der feministischen Seite sonst noch Düsteres?«

»Die Frauen waren nicht die einzigen Rechtlosen im Altertum. Wenn du als Sklave geboren wurdest, war dein Leben sicher nicht das beste. Aber auch das ist subjektiv. Es ist das eine, ein Haussklave zu sein, bei einem reichen Herrn und Bürger, der dich in sein familiäres Milieu integriert, und das andere, Sklave in den Bergwerken zu sein. Im ersten Fall hattest du möglicherweise mehr Glück als irgendein freier, aber armer Bürger. Es gab auch in gewissen Fällen die Möglichkeit, die Freiheit zu erkaufen – oder sie als ein Geschenk des Herrn zu erlangen.«

»Und war die Arbeit lebenslänglich? Hattest du gar keine Chance?«

»Nicht selten haben Herren, die ins Alter gekommen waren und das ganze Leben lang einen Sklaven hatten, einen Vertrag unterschrieben, den sie bei den Tempeln veröffentlichten – das war wie heute beim Notar – und in dem festgehalten war, dass, wenn die Zeit des Todes gekommen war, der Sklave oder die Sklavin die Freiheit erlangen sollte, die ihnen dann niemand mehr rauben konnte. Sie haben auch immer ihren Lohn erhalten. Mit dem konnten sie sich aus der Sklaverei loskaufen. In gewissen, eher seltenen Fällen war die Bindung zwischen Herrn und Sklave sehr stark. Wie zum Beispiel im Fall von Aischre. Sie war eine Sklavin aus Phrygien. Aischre war wohl der neue Name, den man ihr gegeben hatte, er bedeutete schlicht ›Frau aus dem gemeinen Volk‹. Aischre stillte einen kleinen Jungen, Mikkos, und selbstverständlich war sie auch seine Erzieherin. Als Mikkos größer wurde und die Sklavin älter, kümmerte der junge Mann sich um sie. Und als sie gestorben war, errichtete er ihr ein Denkmal: ›Mikkos hat sich um Aischre aus Phrygien ihr ganzes Leben lang gekümmert. Dieses Denkmal soll hier stehen, damit die kommenden Generationen es sehen. Die alte Frau hat das bekommen, was ihr gebührte für die Milch, die ihre Brust mir geschenkt hat.‹«

»Hör auf, Mann, das bringt mich zum Weinen!«

»Wer, glaubst du, hatte einen besseren Lebensstandard? Der treue Haussklave im Milieu des römischen Kaisers oder der freie Arbeiter, der in einem Loch zusammen mit seiner vielköpfigen Familie unter elenden Bedingungen gelebt hat?«

»Du meinst, es sei besser gewesen, Sklave zu sein?«

»Nicht im Geringsten! Die Sklaverei war eine tragische Praxis; einen Menschen seiner Freiheit zu berauben, das ist für uns unbegreiflich, die Freiheit selbst ist ein unverbrüchlicher Teil unserer Existenz. Auf der ganzen Welt gab es Kämpfe für die Aufhebung der Sklaverei. Aber global betrachtet müssen wir auch sehen, dass nicht jeder freie Mensch über eine gewisse Lebensqualität verfügt. Auch viele Griechen, die sich in Rom hervorgetan haben, waren die Sklaven von reichen Römern. Aber die Römer haben sie als Lehrer für ihre Kinder eingesetzt. Denn jede römische Familie, die etwas auf sich hielt, musste Griechisch sprechen und etwas von der griechischen Kultur verstehen.«

»Warum denn das?«

»Weil Griechenland und Rom die vielleicht seltsamste und eigentümlichste Paarung von Kulturen in der Weltgeschichte waren.«

»Das klingt interessant.«

»Ja, es ist tatsächlich beeindruckend …«