Mai

Wie sich herausstellte, wollte Claudia ihr Häuschen recht schnell vermieten, wenn möglich zum fünfzehnten Mai, gerne eher. Ich hatte sie noch am gleichen Tag angerufen, nachdem ich nach Hause gesprintet war und erst mal einen kleinen Freudentanz aufgeführt hatte. Ich wollte dieses Häuschen. Und zwar unbedingt.

«Fantastique» , rief sie immer wieder lachend in den Hörer. «Eine Schriftstellerin in meinem Haus, fantastique , das wird ein Bestseller!»

Ihre Euphorie beflügelte mich, doch gleichzeitig hielt ich es für eine völlig verrückte Vorstellung.

Sie beschrieb mir das Haus als nicht sonderlich groß, insgesamt siebzig Quadratmeter, verteilt auf zwei Etagen. Unten eine Küchenzeile und ein Wohnbereich mit Zugang zu einer kleinen Terrasse sowie einem Garten. Oben ein weiteres Zimmer und ein kleines Bad mit Dusche. Per E-Mail schickte sie mir noch ein paar Bilder, ich sollte es mir in Ruhe überlegen.

Ich saß im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem Boden und klickte mich durch die Fotos. Die meisten offenbarten, dass die Zimmer einen Anstrich benötigten, an einigen Stellen waren dunkle Flecken an den Wänden. Und es fehlten ein paar kleinere Einrichtungsgegenstände. Aber alle Wasserleitungen waren erst vor wenigen Jahren ausgetauscht worden und die Elektrik funktionierte laut Claudia einwandfrei. WLAN war ebenfalls vorhanden. Claudia wollte es ab dem nächsten Frühjahr dauerhaft als Ferienhaus vermieten, und bis dahin durfte ich für eine kleine Miete darin wohnen. Das Haus war aus beigefarbenen Natursteinen gebaut, mit Holzläden an den Fenstern, wie es typisch für die Provence ist. Um den kleinen Garten sollte sich ein Gärtner kümmern.

Ich rechnete zusammen, was das alles kosten würde und ob ich damit für ein paar Monate hinkäme. Ich beschloss, dass es reichen musste. Die Bilder in meinem Kopf, wie ich mittellos wieder bei meinen Eltern einzog, schob ich beiseite.

Dieses Haus und dieser Ort waren genau das, was ich wollte. Alles in mir staute sich zusammen bei dem Gedanken daran und formte sich zu einer riesengroßen Welle, die mein altes Leben überspülen und Platz für ein neues schaffen wollte.

Ich rief Claudia an und sagte zu. Der nächste Schritt war getan. Mein altes Leben verblasste ein Stück weit.

«Du gehst nach Frankreich? Ach Liebes, bist du dir wirklich sicher? Wieso hast du denn nichts gesagt?»

Meine Mutter rief mich an, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Und ich eröffnete ihr mein Vorhaben, ein kleines Häuschen in La Motte-d’Aigues zu mieten. Meine Eltern befanden sich gerade in der Nähe von Stavanger und waren gerade dabei, sich ein Picknickplätzchen zu suchen, um sich den Sonnenuntergang anzuschauen. Diese kleinen oder auch größere Auszeiten hatten sie sich immer schon genommen, um zu leben . Sie waren nie an Karriere interessiert gewesen oder daran, Besitztümer anzuhäufen. Sie waren glücklich mit dem, was sie hatten. Und ich wollte immer genau so ein Leben leben wie sie. Doch irgendwann lockten die Karriere, das Geld, die Partys, die Statussymbole. Auch wenn ich schnell merkte, dass ich da nicht hingehörte, konnte ich trotzdem nicht aufhören. Marc liebte dieses Leben, es war das, was er sich immer erträumt hatte. Und da ich fest davon überzeugt gewesen war, dass wir füreinander bestimmt waren, dachte ich, dass das auch mein Leben ist. Ich merkte gar nicht, wie ich mich immer weiter von mir selbst entfernte.

Marc unterteilte unser Leben gern in Abschnitte und machte diese abhängig von unserem Status. «Wenn ich diesen Deal an Land ziehe, fliegen wir nach Hawaii. Wenn ich diese Beförderung bekomme, mache ich dir einen Antrag. Wenn du die komplette Leitung übernimmst, können wir schwanger werden. » Wir waren auf Hawaii, die Beförderung hatte er letzten Monat bekommen und bevor ich die Leitung übernehmen durfte, hatte ich gekündigt. Die Reißleine gezogen.

