Lektion 6

Werteordnung

Schaffen Sie Ihre eigene Werteordnung

In den ersten fünf Lektionen haben wir wichtige Aspekte für Ihr Leben und Ihren Beruf besprochen. Rekapitulieren wir diese noch einmal. Sie haben die richtigen Grundlagen mit Ihrer Ausbildung gelegt, Ihre Bildung erweitert – Sie besitzen Schliff und Niveau –, Ihren Beruf so ausgesucht, dass er zu Ihrer Leistungsfähigkeit passt, den festen Willen, Ihre gesteckten Ziele zu erreichen, und ein Geschäftsmodell gefunden, mit dem Sie Ihr Potenzial an Können und Wissen optimal nutzen können.

So weit, so gut. Doch für ein erfülltes Leben fehlt noch eines: Ihre Werteordnung. Sie können auch einen anderen Begriff verwenden, zum Beispiel innere Haltung, Moral oder ethische Weltanschauung. Das sind alles große Worte. Mir geht es an dieser Stelle aber nicht um hochtrabende Ideale, sondern um die konkrete Umsetzung eines Wertekatalogs. Das ist eine Herausforderung, vor der sich viele Menschen drücken, denn bei der Wahl Ihres Wertekanons sind Sie ungebunden. Es steht Ihnen also frei, sich der Thematik zu entziehen.

Bei den vorangegangenen Lektionen haben Sie gelernt, mit verschiedenen Einschränkungen umzugehen und diese klug auszugleichen:

Bei Ihrem Wertekatalog haben Sie freie Bahn. Umso wichtiger ist es, dass Sie diese einmalige Chance zur freien Gestaltung nutzen. Denn mit Ihrem Wertekatalog setzen Sie den Rahmen, innerhalb dessen Sie bereit sein werden, Ihre Ziele zu verwirklichen. Aus meiner Sicht ist es ein großes Manko, ohne eine feste Werteordnung durchs Leben zu gehen. Wir brauchen Halt, festen Grund unter den Füßen, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden.

Der altmodische Begriff »Seelenfrieden« trifft es ganz gut. Die standardisierte Lehrauffassung, dass es beim Erfolg allein auf Durchsetzungskraft ankommt, ist falsch. Wenn Sie Ihren Berufsweg an der sogenannten Ellenbogengesellschaft ausrichten, werden Sie sich irgendwann in einer Sackgasse wiederfinden. Das Gefühl eines zufriedenen Gesamterfolgs werden Sie so nicht erleben. Je mehr Lebenserfahrung Sie sammeln, umso sicherer sollten Sie sich mit Ihrem Wertekatalog fühlen.

Achten Sie darauf, dass Sie nicht zum Spielball manipulativer Kräfte werden. Es wäre ein Fehler, sich passiv von den Wellen des Schicksals treiben zu lassen. Ihre Werteordnung kann Ihnen nicht aufgezwungen werden, auch nicht in einer Diktatur, aber nur, wenn Sie eine gefestigte innere Haltung gewonnen haben. Der Neurologe, Psychiater und KZ-Überlebende Viktor Frankl (Österreich, 1905–1997) beschreibt die Gefahr sehr treffend, die mit einer fehlenden Werteordnung des Einzelnen einhergeht:

»Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muss, noch wissend, was er soll, scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er will. So will er nur das, was die anderen tun – Konformismus! Oder er tut nur das, was die anderen wollen – Totalitarismus!«

Professor Viktor Frankl gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Ich kann Ihnen die Lektüre seiner beiden Bücher Über den Sinn des Lebens und Trotzdem Ja zum Leben sagen wärmstens empfehlen.

Mit Rückgrat und einer aktiven Reissleine

Meine gute Bekannte aus Budapest hat von ihrer Großmutter, einer ehemaligen Baroness, gelernt: »Reich und unabhängig ist, wer ein Rückgrat hat.« Diese Ansicht teile ich voll und ganz. Das Gleiche haben mich auch meine Berufsjahre gelehrt. Doch wie werden Sie sich Ihres Rückgrats überhaupt bewusst? Und wie behalten Sie Ihr Rückgrat angesichts von Druck, Nötigung und Versuchungen, denen Sie im Laufe Ihrer Berufslaufbahn ausgesetzt sein werden? Die Antwort ist einfach: Sie brauchen eine Reißleine. Diese sollten Sie immer bei sich führen.

