Lektion 1

Ausbildung

Es hapert am System

Kaum etwas ist so wichtig wie die Berufswahl. Während Ihrer aktiven Jahre werden Sie die meiste Zeit im Berufsleben verbringen. Anders als in der Privatsphäre können Sie bei der Arbeit nur in Ausnahmefällen frei entscheiden, mit wem Sie es tagein, tagaus zu tun haben. Nur selten können Sie sich Ihre Patienten, Schüler, Kunden, Lieferanten, Kollegen oder Vorgesetzten aussuchen. Doch diese Menschen bestimmen in hohem Maße Ihren Tagesablauf und haben großen Einfluss auf Ihr Wohlbefinden.

Egal, für welchen Berufsweg Sie sich entscheiden, ausschlaggebend ist die Wahl der bestmöglichen Ausbildung. Hier stelle ich ein totales Versagen des Schulsystems fest. Ich frage mich, was in den Köpfen der Lehrer vorgeht. Und womit verbringen die Beamten in den Schul- und Kultusministerien eigentlich ihre Zeit? Den Schülern wird viel überflüssiges Lehrmaterial über einen zu langen Zeitraum eingetrichtert. Die jungen Menschen werden nicht richtig auf die Berufswahl vorbereitet. Es kümmert das Schulsystem auch wenig, wie die Schulabgänger einen optimalen Ausbildungsweg finden sollen. Seit Jahrzehnten ist das gesamte Schulcurriculum obsolet. Es entspricht nicht den Anforderungen der Zeit.

Auch in den meisten Familien beobachte ich einen oberflächlichen und unprofessionellen Umgang mit dem Thema Ausbildung. Hier einige Beispiele familiärer Fehlentwicklungen, die mir über die Jahre aufseiten der Eltern aufgefallen sind.

Bockende Jugendliche

Der Nachwuchs bockt schlicht und einfach, sobald darüber gesprochen wird, wie es nach dem Schulabschluss weitergehen soll. Beim kleinsten Widerspruch zucken die Eltern zurück und werfen das Handtuch. Um des lieben Friedens willen wird das Thema nach ein oder zwei gescheiterten Anläufen gemieden.

Ich verstehe das Bedürfnis nach Harmonie in familiärer Runde, doch ich rate von dieser ausweichenden Haltung ab. Spätpubertäre und unreife Fehlsteuerungen bei Schulabgängern sind nicht ungewöhnlich, bei der Wahl einer Ausbildung und eines Berufes jedoch inakzeptabel. Es bleibt Ihnen in solchen Fällen nichts anderes übrig, als den Betroffenen in den Schwitzkasten zu nehmen. Einen Dank werden Sie für Ihre Beharrlichkeit allerdings (zunächst) nicht ernten.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Nichte ein Jahr vor dem Schulabschluss zu jedem Sonntagskaffee in die Zange genommen wurde. An ihrer Entschlusslosigkeit sind ihre Eltern geradezu verzweifelt. Solche Gespräche tragen nicht gerade zu einer fröhlichen Stimmung bei. Trotzdem muss der Einsatz von den Erziehungsverantwortlichen geleistet werden. Es geht um zu viel. Ein gesamtes Berufsleben steht zur Disposition. Die jungen Menschen können in der Regel die Tragweite der Ausbildungsentscheidung nicht abschätzen.

Fantastereien

Auch hier sollte man am Ball bleiben. Konkreten, aber unsinnigen Spintisierereien Ihres Zöglings hinsichtlich seines Berufsweges dürfen Sie keinesfalls blind zustimmen. Lassen Sie den jungen Menschen nicht ins offene Messer laufen. Sie ersparen sich zwar heute unangenehme Diskussionen, wenn Sie sich heraushalten, die Zeche zahlt Ihr Kind aber später im Leben. Es wird Ihnen dann womöglich schwere Vorwürfe machen.

Auf Nummer sicher

Aus Angst vor einer ungewissen Zukunft raten manche Eltern zu vermeintlich sicheren Jobs: »Geh doch am besten zum Finanzamt oder zur Stadtverwaltung. Da kann dir nichts passieren.« Auch mein Vater hatte mir 1981 aus Sorge um mein Wohlergehen zu einer Anstellung in der Innenrevision der Deutschen Bundesbank geraten. Wenn ich daran nur denke! Hüten Sie sich also davor, Ihr Kind zu manipulieren.