Mein Herz krampfte sich zusammen, ich atmete tief ein und schob die aufblitzenden Erinnerungen an unsere Zukunftspläne weg. Ich hatte jetzt meine eigenen.

«Ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt klappt, Mum.»

«Aber wir hätten dir doch bei der Suche helfen können, ich meine, die Idee ist wirklich wunderbar. Du hast Frankreich immer so gemocht. Weißt du noch, wie du nach unserem ersten Frankreich-Urlaub unbedingt Französisch lernen wolltest und von da an ständig Kinderbücher auf Französisch gelesen hast? Na ja, es versucht hast.»

Ja, ich erinnerte mich, doch lange hatte ich das nicht durchgehalten. Und wenn ich an mein Französisch dachte, war es eher so, dass trotz Schulfranzösisch nicht viel hängen geblieben war. Jedenfalls nicht, was das Sprechen betraf. Aber zumindest verstand ich einiges. Französischen Filmen sei Dank.

«Ja, ich weiß. Vielleicht wird es ja jetzt besser.»

«Wie lange willst du denn bleiben?»

«So ... ein knappes Jahr vielleicht?» Ich zählte innerlich bis drei, so lange würde die Pause dauern, bis meine Mutter sich von dieser Aussage erholt hätte und mit Gegenargumenten versuchen würde, mich von diesem Vorhaben abzuhalten. Auszeiten fand sie zwar wichtig, aber nicht, wenn man keinen Plan für danach hatte. Sicherheit stand ziemlich weit oben auf ihrer Werte-Liste.

«Ein Jahr? Aber ... wovon willst du denn leben? Du kannst doch auch hier etwas Neues beginnen. Du kannst bei uns wohnen und deinen Roman schreiben.»

Ich wusste, dass meine Mutter es nur gut meinte und sich unwahrscheinlich freuen würde, wenn ich vorübergehend wieder einzog. Für sie war es damals schwer gewesen, mich gehen zu lassen, als ich mit neunzehn meine Sachen gepackt hatte und nach Berlin in meine erste Studentenbude zog. Mit Matratze ohne Bettgestell und einer Dusche, die nur dann warmes Wasser ausspuckte, wenn man mindestens eine Stunde vorher den Wasserboiler angestellt hatte.

«Ich weiß doch, Mum, aber ich muss mal komplett raus. Andere Umgebung, anderer Alltag.» Anderes Leben, fügte ich in Gedanken hinzu. «Ich glaube, das wird mir guttun, und ich werde endlich wieder Zeit zum Schreiben haben. Ohne Ablenkung. Und mein Geld wird ... ungefähr reichen.» Das hoffte ich zumindest.

Obwohl Geld bei meinen Eltern nie eine wichtige Rolle gespielt hatte, war es doch so, dass meine Mutter immer Angst hatte, dass es irgendwann einfach alle war. Ich vermutete, dass das so tief in ihr steckte, weil sie als Kind eine ganze Zeit lang in ärmlichen Verhältnissen leben musste und meine Großeltern jeden Pfennig mehrmals umdrehten, bevor sie etwas ausgaben. Es gab eine Phase, da war nicht einmal Geld für Butter vorhanden. Meine Großeltern hatten im Krieg wie so viele andere alles verloren, und es dauerte lang, bis sie wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, eine Arbeit und genug zu essen hatten. In dieser Zeit kam meine Mutter zur Welt.

Mein Vater war da entspannter. Er konnte gut mit Geld umgehen und war sich sicher, dass es immer eine Möglichkeit gäbe, wie er neues dazubekam. Er verließ sich dabei aber nicht nur auf sein Gehalt, das er als Projektleiter in einem mittelgroßen Unternehmen und später als Selbstständiger verdiente, sondern investierte schon früh in die richtigen Aktien. Meiner Mutter erzählte er nie etwas davon. Und nun waren beide seit zwei Jahren in Rente und er überraschte sie immer wieder aufs Neue mit wunderbaren Reisen, bei denen meine Mutter dachte, dass sie ab der Rente vorbei wären. Weil das Geld dafür nicht reichen würde.

«Okay ... Also wenn du das wirklich willst, dann wird es schon richtig sein.»

Ihre Stimme klang mehr als besorgt, aber was sollte sie schon tun, ich war fest entschlossen und würde mich nicht umstimmen lassen.

«Karla, wir werden dich besuchen kommen, glaub ja nicht, dass du uns für die nächsten Monate los bist», rief mein Vater im Hintergrund.