Ich unterscheide zwischen einer aktiven und einer passiven Reißleine. Ihre aktive Reißleine zügelt Ihren eigenen Vorwärtsdrang und verhindert, dass die Pferde mit Ihnen durchgehen. Mit einer passiven Reißleine haben Sie ein Regulativ für Ihr Verhalten in Bezug auf Geschehnisse, die um Sie herum passieren.

Starten wir mit Ihrer aktiven Reißleine.

Unterstellen wir, Sie sind aufgrund Ihrer beruflichen Position »am Drücker«. Dann geht es um die Fragen:

Es ist unausweichlich in einem langen Berufsleben, dass der Tag kommen wird, an dem Sie Ihr wahres Gesicht zeigen müssen. Deshalb empfehle ich Ihnen, sich früh eine aktive Reißleine zuzulegen. Ansonsten sind Tür und Tor geöffnet. Ehe Sie sichs versehen, sind Sie in Umstände geschlittert, die Sie später bereuen werden.

Schauen wir uns exemplarisch ein paar Situationen an, in denen Menschen vor die Wahl gestellt wurden, sich dem Machtmissbrauch hinzugeben oder mit einer aktiven Reißleine auf theoretisch mögliche Handlungen zu verzichten:

Als Angestellter auf Ihrem zielstrebigen Weg zur Hierarchiespitze ebenso wie als selbstständig Tätiger im Aufbau eines großen Firmenvermögens werden Sie die Frage zu beantworten haben: Sind Sie willens, skrupellos über Leichen zu gehen? Welche Kollateralschäden werden Sie billigend mit einkalkulieren?

Bösartiges Schikanieren

Das bösartige Schikanieren von vermeintlich abhängigen Mitmenschen hat eine lange Tradition. Dieses Phänomen ist mir in verschiedenen Schattierungen begegnet.

Ich möchte nicht als ein bigotter Moralist erscheinen. Viele von Ihnen werden unschöne Charakterzüge weit von sich weisen. Schließlich sind Sie ein anständiger, gut erzogener Mensch. Wie ist es aber wirklich um Ihre Tugendhaftigkeit bestellt?

Eines der einprägsamsten Beispiele, wie Menschen hinund hergeworfen werden, die sich im guten Glauben auf die Obrigkeit verlassen, ist der Schießbefehl an der DDR-Mauer. Die alte sozialistische Funktionärsriege der ehemaligen DDR hatte im Jahr 1961 eine Mauer zwischen West- und Ostdeutschland errichten lassen. Entlang der Grenze wurden im engen Abstand Wachposten eingerichtet, die Tag und Nacht besetzt waren. Das Wachpersonal rekrutierte sich aus Soldaten der Nationalen Volksarmee. Es ging darum, die DDR-Bürger daran zu hindern, zum sogenannten Klassenfeind überzulaufen – das waren die westdeutschen Bürger. Zum »Schutz« des DDR-Regimes hatten die Soldaten die »ehrenvolle Aufgabe«, auf jeden zu schießen, der versuchte, über die Mauer zu klettern. Bis zum Jahr 1989 wurden schätzungsweise 140 bis 245 Menschen beim Fluchtversuch erschossen, unzählige Personen wurden angeschossen und danach jahrelang inhaftiert.

Der gesamte Wachschutz-Schießbefehl-Apparat funktionierte jahrzehntelang »vorbildlich«. Die dort eingesetzten Soldaten erfreuten sich hoher Anerkennung seitens der Regierung. Ihnen war der Dank für ihren Einsatz im Kampf gegen die kapitalistische Bedrohung des Arbeiter- und Bauernstaats (wie die DDR sich nannte) sicher. Im November 1989 brach das SED-DDR-Regime zusammen. Westdeutschland und Ostdeutschland wurden zusammengeführt. Einen Klassenfeind gab es nicht mehr. Von heute auf morgen hatten die Mauersoldaten einer falschen Sache gedient. Aus ehemals verdienstvollen Beamten und Nationalhelden wurden über Nacht de facto Mörder.