Engstirnigkeit

Viele Eltern haben einen eingeschränkten Blick auf das Berufsuniversum. Sie kennen nur ihr eigenes Berufsumfeld und einige wenige klassische Berufe wie Schreiner, Bäcker, Arzt, Lehrer, Anwalt, Ingenieur, Steuerberater und so weiter. In völliger Unkenntnis anderer Metiers lassen sie eine Vielzahl an beruflichen Alternativen außer Acht. So wird mit Scheuklappen schlechter Rat erteilt. Liebe und ein tiefes Mitgefühl dem eigenen Nachwuchs gegenüber ist die eine Seite der Medaille, eine passende Ausbildung professionell auszuwählen und die nötigen Schritte anzugehen, die andere.

Unangebrachte Zurückhaltung

»Meine Jüngste ist vor Kurzem 18 Jahre alt geworden. Sie muss sich jetzt selber um ihre Berufswahl kümmern. Sie ist alt genug. Mir hat damals auch keiner geholfen. Ich musste mich alleine durchschlagen. Soll sie doch machen, was sie will.« Das ist eine weitere Haltung, vor der ich warnen möchte. Da werden die lieben Kleinen jahrelang umsorgt, das ganze Familienleben dreht sich um die Erziehung. Viel Mühe wird in die Auswahl des richtigen Kindergartens, der Schulen und der Nachhilfelehrer gesteckt. Auch in die sportlichen oder musischen Aktivitäten wird viel Zeit investiert. Jahrelang rollt an Nachmittagen und Wochenenden der Familien-Chauffeurdienst. Und nun, gegen Ende der Schulzeit, lassen viele Eltern ihre Schutzbefohlenen im Regen stehen. Das ergibt doch keinen Sinn.

Ich plädiere nicht für das Helikoptereltern-Syndrom, bei dem Sie Ihrem Kind überfürsorglich alles abnehmen. Natürlich muss es zu einer (schrittweisen) Abkoppelung kommen, ansonsten ist die gesamte Erziehung verfehlt. Drei kleine Beobachtungen dazu:

  1. Der Kosmopolit Sir Peter Ustinov (Schweiz, 1921–2004) hat dazu eine schöne Geschichte. Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch lädt er seinen Begleiter auf einen Schlummertrunk an die Bar ein. Sein Freund schaut traurig drein und lehnt ab. »Sehr lieb von Ihnen, verehrter Ustinov. Das würde ich zu gerne. Aber es ist schon spät und ich muss nach Hause zu meiner Mutter.« Ustinov bemerkt dazu mit einem süßen Lächeln: Sein Freund sei 76 Jahre alt.

  2. In Italien hat sich die traditionell enge Mutter-Sohn-Verbindung bis in die Neuzeit als nationales Problem gehalten. Es ist gar nicht so selten, dass der Sohnemann auch noch mit 36 Jahren zu Hause bei Mama wohnt. Viele junge Männer stehen dermaßen unter dem Pantoffel, dass sie es nicht wagen, eine Heiratskandidatin zu präsentieren. Der Tod der Mutter wird lieber abgewartet.

  3. Geschäftsführer großer Unternehmen und deren Personalverantwortliche berichten mir, dass die Zahl der Bewerbungen mit etwa folgendem Wortlaut beständig steigt: »Meine Tochter, 17 Jahre alt, würde sich für eine Praktikantenstelle bei Ihnen interessieren.«

Abkoppelung hin oder her, ins kalte Wasser werfen oder nicht, eines sollte Ihnen als Eltern bewusst sein. Rabbi Schneerson aus Brooklyn (1902–1994) brachte es bei einem Gespräch mit einem (schon alten) Vater auf den Punkt: »Wie, Sie sind sich nicht im Klaren, ob Ihr Sohn das oder jenes tun sollte? Denken Sie immer daran: Wenn es um Ihr Kind geht, sind Sie immer involviert. Auf die eine oder andere Weise bleiben Sie gefordert. Und wenn Ihr Sohn 119 Jahre alt wird.« Dieser Gedanke hat mir immer gut gefallen.

Nun, kehren wir zur generellen Ausgangslage zurück. Warum ist die Ausbildungsfrage eigentlich für alle so wichtig? Da wir so viel Zeit unseres Lebens mit dem Beruf verbringen, ist es für unser Lebensglück von fundamentaler Bedeutung, dort gut aufgehoben zu sein. Die Weichenstellung beginnt früh mit der Wahl des Ausbildungsweges.