Ich musste lachen, mein Vater fand immer alles toll, was ich machte. Auch wenn er manche Dinge selbst anders angegangen wäre, hatte er großes Vertrauen in mich. «Du gehst deinen Weg, Karla, das weiß ich», sagte er immer. Während meine Mutter versuchte, mich vor möglichen Gefahren oder falschen Entscheidungen zu bewahren, und sie dabei manchmal etwas zu ängstlich war, was leider oft auf mich überging, ließ mein Vater mich machen. Einmal sagte er zu mir – da war ich gerade fünfzehn, in einer pubertären Trotzphase und der Meinung, dass ich keinen Schulabschluss brauchte, um Schriftstellerin zu werden –, dass er sich sicher sei, dass ich schon die richtige Entscheidung treffen würde. Ich solle auf meine innere Stimme hören. Er selbst hatte viele Entscheidungen in seinem Leben getroffen, weil andere das so wollten. Erst, als er bei einem Autounfall, bei dem ihm jemand die Vorfahrt nahm und mit achtzig Sachen in seinen Wagen crashte, fast sein Leben verloren hätte, besann er sich. Weil er unmittelbar erlebt hatte, dass das Leben von heute auf morgen vorbei sein konnte. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt und beschloss, nur noch das zu machen, wonach ihm der Sinn stand. Natürlich klappte das nicht immer, und jeden Tag nur das zu tun, worauf man Lust hat, grenzt ans Unmögliche. Aber darum ging es ihm gar nicht. Es ging darum, jeden Morgen aufzuwachen und sich auf den Tag zu freuen, in der Gewissheit, dass er das, was er tat, mit einer bewussten Entscheidung selbst so gewählt hatte. Und das bescherte ihm eine tiefe Zufriedenheit.

Ich entschied mich damals, die Schule zu beenden. Nicht, weil man mir gesagt hatte, dass ich das tun soll, sondern weil man mir die Entscheidung selbst überlassen hatte und mir das Vertrauen entgegenbrachte, schon das Richtige zu tun. Ich hatte schließlich festgestellt, dass ich den Schulabschluss nur deswegen verweigern wollte, um allen zu zeigen, dass ich rebellisch sein konnte. Und nicht, weil ich dachte, ich bräuchte ihn nicht. Ich wollte beweisen, dass ich jemand war, der eine eigene Meinung vertrat. Zur gleichen Zeit festigte sich mein Wunsch, Schriftstellerin zu werden, weil ich mich zum ersten Mal intensiver mit mir selbst beschäftigt hatte und merkte, dass das etwas war, was mich glücklich machte.

«Okay, Paps», rief ich zurück, damit er mich hören konnte, denn meine Mutter hatte immer noch ihr Ohr am Hörer, «kommt mich gerne besuchen, ich kann bestimmt Hilfe im Garten gebrauchen.» Doch ich wusste, dass mein Vater das sowieso schon eingeplant hatte.

Vogel

Vier Tage, bevor meine Eltern von ihrer Reise zurückkamen, schmiss ich meine beiden Taschen ins Auto und startete in einen neuen Abschnitt meines Lebens. Ich wollte so schnell wie möglich los, bevor ich es mir anders überlegte. Bevor meine Mutter mich mit ihrer Fürsorge erdrücken konnte und ich mich für den Moment wohler fühlte, in der vertrauten Umgebung zu sein. Es durfte nicht wieder zu bequem werden, denn aus bequem kam man schwer wieder raus.

Ich hatte mich entschieden.

Andererseits hatte ich null Ahnung, was mich erwartete. Aber genau das machte es doch spannend, redete ich mir gut zu. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mir nichts zurechtgelegt. Aber genau das wollte ich. Endlich wieder meiner Intuition folgen. Ohne Ablenkung. Ohne äußere Einflüsse.

Mein Laptop lag neben mir auf dem Beifahrersitz, bereit für neue Wörter und Sätze. Vielleicht fiel mir auf der Fahrt etwas Gutes ein, das ich am nächsten Rastplatz sofort runtertippen konnte. Meine Idee für meinen Roman nahm Gestalt an. Immerhin hatte ich es schon geschafft, die grobe Handlung inklusive des Endes aufzuschreiben – wenn auch nur in Stichpunkten. Nur mit dem Beginn tat ich mich schwer. Der erste Satz wollte mir nicht einfallen, geschweige denn die darauffolgenden. Und so begann ich einfach irgendwo mittendrin, bei einer Szene, die mir urplötzlich eines Abends kurz vor dem Einschlafen einfiel. Hastig stand ich wieder auf, stürzte zum Laptop und tippte die Zeilen in Windeseile von den Fingern. – Nur mein Schreibkurslehrer wäre sicherlich enttäuscht von meiner Vorgehensweise.