Wer sich mit dem Thema der Konsequenzen eines politisch vorgegebenen Wertewandels näher beschäftigen möchte, dem ist die Betrachtung der Lebensläufe zweier prominenter Politiker zu empfehlen:

Beide Spitzenpolitiker wurden von ihrem vollzogenen Wertewandel, der aus ihren Machenschaften während der NSZeit resultierte, spät im Leben unerbittlich und aus meiner Sicht völlig zu Recht eingeholt.

Ihre passive Reißleine

Bei der passiven Reißleine geht es um Ihren Standpunkt im Verhältnis zu dem, was Sie in Ihrer direkten Umgebung erleben. Das betrifft Fragen wie:

Je gefestigter Ihre innere Haltung ist, desto besser. Ansonsten wird es Ihnen schwerfallen, die nötige Courage aufzubringen. Und dann ist es um Ihr Rückgrat geschehen.

Zwängen und Repressalien können Sie nur mit einer ordentlichen Portion Mut begegnen. Der deutsche Regisseur und Emigrant Erwin Piscator (1893–1966) formulierte es treffend: »Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.« Mut ist das Geheimnis der Freiheit. Wenn Sie auf der falschen Veranstaltung gelandet sind, dann nützt es nichts, die Augen zu verschließen. Auf Dauer wird es richtig ungemütlich. Sich etwas vorzumachen nach dem Motto »Das wird schon alles nicht so schlimm werden«, »Sicher war das alles nicht so gemeint, die werden schon wissen, was sie da anordnen« oder »Ja, aber es hat auch ein paar gute Seiten« ist nichts anderes als eine Verdrängung der Wahrheit. Sich als Mitläufer heimlich zu schämen, bringt Sie auch nicht weiter. Mit Ihrer passiven Reißleine geraten Sie erst gar nicht in die missliche Melange aus schlechtem Gewissen, Selbstbetrug und Feigheit.

Das Gefährliche ist der schleichende Prozess, mit dem Menschen ohne eigenen Wertekanon peu à peu orientierungslos abrutschen. Ich möchte hier den evangelischen Theologen Martin Niemöller (Deutschland, 1892–1984) zitieren:

»Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.«

Auch in der Großindustrie habe ich erlebt, dass auf der oberen Führungsebene weggeschaut wurde. Ich weiß noch genau, wie ich den geschäftsführenden Gesellschafter einer bedeutenden Unternehmensgruppe auf Missstände in der Personalführung aufmerksam machte. Er hörte sich alles ruhig an und sagte dann: »Sie haben ja recht, Herr Elsässer, aber am Ende kümmere ich mich nur darum, dass der ganze Laden läuft. Was meine Leute da so treiben, ich höre es zwar, aber mich interessiert es nicht.« Kein Wunder, dass seine Haltung des Ignorierens sich verheerend auf die Unternehmenskultur auswirkte.

Auf allen Hierarchieebenen werden Sie in verschiedenen Situationen vor die Frage gestellt werden: Können Sie das noch länger mitansehen?

Das sind alles Punkte, bei denen Sie mit Ihrer Werteordnung gefordert sein werden. Sie haben stets zwei Alternativen. Entweder Sie ziehen Ihre passive Reißleine oder Sie werden zum Duckmäuser und vielleicht sogar zum Mittäter.

Und was tun Sie, wenn Sie eines Tages selbst betroffen sind und ins Fadenkreuz genommen werden?

Das Einzige, worauf Sie sich in solchen Situationen verlassen können, ist Ihr eigener Wertekatalog. Er sagt Ihnen, wann und wie die Reißleine zu ziehen ist. Erwarten Sie in kniffligen Lagen keine Unterstützung vonseiten Dritter. Im Gegenteil, da werden Sie allerhand zu hören bekommen: »Reiß dich doch mal zusammen«, »Du bist halt auch wirklich zu undiplomatisch«, »An deiner Stelle würde ich mal schön den Mund halten, bei der Wirtschaftslage« oder »Das Leben ist kein Wunschkonzert«.