Die Ausbildungsschritte und das Berufsziel müssen idealerweise übereinstimmen. Dennoch führen bekanntlich viele Wege nach Rom. Es ist eine Frage der Lebensumstände und der persönlichen Möglichkeiten, wie sich Ihr Ausbildungsweg gestalten wird. Manchen von Ihnen gelingt es, schnell auf einem geraden Weg voranzukommen. Andere beschreiten immer wieder Umwege. Aber auch aus Sackgassen führt ein Weg heraus.

Entscheidend für Ihre Ausbildungsüberlegungen sind zwei Fragen:

  1. Stehen Sie eines Tages mit einem Rucksack voller Fachwissen und nützlicher Erfahrungen da oder müssen Sie konstatieren, dass das Erlernte und Erlebte nicht ausreicht?

  2. Können Sie die Erfolgsleiter erklimmen oder ist Ihnen der Weg nach oben versperrt?

Bloss keine falsche Orientierung

Seit über 25 Jahren konsultiert meine Familie eine erfahrene Berufsberaterin, wenn es um Ausbildungsfragen geht. Bei jedem Besuch wird Folgendes überprüft: Führt die angestrebte Ausbildung zu einem Beruf, mit dem der junge Mensch gute Aussichten hat, für die Miete, die Krankenkassenbeiträge, die tägliche Ernährung und sonstige Lebenshaltungskosten ein Leben lang aufzukommen?

Das ist der Ausgangspunkt aller Ausbildungsüberlegungen und daran darf auch ein großes Familienvermögen nichts ändern. Ebenso ist der Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung der Zöglinge im Vergleich zweitrangig.

Das hört natürlich niemand gerne. Gerade bei diesem Punkt knicken viele Eltern ein: »Oh nein, so eine altmodische Einstellung. Also, das brauchen wir für unsere Kinder doch nicht in den Vordergrund zu stellen. Bei dem finanziellen Rückhalt, den wir haben.« Das wird zwar nicht laut ausgesprochen, aber so denken viele. Sehenden Auges lassen sie zu, dass ihre Kinder fragwürdige Studienfächer wählen. Worauf das Studium beruflich hinauslaufen könnte, ist dabei unklar. Trotzdem fördern und unterstützen viele Eltern einen solchen Weg. Mit einem großzügigen Monatssalär und einer teuren Wohnung wird der Student verwöhnt. Die Devise lautet: Hauptsache an die Universität. Voller Stolz wird dann im Bekanntenkreis verkündet, man habe einen angehenden Akademiker in der Familie.

Das richtige Stichwort muss lauten: Qualifikation. Die Zeit vergeht rasend schnell. Eben noch ein Schulabgänger, grün hinter den Ohren, und ehe man sichs versieht, ist das Bachelorstudium absolviert. Kurz darauf ist auch der Masterstudienabschluss in der Tasche. Genauso schnell geht eine Ausbildung vorbei und im Handumdrehen ist die Meisterklasse abgeschlossen.

Dann stellt sich die unbarmherzige Frage nach der Brauchbarkeit des Erlernten, eben die Frage der Qualifikation. Was kann der nunmehr erwachsene Mensch, was er vor Kurzem noch nicht konnte? Wer sich echtes Know-how und nützliches Wissen angeeignet hat, kann mit einer gewissen Unangreifbarkeit im Berufsleben rechnen. Ganz gleich, ob er als Angestellter oder als Selbstständiger arbeiten wird.

Die Arbeitswelt teilt sich in zwei Gruppierungen:

In der ersten Berufskategorie treffen wir auf Menschen mit konkreten Befähigungen. Sie können beispielsweise einen vereiterten Fußnagel behandeln. Sie sind als Unfallsanitäter im Rettungswagen unterwegs. Sie reparieren Heizungen und bringen tropfende Wasserhähne zum Stillstand. Vor Gericht erstreiten sie die Rechte ihrer Mandanten, im Notariat erstellen sie komplizierte Kaufverträge und Urkunden. Es sind aber nicht nur handwerkliche oder fachbezogene Kenntnisse, welche den Vorsprung für diese Menschen ausmachen. Manchmal kommen andere Faktoren zum Zuge, wie Sprachkenntnisse oder eine gewinnende Persönlichkeit, auf denen der Erfolg basiert. Dazu ein Beispiel:

Ein mittlerweile verstorbener Freund meiner Familie wurde als junger Exportkaufmann nach dem Zweiten Weltkrieg in einem altehrwürdigen Handelshaus eingestellt. Die früheren Geschäftsinteressen in einer afrikanischen Kolonie mussten reaktiviert werden. Diese waren kriegsbedingt teils eingefroren, teils verloren gegangen.