Ich freute mich unbändig, endlich wieder in die Provence zu kommen. Wieso war ich so lange nicht dort gewesen? Diese Verbundenheit, die ich zu dieser Region besaß, begleitete mich schon, seit ich denken konnte. Als Kind war ich mit meinen Eltern jeden Sommer auf immer anderen Campingplätzen. Mal mitten im Herzen der Provence, im Luberon, in der Nähe des Verdon, ein Fluss mit glasklarem, smaragdgrünem Wasser und felsigen Schluchten, in denen sich in meiner Fantasie Piraten versteckten. Ich liebte die vielen kleinen Bergdörfer mit ihren niedlichen Kirchen, den gemütlich wirkenden Steinhäuschen, den Kopfsteinpflastern und schmalen Gässchen, in denen man so gut Verstecken spielen konnte. Ich liebte den Lavendelduft, die extra langen, knusprigen Baguettes, die meine Eltern mit Käse und Tomaten belegten und mit Olivenöl beträufelten und die viel besser schmeckten als bei uns zu Hause. Mal fuhren wir ans Meer, an die Côte d’Azur, wo es mir jedoch nicht ganz so gut gefiel. Im Sommer war es völlig überlaufen dort, am Strand fand man keinen Platz und die Hitze in den für mich damals viel zu großen Städten war so drückend, dass ich es ohne drei Eis am Tag kaum aushielt. Doch überall herrschte diese eine Atmosphäre, wie man sie nur in Frankreich hat. Diese Leichtigkeit, die in der Luft flimmerte, gepaart mit einer mühelosen Eleganz, die allen Franzosen angeboren schien. Und diese Leichtigkeit, die Erwachsenen nannten es «Savoir-vivre», färbte sich auch auf meine Eltern ab. Und so auch auf mich. In Frankreich fühlte ich mich immer, als würde ich schweben.

Als ich älter wurde, so im Teenie-Alter und auch noch bis weit in meine Zwanziger hinein, beneidete ich die Französinnen um ihren Kleidungsstil, der immer so «einfach mal eben aus dem Schrank gefischt und drübergezogen» wirkte und doch gleichzeitig diesen typisch französischen Chic besaß. Ich versuchte es ihnen gleich zu tun, aber genau daran scheiterte es – denn so wirkte es gezwungen und sah eher aus wie «sie hatte sich stets bemüht».

Als ich irgendwann nicht mehr mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, gab es ein paar Jahre eine Frankreich-Pause und ich zog es vor, andere Länder Europas zu bereisen. Doch tief in meinem Herzen blieb die Provence immer mein Sehnsuchtsort. Dann lernte ich Lotta kennen und wollte ihr unbedingt mein Frankreich zeigen. Einen Sommer lang. Wir fuhren zuerst nach Paris, verbrachten ganze Tage in kleinen Cafés mit Croissants, Café au Lait und Rosé. Schlenderten stundenlang durch Montmartre, aßen die besten Crêpes unseres Lebens, liefen den Eiffelturm zu Fuß hoch und schauten französische Filme im Freiluftkino. Dann packten wir unsere Sachen, tuckerten mit meinem Fiat Panda weiter in die Provence, mieteten uns für drei Wochen ein kleines Apartment in der Nähe von Ménerbes und ließen uns weiter treiben. Wir schliefen, bis wir von selbst aufwachten, gingen ins Bett, wenn wir müde waren, kauften fast täglich frische Lebensmittel vom Markt, bekochten uns gegenseitig, tranken eisgekühlten Rosé in Mengen und lagen manchmal einfach nur den ganzen Tag faul in der Sonne. Ich schrieb zwischendurch Texte, die mir dort nur so aus dem Gehirn plumpsten. Ab und an fuhren wir an einen See oder ans Meer, erfrischten unsere mittlerweile sonnengebräunten Körper und schauten stundenlang aufs Wasser hinaus. Abends, wenn die Temperaturen angenehmer wurden, besuchten wir die unzähligen kleinen Bergdörfer, setzten uns hoch oben auf alte Burgmauern, blickten ins Tal hinab und hatten das Gefühl, dass uns die ganze Welt zu Füßen lag. In diesem Sommer nahm ich mir vor, meine glatten braunen Haare, die ich sonst immer nur maximal auf Schulterlänge trug, wachsen zu lassen. Sie sollten den französischen Sommer speichern und mich im Winter an ihn erinnern. In diesem Sommer wusste ich, dass ich eines Tages selbst ein kleines Häuschen in der Provence haben würde, um dort all meine Bücher zu schreiben.