Ich erinnere mich genau an solch eine Enttäuschung. Geschlagen wie ein Hund kam ich aus einer Präsentation. Ich war von weit angereist und hatte die politischen Strömungen in der Hauptverwaltung nicht mitbekommen. Mit viel Engagement hatte ich mich vorbereitet. Zu meinem Entsetzen musste ich während meines Vortrages feststellen, dass man mich hinterlistig ins Messer laufen ließ. Man hatte mir übel mitgespielt. Keiner der Anwesenden sagte gegen die gehässigen Argumente des Vorsitzenden auch nur einen Ton. Alle schauten betreten drein. Sie spürten, dass der »Todesengel« über mir kreiste.

Als ich deprimiert aus dem Vortragssaal trat, vertraute ich mich meinem englischen Kollegen an. Er musste als Nächster präsentieren. Ich hatte auf ein Wort des Trostes oder ein Gefühl der Empathie gehofft. Stattdessen grinste er nur scheinheilig: »Du hast deine Sorgen, ich habe meine.« Ihm kam mein Ungemach gerade recht. Er sah in mir offenbar einen Konkurrenten.

Doch auch im gesellschaftlichen Leben lauern gefährliche Untiefen für Menschen, die ohne Reißleine und ohne Werteordnung unterwegs sind:

Der Sog der Massenhysterie

Seien Sie vorbereitet, wenn es heißt: »Da bist du doch auch dabei.« Je lauter die Fanfaren klingen, je freudiger die Fahnen geschwenkt werden, umso mehr brauchen Sie eine Reißleine. Die Geschichte lehrt uns, dass allzu großer Enthusiasmus im Rausch der gemeinschaftlichen Glückseligkeit, häufig in die Irre geführt hat. Sich unbedacht mitreißen zu lassen, anstatt danach zu fragen, wie dies alles zu Ihrer eigenen Werteordnung passt, kann übel ausgehen. An Ihrer Stelle wäre ich immer dann skeptisch, wenn große Kampagnen ausgerufen werden. Ich denke an Beispiele

Die generelle Haltung gegenüber dem Staat

Die tiefsitzende Überzeugung, dass eine Regierung oder ein Staatsapparat von Natur aus die richtige Führung für eine Nation gewährleisten, ist falsch. Dennoch ist sie in den meisten Menschen seit Generationen tief verankert. Das Obrigkeitsdenken und die willige Akzeptanz von irrigen Direktiven wider besseres Wissen haben nichts mit dem Grad an Intelligenz oder der Stellung des Einzelnen zu tun. Sie sind das Resultat einer mangelnden Auseinandersetzung mit dem eigenen Wertekatalog. Diese Phänomene sind nur möglich, weil so wenige Menschen sich Gedanken über ihre eigene Reißleine machen und sich damit unvorbereitet dem Obrigkeitsdruck aussetzen.

Sie müssen sich entscheiden, wer für Sie darüber bestimmt, was »Gut und was Böse« ist. Sie haben die Wahl, wer Ihre Werteordnung determiniert:

Ich möchte Sie nicht bevormunden. Ich bevorzuge es, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und würde es Ihnen auch empfehlen, denn so haben Sie das beste Fundament, um mit Rückgrat und Selbstachtung ein erfolgreiches und erfülltes Leben zu führen. Darauf zu warten, dass ein anderer Mensch oder eine Institution Ihnen die Erlaubnis erteilt, etwas zu tun, zu dem Sie eigentlich nicht stehen, ist eine waghalsige Angelegenheit.

Unter dem Strich geht es sowohl bei Ihrer aktiven wie bei Ihrer passiven Reißleine darum, wann Sie »Stopp« sagen – ohne Wenn und Aber.

Moralische Werte als Ansporn

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich plädiere nicht dafür, dass Sie in der Rolle eines Rechthabers oder Moralisten selbstzerstörerisch Ihren Erfolg zunichtemachen. Mit einer aufrechten Haltung durchs Leben zu gehen, bedeutet nicht, dass Sie auf Ihren Erfolg verzichten und zum Märtyrer werden müssen. Nutzen Sie vielmehr Ihre moralischen Werte als Ansporn, proaktiv und pragmatisch vorzugehen.