Unser Freund war der Einzige im Kontor, der perfekt Französisch sprach. Ohne viel Federlesens wurde er mit einem One-Way-Ticket in der Tasche per Dampfer, ohne Hotelbuchung, auf den Weg geschickt. Dank seiner ausgezeichneten Sprachkenntnisse und seiner sympathischen Art gelang es ihm, private Geschäftsverbindungen zu wichtigen Persönlichkeiten des Landes aufzubauen. Diese Kontakte pflegte er ein Leben lang mit großem Einsatz.

Im Laufe der Jahre wurde er zu einem der erfolgreichsten deutschen Afrikakaufleute und brachte es zu großem Wohlstand. Als normaler Büroangestellter in der Firmenzentrale in Bremen wäre er sicher verkümmert.

Mit der zweiten Gruppierung der Berufswelt verhält es sich folgendermaßen: Ich möchte niemandem zu nahe treten, aber wenn ich mir Universitätsfächer wie English Studies, Soziologie, Politologie und Ähnliches anschaue, stelle ich mir die Frage: Wo ist das Fundament für eine nachhaltige Lebensgrundlage? Was ist mit einer krisenresistenten Beschäftigung? Sicher gibt es Ausnahmen, aber grundsätzlich sehe ich hier ein enormes Risiko. Studienabsolventen solcher Fächer liefern sich den Faktoren »Zufall« und »glückliche Umstände« aus. Es handelt sich um Ausbildungen, die ihre Berechtigung in einer Wohlfahrtsgesellschaft haben. Der Arbeitsplatz basiert in vielen Fällen auf staatlichen Stellenprogrammen. Das ist eine gefährliche und einseitige Abhängigkeit.

Bei allem Optimismus, mit dem ich in die Zukunft schaue, kann ich Ihnen eines versichern: Jede Generation wird mindestens eine gewaltige Krise zu überstehen haben. Das lehrt uns die Geschichte. Auch in Ihrem Leben und dem Ihrer Kinder wird das so sein. Im Laufe eines langen Lebens werden Sie sich substanziellen Veränderungen und gesellschaftlichen Erschütterungen ausgesetzt sehen. Dann kommt die Berufsfrage auf den Tisch: Was können Sie eigentlich? Wozu können Sie beitragen? Warum sollte ein Unternehmen gerade Sie einstellen?

Spielen wir den Gedanken einmal durch. Im Chaos eines ökonomischen Zusammenbruchs funktionieren nur noch Tauschhandel und Schwarzmarkt. Das ist in allen Kulturen so. Diejenigen, die solche Zustände nicht erlebt haben, können es sich nur schwer vorstellen:

Klären Sie frühzeitig ab, wohin Sie Ihre gewählte oder absolvierte Ausbildung führen kann. Schauen Sie dabei mit dem linken Auge kritisch in eine ungewisse Zukunft. Endet es damit, dass Sie zur großen Manövriermasse der Bevölkerung gehören werden, abhängig von einem gesellschaftlichen System der Versprechungen? Nun, dann würde ich mir an Ihrer Stelle noch einmal ein paar Gedanken machen. Mit einem Federstrich der Weltgeschichte, mit technischen Neuerungen oder mit politischen Veränderungen kann Ihre Lebensplanung ansonsten wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

Beispiele solch trauriger Schicksale erlebte ich auf einer Delegationsreise in St. Petersburg im Jahr 1992. Ich begegnete einst mächtigen Ministern des Sowjetregimes, die arbeitslos und finanziell angeschlagen kaum über die Runden kamen. Ihr noch kürzlich begehrtes Sowjetpolitwissen war nun nichts mehr wert.

Die Zauberformel »Talent + Neigung«

Gehen wir nun einen Schritt weiter und betrachten das Thema Ausbildung und Beruf aus der Perspektive Ihrer individuellen Persönlichkeit. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer einfachen und logischen Überlegung. Bei Ihrer Berufswahl und den dazu passenden Ausbildungsschritten müssen zwei Kriterien in Übereinstimmung gebracht werden:

  1. Ihr Talent (Ihre Begabung) und

  2. Ihre Neigung (Ihr Charakter/Ihre Natur)

Das ist das A und O, quasi die Zauberformel. Bei Menschen, die scheinbar federleicht und erfolgreich durchs Leben schreiten, sind in der Regel diese beiden Punkte erfüllt.