Seit diesem Sommer damals war ich nicht mehr in Frankreich gewesen. Das war acht Jahre her. Meine Haare trug ich längst wieder schulterlang. Und dass ich nun ausgerechnet in die Region fahren sollte, die für mich den meisten Zauber besaß, konnte kein Zufall sein. La Motte-d’Aigues lag nur wenige Kilometer von Cucuron entfernt, meinem Lieblingsort, seit ich «Ein gutes Jahr» mit Russell Crowe gesehen hatte. In jenem Sommer waren wir dagewesen, damit ich mich davon überzeugen konnte, dass es dort tatsächlich so romantisch-schön ist wie im Film.

Für meine Fahrt hatte ich zwei Übernachtungen eingeplant. Der erste Stopp lag zwischen Nürnberg und Stuttgart, der zweite schon in Frankreich, bei Montbéliard, kurz hinter den Vogesen. Claudia erwartete mich am zehnten Mai abends in ihrer Buchhandlung, um mir die Schlüssel zu übergeben. Die Schlüssel zu meinem neuen Leben.

Je weiter ich mich von meiner Heimat entfernte, desto ruhiger wurde ich. Mit jedem Meter schüttelte ich mein altes Leben ab und schaffte Platz für neue Bilder in meinem Kopf. Ich hatte alles richtig gemacht. Tief in mir drinnen wusste ich das. Und das reichte. Die ungewisse Zukunft, die vor mir lag, ignorierte ich. Ich wollte mir vertrauen, dass ich fähig war, etwas aufzugeben, was mir jahrelang Sicherheit und Halt gegeben, mich aber am Ende nicht glücklich gemacht hatte. Und etwas Neues aufzubauen, dass mir zumindest momentan weder Sicherheit noch Halt gab, aber mein Innerstes zum Glühen brachte.

Meine erste Übernachtung war kurz. Ich ging spät ins Bett, weil ich mich so in einen Roman vertieft hatte, den mir Merle kurz vor meiner Abfahrt mitgegeben hatte, dass ich völlig die Zeit vergaß. Drei Bücher hatte sie mir geschenkt, die mich einstimmen sollten auf die Zeit, die vor mir lag, und mich inspirieren sollten für mein eigenes Buch. Alle drei handelten von Frauen, die sich der Gesellschaft zu sehr angepasst hatten und ihr entweder entfliehen oder sie verändern wollten. Sie trugen Kämpfe aus mit sich und mit ihrer Umwelt. Sie scheiterten, sie liebten, sie gewannen, sie verloren, sie versteckten, sie schämten sich und kamen mit jedem Schritt, den sie setzten, ein Stück zurück zu sich selbst. Ich war fasziniert und gleichzeitig verunsicherte es mich. Außerdem fragte ich mich, wo ich stand und ob ich jemals so etwas Gutes schreiben könnte.

Meine zweite Übernachtung war besser. Schon bei der Fahrt über die Landesgrenze nach Frankreich blitzte das Gefühl von damals in mir auf. Dass mir die Welt offenstand und ich alles erreichen konnte, was ich nur wollte. Gegen neunzehn Uhr bezog ich mein Zimmer in der kleinen Pension am Rande von Montbéliard, nahm mir von der Hausbar ein Glas Rosé mit nach oben, setzte mich auf den Balkon und wartete darauf, dass sich die Blitze in warme Wellen verwandelten und sich in meinem Körper ausbreiteten. Ich sah der Sonne zu, wie sie den Tag beendete und langsam hinter den Vogesen verschwand.

La vie est belle, tippte ich eine Nachricht an Lotta und sendete sie ihr zusammen mit einem Bild, das meine ausgestreckten Beine mit den nackten Füßen auf dem Geländer und meinem Glas Wein in der Hand zeigte. Selfie in Bestform. Euphorisch schickte ich ihr noch ein paar lachende Smileys hinterher und hoffte, dass mein zurückgekehrter Enthusiasmus eine Weile anhielt.

Bis spät in die Nacht saß ich an meinem Laptop, schrieb das Mittendrin-Kapitel zu Ende und machte mir Notizen zu möglichen ersten Zeilen. Langsam kam es wieder.