Mein Rat für Sie:

Warten Sie nicht ab, bis das Fass überläuft. Nutzen Sie Ihre Werteordnung wie ein Frühwarnsystem. Ich versichere Ihnen: Wenn Sie rechtzeitig die Signale erkennen, werden Sie erst gar nicht in prekäre und ausweglose Situationen kommen.

Streichen Sie das Wort »wenn«

Jeder von Ihnen kann im Leben mehr erreichen, als ihm an der Wiege gesungen wurde. Das ist die gute Nachricht. Ob Sie mit Ihrem Erfolg jedoch glücklich werden, ist eine andere Frage. Die Antwort hängt von Ihrer Werteordnung ab. Auf dem Weg zum Glücklichsein möchte ich Ihnen einige Anregungen an die Hand geben. Diese sollen Ihnen helfen, einen Zugang zu Ihrer persönlichen inneren Haltung zu finden.

Der berühmte Pianist Artur Rubinstein (polnischer Exilant, 1887–1982) lebte nach der Maxime, das Wort »wenn« aus seinem Leben zu streichen. Was meinte er damit? Die Zufriedenheit darf nicht an einen bestimmten Wunschkatalog gekoppelt werden. Sie müssen das Leben unter den Umständen akzeptieren, die Ihnen das Schicksal serviert. Ihre Werteordnung ist dazu da, dass Sie sich stets eine bedingungslos konstruktiv-positive Einstellung zum Leben bewahren können.

Das Du kommt vor dem Ich

Der Egoismus und eine egozentrische Sichtweise auf das Leben sind der todsichere Garant, um auf Dauer ein unglücklicher Mensch zu werden, und zwar unabhängig davon, ob Sie beruflich und finanziell Ihre Ziele erreichen oder nicht.

Ich werde mein erstes Gespräch mit meinem schon zuvor erwähnten Arzt, dem ehemaligen Urwalddoktor Dr. Theodor Binder (Elsass, 1919 – 2011), nie vergessen. Ich war in meinen frühen Vierzigern, gesundheitlich angeschlagen und unzufrieden mit meinem Leben. Nach intensiver Untersuchung in seiner Praxis in Lörrach und einem entsprechenden Medikationsplan verabschiedete ich mich. Ich war bereits halb durch die Tür, als er zu mir sagte: »Herr Elsässer, denken Sie immer daran: Schon im Alphabet kommt das Du vor dem Ich.« Dabei sah er mir tief in die Augen. Dr. Binder war damals etwa 80 Jahre alt. Er hatte die Welt und die Untiefen der menschlichen Seele kennengelernt.

Meine Freundin aus Los Angeles, verheiratet mit einem Oscar-Preisträger, schilderte mir den Konkurrenzkampf in der Glamourwelt der Filmindustrie Hollywoods mit den frustrierten Worten: »Weißt du, wenn ich morgens von Santa Monica nach Downtown Los Angeles fahre, stecke ich meistens lange im Stau. Wenn ich dann links und rechts in die Autos schaue, dann sehe ich am Lenkrad lauter Menschen, die nur von einem besessen sind: me, myself and I – eine völlig ichsüchtige Gesellschaft.«

Auch wenn 90 Prozent der Menschheit aus Egoisten besteht, sollten Sie sich bemühen, zur Minderheit zu gehören. Das ist ein zentraler Punkt in meiner Werteordnung – vielleicht auch in Ihrer?

Betrachten wir einmal die Einstellung zu den Mitmenschen. Lenin hat die schreckliche Aussage gemacht: »Keine Menschen, keine Probleme.« Schlussendlich führt eine solche Betrachtungsweise zur Rechtfertigung von Massenmorden.

Je erfolgreicher Sie werden, umso mehr müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht zu einem zynischen und überheblichen »Großkotz« werden.

Meine kluge Freundin aus München, zweimal mit einem Topmanager verheiratet, verkehrt in gehobenen Kreisen. Sie schilderte mir immer wieder das traurige Bild, das sogenannte Wirtschaftskapitäne im privaten Umfeld abgeben: »Ich kann es einfach nicht verstehen. Als junge Männer waren das doch mal ganz anständige Menschen. Und jetzt im Alter, finanziell bestens versorgt, im Beruf alles erreicht, sind so viele von denen zu wirklich negativen und unerfreulichen Gestalten geworden.« Orientieren Sie sich lieber an anderen Vorbildern.