Finden Sie heraus, wo Ihr Talent und Ihre eigentliche Natur liegen. Es lohnt sich, diese beiden Wesenszüge genauer zu betrachten. Einigen Menschen fällt das leicht. Sie besitzen instinktiv eine sichere Wahrnehmung ihrer selbst oder sind in den Genuss einer umsichtigen Erziehung gekommen. Vielleicht sind sie aber auch in einem feinfühligen Umfeld aufgewachsen. Der Modezar Karl Lagerfeld (Hamburg/Paris, 1933–2019) ist in der Beziehung zu seiner weitsichtigen und großzügigen Mutter hier ein gutes Beispiel. Den meisten Menschen fällt jedoch die Analyse ihrer selbst schwer. Sie sind dazu nicht erzogen worden, sie empfinden den Zugang zu ihrer Persönlichkeitsstruktur als Buch mit sieben Siegeln. Diese Menschen brauchen mehr Zeit, wahrscheinlich bedürfen sie sogar professioneller Hilfe.

Das ist im Übrigen keine Fragestellung, die nur Schulabgänger und Berufseinsteiger betrifft. Es lohnt sich, alle 10 bis 15 Jahre die Frage nach Ihrem Talent und Ihrer eigentlichen Neigung erneut zu beantworten. Die Bewältigung mancher Lasten führt zu einer tieferen Selbsterkenntnis. Vielleicht werden Sie feststellen, dass Sie sich in manchen Punkten über die Zeit verändert haben.

Einen Ausbildungsweg anzutreten, ohne Ihre Zauberformel »Talent + Neigung«, also Ihre Begabung und Ihren Charakter, gründlich untersucht zu haben, ist ein nicht vertretbares und noch dazu unnötiges Risiko. Bei der Wahl Ihres Berufes ist es eine Sünde, diesen Aspekt außer Acht zu lassen. Ich kann nur jedem empfehlen, bei diesem Thema Hilfe in Anspruch zu nehmen, es ist eine der besten Investitionen.

Es geht dabei nicht so sehr darum, ob Sie Ihren Job einigermaßen bewältigen können, sondern vielmehr um die Frage, ob Sie ein Leben lang beruflich im tiefsten Inneren happy , also zufrieden, sein werden. Ihren Beruf souverän ausüben zu können, ohne Verkrampfung und Selbstzweifel, das ist die Herausforderung. Schauen wir uns das anhand von ein paar Beispielen näher an:

Ich glaube, Sie verstehen nun, warum dieses Duo – Talent und Neigung – so wichtig ist. Es ist tragisch, dass es bei der Berufswahl so selten berücksichtigt wird.

Individualität

Das System, wie Menschen generell an das Thema ihrer Lebensplanung herangeführt werden – sei es von der Familie oder von der Schule aus –, ist grundverkehrt aufgezäumt. Die komplexe Struktur der Individualität des Einzelnen wird zu wenig ins Kalkül miteinbezogen. Stattdessen landen viele Menschen unversehens in Schablonen und uniformen Mustern, ohne es zu merken. Sie bekommen im Beruf eine Jacke übergestülpt, die nicht auf ihrem Wunschzettel stand. Und aus dieser kommen sie nur schwer heraus – wenn es ihnen überhaupt gelingt.

Es verwundert nicht, dass es in so vielen Lebensläufen zum Kladderadatsch kommt. Die Symptome können vielfältiger Art sein:

Doch dies hat nichts mit der Außenwelt zu tun. Frust und Kummer haben diese Menschen sich selbst zuzuschreiben. Ihre Verärgerung ist das Ergebnis der Missachtung der beiden entscheidenden Komponenten. Falsch positioniert, haben sie ihr Talent und ihre eigentliche Natur ignoriert. Und nun wird ihnen die Quittung präsentiert.

Rat einholen

Selbst wenn Sie sich bei der Berufswahl Ihrer Sache sicher sind, sollten Sie sich vor Ihrer endgültigen Entscheidung für einen bestimmten Ausbildungs- und Berufsweg Rat einholen.

Ich selbst bin das beste Beispiel dafür, wie man es hätte besser anstellen können. In meinem Fall schien von Kindesbeinen an alles klar. Bei mir gab es keinen Beratungsbedarf. So meinte ich jedenfalls, denn ich hatte von klein auf ein Faible für die Welt der Finanzen. Die Banklehre und das anschließende Studium samt Promotion fielen mir nicht schwer. In den Jahren nach dem Studium entwickelten sich manche Träume und ich beschritt viele berufliche Irr- und Umwege. Das hat mich viel Zeit gekostet; zumindest habe ich das so empfunden.