Vogel

Um kurz nach achtzehn Uhr parkte ich mein Auto gegenüber der Buchhandlung Bonnes Idées in der Rue Vachaud. Dass es in diesem Eintausenddreihundertsechzig-Seelen-Ort überhaupt eine Buchhandlung gab. Merle hatte mir erklärt, dass die kleinen authentischen Buchläden immer seltener wurden und Platz machen mussten für die großen Ketten, deren Sortiment sich stetig verbreiterte und deren Mitarbeiterkompetenzen sich im gleichen Maße verschlechterten. Wer kannte sich denn heute noch mit Klassikern aus? Mit echter Literatur. Doch je seltener diese kleinen Läden wurden, desto beliebter wurden sie auch. Und Claudia hatte es geschafft, ihren zu halten. Bonnes Idées war die einzige Buchhandlung weit und breit. Außerdem zog es viele Touristen in diese Region und nicht wenige stöberten gern bei Claudia, wo neben den aktuellen Bestsellern auch Sartre, Hugo und Voltaire zu finden waren.

Draußen über der Eingangstür prangten große, mit goldener Farbe bemalte Holzbuchstaben: BONNES IDÉES. Im Schaufenster mischten sich Klassiker mit aktuellen Büchern, ein großer Frühlingsblumenstrauß in einer blauen Glasvase stand rechts in der Ecke. Von der Decke hingen drei größere eingefasste Glühbirnen und ließen ihr gemütliches Licht auf die Bücher hinabstrahlen. Alles wirkte wie zufällig zusammengestellt, aber dennoch ließ es erahnen, dass sich jemand genau Gedanken über die Dekoration gemacht hatte. Es war so wie fast alles in Frankreich, die Überlegungen, die hinter den Details steckten, sah man nicht und dieses Bild vermittelte dem Betrachter eine zufällige Lässigkeit.

Unter dem Schaufenster reihten sich Terrakottatöpfe mit rosa, weiß und pink blühendem Oleander aneinander. Es wirkte einladend und genau so, wie ich die Provence in Erinnerung hatte. Mein Herz schlug schneller, hier würde ich also die nächsten Monate verbringen – wenn es gut lief.

An der Tür hing ein Schild mit Fermé . Ich stieß sie trotzdem vorsichtig auf, sie war nur angelehnt und ein kleines Glöckchen kündigte auch hier an, dass jemand eingetreten war. Das Innere von Bonnes Idées erinnerte mich an Merles Buchladen. Mehrere hohe Holzregale standen seitlich zum Schaufenster. Ich ging durch die Reihen und betrachtete die Bücher. Sie waren hier nicht nach Genre, sondern nur alphabetisch sortiert. Wie schon im Schaufenster alles vermischt und doch geordnet. Viele französische Autoren und Autorinnen und einige deutsche. Die Buchrücken schlossen wie bei Merle akkurat mit dem Regalbrett ab. Ich sog den Duft von Papier ein und berührte das glatte Holz.

Hinter den Regalen ging rechts an der Wand eine Tür ab. Bureau des pensées stand dort auf einem Schild – Büro der Gedanken. Was für eine schöne Bezeichnung. Ich ging hinüber und wollte anklopfen, da öffnete sich die Tür und eine Frau trat heraus. Groß, schlank und in ihrem schwarzen langen Wickelkleid elegant wirkend. Ihre Haare kinnlang und in einem natürlichen, hellen Grauton. Claudia war eine echte Erscheinung und ging glatt als Französin durch.

«Ah, bonjour , du musst Karla sein, nicht wahr? Bienvenue en France , meine Liebe!» Sie lächelte, nahm meine beiden Hände in ihre und gab mir erst einen Hauch eines Begrüßungsküsschens auf die rechte, dann auf die linke und noch mal auf die rechte Wange. «Du bist bestimmt müde von der langen Fahrt. Wie wäre es mit einem Kaffee, draußen im Garten? Ich wollte den Laden sowieso gerade abschließen.»

«O ja, gerne, das wäre großartig, ich bin tatsächlich etwas müde. Aber auch so froh, endlich hier zu sein.» Wie auf Kommando überspülte mich eine bleierne Müdigkeit und alles schrie nach einem Bett und nach Schlaf.

Wir durchquerten ihr Büro, das hauptsächlich aus einem riesigen Schreibtisch und zwei hohen, weißen Bücherregalen bestand. An den freien Wänden lehnten überdimensionale Stapel aus Papier und Zeitschriften. Hinten am Fenster stand ein kleiner Tisch mit einer Kaffeemaschine.

Mein Blick blieb an dem Gemälde über dem Schreibtisch hängen. Es steckte in einem verschnörkelten, goldfarbenen Rahmen und zeigte Bonnes Idées von außen. Die Farben verschwammen ineinander wie bei einem Aquarell, es war wunderschön. Fasziniert betrachtete ich es.