Natürlich sind wir alle nur Menschen mit Fehlern und Schwächen. Mir macht es aber bis heute Freude, mich beständig der Herausforderung zu stellen, ein besserer Mensch zu werden (hoffentlich klingt das jetzt nicht zu vermessen). Ich halte nichts von dem Spruch »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«. Ganz im Gegenteil. Wir alle haben jeden Tag erneut die Chance, darüber nachzudenken, an welcher Werteordnung wir unser Verhalten ausrichten.

Seit Generationen haben Gelehrte über dieses Thema nachgedacht. Liebe Leserinnen und liebe Leser, Sie können also leicht Zugang zu einem wahren Schatz an Wissen über Moral und Wertvorstellungen finden. Mir persönlich gefallen die großen Meister vergangener Jahrhunderte. Ein herausragender Denker war beispielsweise der Philosoph und Arzt Moses Maimonides (Spanien, 1138–1204). Er rät zu drei Tugenden für ein vorbildliches Verhalten: Bescheidenheit, Anteilnahme und Gutherzigkeit.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie – gerade als erfolgsorientierter Mensch – zu einer Haltung gelangen, die es Ihnen ermöglicht, jeden Tag mit Herzenswärme und Intelligenz das Richtige zu tun. Das macht für mich einen wahren Menschen aus.

Lassen Sie sich nicht von Gegenbeispielen irritieren, etwa Minister, die ihre Ideologie oder ihre egoistischen Ziele über das Wohl der Bürger stellen, oder Industriebosse, die mit einer Söldnermentalität an ihren Sesseln kleben. Ich möchte bewusst noch einmal wiederholen: Der Weg zu einem erfolgreichen und gleichzeitig erfüllten Leben führt nicht über die Station »Ego«.

Geben und Danken

Die Überlegung, das Du vor das Ich zu stellen, führt uns zu dem Aspekt des Gebens und Dankens. Für erfolgreiche Menschen ist das ein weiterer wichtiger Punkt in der Werteordnung. Denn je mehr ihnen der Erfolg zufliegt, umso mehr sollte der Aspekt des Gebens in den Vordergrund treten.

Mit dem Geben erzielen Sie einen doppelten Gewinn: Zum einen kreieren Sie mit Ihrer guten Tat Freude beim Empfänger, zum anderen können Sie sich am Geben erfreuen. Damit geht gleichzeitig das Danken einher: die Dankbarkeit dafür, dass Sie geben durften, aber auch dafür, dass Sie überhaupt in der Lage sind, anderen etwas geben zu können.

Hier geht es nicht allein um finanzielle Zuwendungen. Als Vollzeitinvestor arbeite ich auch noch im Alter sehr viel und bin mit meiner Arbeit ausgelastet. Dennoch veröffentliche ich wöchentlich kostenlose Beiträge auf meinem YouTube-Kanal, gebe Podcast-Interviews, erteile Rat in persönlichen Gesprächen und halte Vorträge. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich von Menschen, die mich schon lange kennen, leicht irritiert angesprochen werde: »Warum machen Sie das eigentlich? Sie haben das finanziell doch gar nicht nötig.« Die Vorstellung, dass es mir ein Anliegen sein könnte, meine Erfahrungen an andere Menschen weiterzugeben, ist vielen offenbar fremd. Die Vorstellung, dass ein erfolgreicher Mensch sich uneigennützig mit Fleiß einer Sache widmet, die ihm am Herzen liegt, ist wohl aus der Mode gekommen. Es ist ein unverzeihliches Versäumnis an den Universitäten, Business Schools und Berufsschulen, dass das Seminar »Geben, Danken und Uneigennützigkeit« auf dem Lehrplan fehlt.

In jungen Jahren war auch ich ein Opfer der Gehirnwäsche der Erfolgsdenker. Und auf viele meiner Handlungen im Beruf als damals angehender Topmanager bin ich rückblickend nicht stolz. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen jedoch versichern, dass man jederzeit seine Handlungsweise ändern kann. Vertrauen Sie mir: Egal wie, der Aspekt »Geben und Danken« gehört in Ihre Werteordnung.