Aus heutiger Sicht bin ich mir sicher, dass eine gründliche Analyse meiner Persönlichkeitsstruktur damals zu einem optimaleren Berufsweg geführt hätte: bloß nicht studieren, sondern gleich nach der Lehre in die Börsenabteilung einer Bank und von da aus schnurstracks in die Welt der Investments.

Ich hatte das Glück, dass ich dank eines guten Schicksals immer wieder zu meinem eigentlichen Talent und meiner Neigung – dem Investieren als unabhängiger Privatier – zurückgeführt wurde. Stets meiner inneren Stimme folgend, hatte ich den Mut, mich auf meinen verschiedenen Berufsstationen nicht korrumpieren zu lassen. Ich habe meine eigentliche Berufung nie aus den Augen verloren, egal, wie viel Kraft es mich gekostet hat und wie schwierig es auch war.

Als ich mich meinem New Yorker Geschäftsfreund, dem prominenten Investor Guy Wyser-Pratte (82 Jahre) im Jahre 2001 anvertraute, wie traurig es doch sei, dass ich mich erst im Alter von 42 Jahren als Investor selbstständig gemacht hatte, war er überhaupt nicht überrascht. Angesichts meines familiären Umfelds bestehend aus Beamten und Juristen war für ihn der Fall eindeutig: »Es war schwer für dich, du hattest ja nicht den richtigen Rat.«

Unternehmen Sie als Berufsanfänger jede Anstrengung, der Zauberformel »Talent + Neigung« auf die Spur zu kommen. Beschäftigen Sie sich mit der Thematik. Falls Sie beruflich schon weiter fortgeschritten sind: Auch für Sie ist das ein Muss!

Beschreiten Sie andere Wege

Schauen wir uns nun die Zeit direkt nach dem Schulabschluss an.

Nach dem langen Drücken der Schulbank ist es ein Gebot der Stunde, die Praxis draußen in der Welt kennenzulernen. Dazu reichen Praktika von wenigen Wochen nicht aus. Wenn es nach mir ginge, sollten junge Menschen zunächst eine Lehre absolvieren, denn das Ausbildungsangebot ist vielfältig:

Der Katalog an Offerten für eine Lehrzeit ist breit gefächert. Alle Ausbildungen sind mit einer fundierten Berufsschulbegleitung hierzulande hervorragend organisiert. Staatliche Prüfungen bilden den Abschluss. Eine solche Lehrzeit bietet die beste Möglichkeit, innerhalb von nur zwei bis drei Jahren die Realität des Berufsalltags kennenzulernen. Danach weiß der junge Mensch schon viel besser, wohin er gehört und – noch viel wichtiger – wo er auf gar keinen Fall enden will.

Doch derzeit werden zu viele Schulabgänger seitens des Elternhauses, der Lehrer oder des Freundeskreises regelrecht an die Universität gezwungen. Auf die wahre Begabung und Veranlagung der Heranwachsenden wird zu wenig Rücksicht genommen. Der Sohn unseres Nachbarn musste sich anhören: »Du hast doch ein Abitur mit Note 1,8. Warum gehst du dann auf die Fachhochschule? Geh doch auf die Universität!« So ein Umfeld wünsche ich Ihnen nicht, denn der potenzielle langfristige Schaden ist gar nicht abzuschätzen.

Gründliche Ausbildungszeit

Von der vermeintlichen Alternative zu einer Lehre – dem sogenannten Training on the Job – rate ich ebenfalls ab. Das wäre mir als Ausgangsbasis zu dünn. Dabei wird dem Berufseinsteiger fix erklärt, was bei der Arbeit zu tun ist, welchen Knopf er zu drücken hat, welche Buchungsnummern einzusetzen sind und so weiter. Und schon läuft die Kiste. Im Nullkommanichts ist der Berufseinsteiger in einem lukrativen Job gelandet. Wozu also überhaupt eine lange Ausbildung absitzen?