«Nach diesem Bild habe ich mir meinen Laden gestaltet», sagte Claudia, «mein Mann hat es gemalt, kurz bevor ich die Räumlichkeiten hier gemietet hatte. Ich erklärte ihm, wie es von außen aussehen sollte, und er malte es. Und genau so ist es dann auch geworden.»

Ich schaute zu ihr, sie lächelte schwach und eine leichte Traurigkeit huschte über ihr Gesicht. Von Merle wusste ich, dass ihr Mann vor ein paar Jahren ganz unvermittelt an einem Herzinfarkt gestorben war. Kinder hatten sie keine, ihr Buchladen war immer ihr gemeinsames Baby gewesen.

«Es ist wirklich wunderschön», sagte ich, «gibt es noch mehr Bilder?»

«Ja, ein paar. Die allermeisten hat er verkauft. Er war ein fantastischer Maler mit einem detailreichen Auge. Er malte meist Landschaften, die Provence mit ihren leichten Hügeln, Lavendelfeldern und kleinen Orten. Er versuchte, ihre Farben einzufangen. Ein bisschen wie Cézanne, sagte er immer. Es war seine Leidenschaft.»

Wow, ich war tief beeindruckt. Und es berührte mich. Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken.

«In dem Häuschen, wo du wohnen wirst, hängt auch noch ein Bild.» Sie lächelte. «Es wird dir gefallen.»

Sie schob die breite Glasschiebetür auf, die zum Garten führte, und wir traten raus. Eine kleine, verwilderte Wiese zeigte sich, mit einem alten Kirschbaum am Ende. Claudia bat mich, mich zu setzen. Ich nahm dankend an und ließ mich auf einen der Stühle sinken, die auf der Terrasse standen. Claudia verschwand wieder nach drinnen, um sich um den Kaffee zu kümmern. Ich betrachtete den Kirschbaum, durch dessen Zweige sich die Strahlen der schon etwas tiefer liegenden Sonne schoben, und atmete tief ein, versuchte, diesen Moment des Ankommens ein kleines bisschen festzuhalten.

Claudia kam zurück und die Luft füllte sich mit Kaffeeduft. Ich musste mir unbedingt eine kleine Maschine zulegen, sonst würde ich es die kommenden Monate kaum aushalten.

Wir besprachen die formalen Angelegenheiten, ich unterschrieb den Mietvertrag, der zunächst auf acht Monate angesetzt war, aber jederzeit beidseitig gekündigt werden konnte. Dem Vertrag angefügt war eine kleine Liste, auf der stand, um was ich mich in der Zeit kümmern sollte. Ich überflog sie nur kurz, wollte sie morgen in Ruhe lesen. Es war merkwürdig angenehm, mit einer fremden Frau, die Vermieterin meiner vorübergehenden Bleibe, weit weg von meinem Heimatort in ihrem Garten zu sitzen, Kaffee zu trinken und sich dabei so angekommen zu fühlen. Claudia war mir so schnell so sympathisch, dass es mir unangenehm war, mit ihr über Finanzielles und Verträge zu reden. So etwas hatte mir noch nie gelegen. Ich hatte eher immer das Gefühl, dass finanzielle Dinge nicht in eine Freundschaft passten. Auch nicht in eine Beziehung. Das machte es angespannt. Ich dachte an Marc, an die Anfänge unserer Beziehung. Geld war kein Thema, wir hatten nicht viel, aber vermissten es auch nicht. Wenn mal etwas übrig war, gönnten wir uns eine gute Flasche Wein oder kauften Kaffeebohnen in unserem Lieblingscafé um die Ecke, die dreimal so viel kosteten wie die aus dem Supermarkt. Wir teilten die Ausgaben, die wir hatten, nie wirklich auf, jeder gab das, was er konnte, und es passte immer. Mir gefiel das, es lag so eine Entspanntheit darin. Doch je mehr Jahre vergingen und je mehr wir und vor allem Marc verdienten, verschwand diese Entspanntheit und verwandelte sich in eine Hülle, die uns umschloss und anfing, uns die Luft zum Atmen zu nehmen. Die Ausgaben stiegen, unser Leben wurde teuer und Geld musste eingeteilt werden. Vor allem musste es vermehrt werden. Geld war wichtig geworden. Es war ein Thema. Ich wusste, dass es auch was mit dem Erwachsenwerden zu tun hatte. Mit dem Erwachsenwerden zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Wenn die Zukunft näherrückt und einem mit dem dreißigsten Geburtstag unversehens bewusst wird, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Dass man Verantwortung tragen muss. Für später sorgen muss. Sich einen Lebensstandard schaffen muss, der dem Alter gerecht wird, mit dem man sich abhebt vom vergangenen Studentendasein. Mit dem man zeigen kann, dass man jemand ist. Doch wer ist man denn? Diese Frage beantwortete einem niemand.