Der Sinn für das Spirituelle

Neulich besuchte mich ein Industrieller aus Luzern. Wir sprachen darüber, wie er seine Kinder von langer Hand auf ihr Erbe vorbereitete. Ich war überrascht, als er seinen Gedankengang darlegte. Mir war klar, dass die erzieherische Vorbereitung auf die Übernahme eines großen Vermögens einer klaren Werteordnung bedurfte.

Seine Wertezuordnung gefiel mir jedoch besonders gut. Sie entwickelt sich in folgenden Schritten:

Ich habe meinen Bekannten nicht gefragt, ob sein Gedankengang von ihm selbst stammt oder ob er diese Weisheit von jemand anderem übernommen hat.

So wie sich Ihr Erfolg im Laufe Ihres Lebens nach und nach ergeben wird, so sollten Sie mit großen Schritten auch in die Welt Ihrer eigenen Werteordnung hineinwachsen.

Aus zahlreichen Gesprächen weiß ich, dass viele Menschen den Halt im Leben verloren haben. Es fehlt ihnen an innerer Führung. Und damit ist der Weg zum Glücklichsein verbaut. Sicherlich kennen auch Sie Menschen,

Der Pulitzer-Preisträger Robert P. Warren (Amerika, 1905–1989) beschreibt dieses Gefühl des Verlorenseins in meinen Augen treffend: »Die Antwort steht hinten im Buch, aber die Seite ist nicht mehr da.«

Wenn Sie zu den Menschen gehören, die niemanden haben, an den Sie sich vertraulich wenden können, um Unterstützung für die Struktur Ihrer Werteordnung zu finden, dann rate ich Ihnen: Versuchen Sie es doch einmal mit dem Glauben. Ich propagiere hier keine bestimmte religiöse Richtung und schon gar keine kirchliche Institution. Wenn es aber um Ihre Werteordnung geht, so sollten Sie im Laufe der Zeit einen Sinn für das Spirituelle entwickeln. Denn letztlich ist das Leben eine Abfolge permanenter moralischer Entscheidungen, die auf Ihren Überzeugungen und Ihrem Glauben basieren sollten.

Ich habe allergrößten Respekt vor spirituellem und religiösem Gedankengut, das teilweise Jahrtausende überdauert hat. Wenn Sie sich die Zeit nehmen, werden Sie bei der Beschäftigung mit der Thematik ein breites Spektrum an Orientierungsmöglichkeiten finden. Es gibt alle Schattierungen:

Sie würden staunen, wie viele Unternehmer und Führungspersönlichkeiten mit ihrem jeweiligen Glauben auf das Engste verwurzelt sind. In der heutigen Zeit scheuen sich viele Menschen, sich öffentlich dazu zu bekennen, aber hinter den Kulissen würden Sie erfahren, dass bei diesen Menschen kaum eine unternehmerische Entscheidung gefällt wird, ohne diese mit der Glaubensüberzeugung abgestimmt zu haben. Eine glaubensbasierte Werteordnung ist kein Hemmschuh im Erfolgsfahrplan, sondern ganz im Gegenteil ein wesentlicher Antrieb für die persönliche Schaffenskraft.

Hierzu möchte ich vier Beispiele spirituellen Rückhalts erwähnen:

Eine intolerante Einstellung gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen ist für mich nicht akzeptabel. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie vor einigen Jahren ein katholischer Geistlicher während des Gottesdienstes andere Glaubensansichten sowie Parawissenschaften als »Tand und Aberglauben« abtat. Ganz gleich, wie Sie bisher zu dem Komplex »Glauben und Spirituelles« stehen, seien Sie versichert: Es gibt nun einmal Dinge zwischen Himmel und Erde, die mit der Schulwissenschaft nicht zu erklären sind. Sie sollten die Augen vor dieser Tatsache nicht verschließen.