Hier sollten Sie vorsichtig sein und längerfristig denken. Passen Sie auf, dass Sie mit so einem Training on the Job als Berufseinstieg nicht in einer Sackgasse landen. Später fehlt Ihnen womöglich das Verständnis für die größeren Zusammenhänge, Ihr berufliches Fundament bleibt eingeschränkt und ist eventuell zu schwach. Es wäre bedauerlich, wenn Sie eines Tages zum Fachidioten auf Ihrer Arbeit abgestempelt würden. Der schnelle Einstieg bei guter Bezahlung ist verführerisch, doch das ist ein gefährliches Pflaster. Eventuelle Limitationen sind schwer zu überwinden. Typischerweise werden Sie später bei Beförderungen übergangen und stoßen bei Ihrer Karriere an eine Decke. Reuevoll schauen Sie dann zurück: »Hätte ich damals bloß mehr in meine Ausbildung investiert!«

Wanderjahre

Nach absolvierter Ausbildung sollten »Wanderjahre« folgen, als Pflichtprogramm für jeden. Das meine ich im weiteren Sinne unabhängig davon, ob Sie eine Lehre oder ein Studium abgeschlossen haben. Je früher Sie unterschiedliche Arbeits- und Firmenkulturen sowie verschiedene Organisationsabläufe und Arbeitsweisen kennenlernen, desto besser.

Wenn Sie von Anbeginn nur bei einem Arbeitgeber tätig sind:

Mit den Wanderjahren eröffnet sich Ihnen die Möglichkeit, sich mit Ihren Fähigkeiten und Ihren beruflichen Wünschen richtig einzuordnen. Vielleicht merken Sie erst dann, dass Sie gewisse Defizite und Beschränkungen im Vergleich zu Ihren Kollegen haben. Das sind oft Bremsklötze, mit denen Sie in der Schulzeit oder in der Familie aufgewachsen sind. Wenn Sie diese Mankos identifizieren, haben Sie die Möglichkeit, sie frühzeitig auszugleichen.

Geben Sie sich jedoch nicht der Illusion hin, dass jeder, der auf eine Art Wanderschaft geht, auch automatisch eine Horizonterweiterung erfährt. Mein Großvater hatte in seinem Betrieb häufig junge Mitarbeiter, die für ein Jahr in der Branche um die halbe Welt geschickt wurden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie er hin und wieder den Kopf schüttelte und zu mir sagte: »Der Meier war jetzt so lange in der Fremde unterwegs. Stell dir vor, er ist mit dem gleichen Kragen zurückgekehrt.«

In der Regel wird sich die Horizonterweiterung in Ihrer Ausbildung für Sie auszahlen. Sie ist in jedem Fall eine gute Methode, die Arbeitswelt in all ihren Facetten kennenzulernen und zu erfahren, dass Arbeit zum Leben gehört. Unter Umständen haben Sie dies zu Hause so nicht vermittelt bekommen. Arbeiten zu dürfen, ist etwas Positives und Konstruktives. Sie sollten alles daransetzen, Ihre berufliche Tätigkeit in diesem Lichte zu sehen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihre Arbeit als Bereicherung empfinden.

Vielen Menschen gelingt das leider nicht. Wer den gesamten Ausbildungs- und Berufskomplex falsch angeht, ist oftmals frustriert und flüchtet sich ins Jammertal. Davon halte ich nichts. Von dem verbreiteten Phänomen des Eskapismus in das vermeintlich schönere Privatleben ist ebenfalls abzuraten. Als Resultat kommt dabei der »Freizeitmensch« heraus. Es ist ein bedenklicher Giftcocktail, sich durch den Beruf zu wursteln und sein Seelenheil in der Freizeit zu suchen.

Noch einmal: Die Herausforderung besteht nicht darin, einen Job irgendwie zu packen. Ob Sie in der Lage sind, die übertragenen Aufgaben zu bewältigen, stellt sich schnell heraus. Langfristig geht es darum zu vermeiden, dass Sie sich zur Arbeit schleppen müssen. Ihre Zeit am Arbeitsplatz muss einen Sinn für Sie ergeben. Eines schönen Tages aufzuwachen und sich zu fragen: »Was mache ich hier eigentlich?«, ist doch eine schreckliche Vorstellung.

Nach der ersten Euphorie

Eine verfehlte Bestimmung in Ihrer beruflichen Laufbahn stellt sich oft erst spät heraus. Typischerweise herrschen nach den ersten Berufsjahren Euphorie und Zuversicht. Die Aussichten und Perspektiven sind verlockend. Junge Leute sind populär und werden gesucht, mit der Karriere geht es zügig voran. Man ist auf Sie aufmerksam geworden. In der Firma und in Ihrer Familie sind sich alle einig: Sie gehören zur Kategorie young and hopeful , Sie haben den Marschallstab im Tornister.

Manche Organisationen und Firmen leisten sich einen regelrechten Goldfischteich an Kadernachwuchs, den sie mit verlockenden Perspektiven bei Laune halten. Einige Privatuniversitäten arbeiten mit solchen Unternehmen häufig Hand in Hand. Investmentbanken, Unternehmensberatungen und Start-ups sind als Arbeitgeber bei Karrieristen beliebt. Die Bezahlung für Berufsanfänger ist fürstlich und die Nachwuchskräfte werden von der Dynamik enthusiastisch mitgerissen. Es winkt das gelobte Land der Topjobs.

Doch der abverlangte Arbeitseinsatz ist brutal. Für ein Privatleben bleibt keine Zeit. Nachts fallen die jungen Leute todmüde ins Bett. Eine Weile geht das gut. Irgendwann wird vielen bewusst, dass sie wie Hamster im Käfig gefangen sind. Sie funktionieren nur noch im Tretrad. Nach und nach schleicht sich ein ungutes Gefühl ein. Sie sind doch so gut gestartet. Irgendetwas hat sich aber nicht erwartungsgemäß entwickelt. So hatten sich die Nachwuchsmanager das nicht gedacht.

Falls Sie in eine solche Situation geraten, dann hilft Folgendes:

Das ist der Moment, in dem Sie überprüfen müssen, ob Sie an dem vorgezeichneten Weg auf Dauer Freude haben werden. Klären Sie, ob diese Aussichten Ihre Seele zum Schwingen bringen. Haben Sie ein Lächeln im Gesicht, wenn Sie an Ihre Karriereaussichten denken? Werden Sie so Ihr Talent und Ihre Neigung zum Einsatz bringen können?

Haben Sie keine Angst davor, Ihren Berufsweg zu verändern. Das hat selten geschadet. Mir kommen ein paar Beispiele zur Veranschaulichung in den Sinn:

Die Devise lautet: keine Bange vor Veränderungen. Neue Herausforderungen halten jung und sind das Salz des Lebens. Investieren Sie – wenn nötig – in eine Zusatzausbildung, um Ihrem beruflichen Dilemma zu entkommen. Die Wege sind vielfältig, beispielsweise für

Drei Empfehlungen

Für Ihre lebensbegleitende Ausbildung lege ich Ihnen folgende Punkte ans Herz:

  1. Reisen Sie mindestens alle zwei Jahre in eine Region, in der Sie vorher noch nie waren. Haben Sie keine Angst vor fremden Kulturen. Sammeln Sie bewusst neue Erfahrungen.

  2. Besuchen Sie interessante Seminare. Vorsicht jedoch, dass Sie nicht zu einem ewigen Seminaristen werden. Das kann zu einer Art Sucht werden. Dazulernen ist gut, aber Sie müssen nach einer Weile aus dem erweiterten Fachwissen einen Nutzen ziehen und das Erlernte in Ihrem Beruf mit Gewinn anwenden. Wählen Sie mit viel Sorgfalt passende Seminare aus, denn Ihre Zeit ist kostbar. Wenn Sie es richtig machen, werden Sie von manchem Seminarinhalt ein Leben lang profitieren. Da lohnt sich jede Teilnahmegebühr.

  3. »Ohne Mentor schön dumm«, so habe ich es in meinem zweiten Buch, Dieses Buch ist bares Geld wert, in einem Kapitel beschrieben. Gehen Sie den Berufsweg nicht mutterseelenallein. Treten Sie nicht in jedes Fettnäpfchen, sondern machen Sie sich die Erfahrung anderer Menschen zunutze. Suchen Sie sich einen Mentor. Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, wie viele der besonders erfolgreichen Unternehmer mit einem Mentor hinter den Kulissen arbeiten.

Das Ziel im Auge behalten

Falls Ihre Ausbildung nicht optimal verlaufen sollte, lassen Sie sich nicht gleich von Ihrem eigentlichen Berufsziel abschrecken. So mancher Praktikant oder Lehrling ist vom richtigen Berufswunsch abgekommen, nur weil er in einer schlecht organisierten Firma oder Abteilung mit miserablem Betriebsklima gelandet ist. Ein junger Hörgeräteakustiker, der in einem altmodischen Hörgeräteladen an einem langweiligen Ort arbeitet, sollte sich nicht davon abhalten lassen, an seinem hochgesteckten Ziel festzuhalten: eines Tages in der Direktion eines internationalen Hörgeräteherstellers in der Schweiz zu arbeiten. Sein Jahresgehalt soll eine Million Schweizer Franken betragen.

Sie halten das für unrealistisch? Aus meiner langen Berufserfahrung versichere ich Ihnen: Im Leben können Sie (fast) alles erreichen. Die richtige Ausbildung ist der Anfang.