Eine der weiteren Grundsatzentscheidungen, die Sie in Ihrer Werteordnung zu treffen haben – völlig losgelöst von Ihrer Einstellung zur Religiosität –, lautet: Woran glauben Sie? Sind Sie in Ihrem Leben hier bereits im »Himmelreich« oder erwartet Sie das Himmelreich erst im Jenseits? Oder existiert für Sie überhaupt kein Himmelreich? Diese Fragestellungen sind für Sie womöglich ungewohnt. Dennoch sollten Sie der Beantwortung nicht ausweichen. Ich für meinen Teil habe mich im Laufe meines Lebens für ein hundertprozentiges Bekenntnis zum Leben entschieden. Für mich ist das Himmelreich genau jetzt, hier und heute.

Das führt uns zu den letzten wichtigen Punkten in Ihrer Werteordnung: dem Respekt vor dem Leben und dem Bewusstsein für die Kostbarkeit der Zeit.

Die Kostbarkeit der Zeit

Sehr alte Menschen schauen zwar auf ein langes Leben zurück, in Gesprächen höre ich aber immer wieder, dass sie ihr Leben als sehr kurz empfinden. »Die Zeit ist einfach verflogen«, sagte mir neulich ein 96-jähriger Investor. Viele Menschen gehen mit ihren Zielen und Vorhaben so um, als wenn sie 300 Jahre alt würden. In der Werteordnung der meisten Menschen fehlt das Verständnis für dieses Juwel der geschenkten Zeit. Ich vermisse bei so vielen Menschen die Konsequenz im Handeln angesichts der Begrenztheit der Lebenszeit. Seien Sie guter Dinge und erfreuen Sie sich Ihres Wirkens, aber arbeiten Sie daran, die Endlichkeit Ihrer Existenz nicht zu verdrängen. Eine kleine Geschichte hilft mir seit Jahren immer wieder, mir die Kostbarkeit der Zeit plastisch vor Augen zu führen:

Stellen Sie sich bitte folgendes vor, Sie liegen morgens schläfrig im Bett. Da öffnet sich leise die Tür. Ein freundlicher Herr tritt ein. Es ist Ihr Butler. Behutsam klopft er an Ihre Schulter.

»Guten Morgen, Zeit zum Aufstehen. Die Wetteraussichten sind gut. Heute ist Tag Nummer 3742 Ihres verbleibenden Lebens.«

Tags darauf sagt er: »Heute haben Sie einen Arzttermin. Es ist Tag Nummer 3741 Ihres verbleibenden Lebens.«

Am darauffolgenden Morgen heißt es: »Tag Nummer 3740 Ihres verbleibenden Lebens.«

Eines Tages flüstert der Butler Ihnen ins Ohr: »Guten Morgen, Zeit zum Abschiednehmen, ab heute werde ich nur noch 14-mal zu Ihnen kommen.«

Betrachten Sie kritisch, ob Sie Ihre Zeit behutsam und wertschätzend füllen. Ihre Werteordnung wird Ihnen eine klare Prioritätenliste vorgeben. Das betrifft auch den Kreis der Menschen, denen Sie Ihre Zeit schenken. Zu diesem Zweck möchte ich Ihnen ein kleines Experiment ans Herz legen: Es war ein Gedanke, der mir kürzlich einfach so – ohne irgendeinen Zusammenhang – zugeflogen ist. Bis heute kann ich ihn mir nicht erklären.

Ich stand unter der Dusche. Plötzlich stellte ich mir die Frage: Wenn du jetzt in diesem Moment noch genau eine Stunde zu leben hättest und du dürftest diese Stunde mit nur einer Person verbringen – lebend oder bereits verstorben: Für wen würdest du dich entscheiden? Spontan kam mir ohne den geringsten Zweifel diese Person in den Sinn. Zu meiner großen Überraschung war es jedoch keine der Personen, an die ich normalerweise gedacht hätte. Ich war regelrecht erschüttert, denn ich hatte die präferierte Person in den letzten Jahren eher links liegen gelassen. Mit wem würden Sie Ihre letzte Stunde auf dieser Welt verbringen?

Ich hoffe, ich konnte Sie ein wenig für das Thema Werteordnung sensibilisieren. In Ihrem Erfolgsfahrplan ist Ihr Wertekatalog das i-Tüpfelchen. Er schafft den Rahmen, in dem Sie ein glückliches, erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben aufbauen werden. Ganz gleich, wie alt Sie sind: Machen Sie sich auf den Weg!