«Was schreibst du für ein Buch?», fragte Claudia und holte mich damit zurück in die Gegenwart.

«Es wird ein Roman», antwortete ich, «mein ... äh ... erster. Das Grundgerüst steht, nur so richtig zum Schreiben bin ich noch nicht gekommen. Das wollte ich hier tun. Deshalb bin ich hier.»

Ja, deshalb war ich hier. Es klang etwas unwirklich, wenn ich darüber sprach. Und jetzt war ich hier in der Provence, in einem winzigen Ort, von dem ich vorher nicht mal wusste, dass es ihn gab. Und noch immer wunderte ich mich, dass ich es überhaupt bis hierhin geschafft hatte.

«Das ist mutig, Karla. Wirklich. Ich bewundere dich dafür. Und wünsche dir natürlich von Herzen, dass es funktionieren wird. Aber weißt du, selbst, wenn es nicht klappt, dann hast du es probiert. Das ist es, was zählt.»

Es war schon fast dunkel, als Claudia die Tür zu meinem neuen Zuhause für die nächsten Monate aufschloss. Es lag etwas außerhalb vom Ort, nicht weit vom Ètang de la Bonde, einem Badesee. Das hatte ich schon recherchiert. Claudia war vorgefahren und ich hinterher. Von der Landstraße, die aus La Motte herausführte, bogen wir nach wenigen Kilometern ab auf eine schmale Schotterstraße, die auf beiden Seiten von Platanen gesäumt war. Ich mochte diese Baumart, die so wuchtig und gleichzeitig doch grazil war.

Nach etwa einem Kilometer kam auf der rechten Seite Claudias Häuschen. Wir parkten an der Straße und gingen durch ein kleines Gartentor in den Vorgarten, der durch eine niedrige Hecke vom Gehweg abgetrennt war. Ein schmaler, kurzer Pfad führte zur Haustür, die mal türkis gewesen sein musste. Aber davon war nicht mehr viel übrig. Eins meiner Projekte: Türen und Fensterläden streichen.

Die rechte Seite des Hauses war niedriger als die linke, da sie nur aus dem Erdgeschoss bestand. Der linke Teil hatte noch eine weitere Etage mit dem zweiten Zimmer und dem Bad.

Ich liebte diese Spannung, das erste Mal in ein Zimmer, Haus oder eine Wohnung einzutreten. Etwas zum ersten Mal zu sehen war etwas Besonderes. Die Augen betrachteten es anders. Und in Millisekundenschnelle bildete sich ein Gefühl und man wusste, ob man sich wohlfühlte oder nicht.

Claudia ging voran und knipste das Licht an. Ein kurzer Flur, zwei Stufen, die nach unten führten. Auf der rechten Seite eine Küchenzeile, die fast bis nach hinten zum Ende des Raumes reichte. Darüber hingen offene, weiß gestrichene Regale, und ganz am Ende in der Ecke stand ein riesiger French-Door-Kühlschrank, der nicht ins Bild passte. Oben in der Decke waren mehrere Spots eingebaut, die ein angenehmes Licht abgaben. Links eröffnete sich ein großer Raum, der Wohnbereich mit einer Fensterfront und einer Glastür, die nach draußen in den Garten führte.

Ein breites, mit dunkelgrünem Stoff bezogenes Sofa nahm viel Platz ein und stand mittendrin. Es wirkte gemütlich. Dahinter, an der Wand, die zur Straße lag und zwei weitere Fenster besaß, stand eine kleine Kommode aus hellem Holz. Ansonsten gab es keine Möbel. Von der Decke hing eine große Industrielampe und schien genau auf den Bereich vor dem Sofa. Eine Wendeltreppe führte in der hinteren linken Ecke nach oben.

Die Bilder dieses Raumes durchfluteten mich blitzschnell und ich liebte dieses Haus von der ersten Sekunde an.

«Tja, das ist dein kleines Reich», sagte Claudia lächelnd und breitete ihre Arme aus. «Es fehlen noch ein paar Möbel, die Vormieter haben einiges mitgenommen, und wie besprochen müsste an manchen Stellen gestrichen werden, aber ich denke, man kann sich wohlfühlen.»

«O ja, es ist ... es ist toll.» Ich fand keine Worte, ich war überwältigt und gleichzeitig unendlich müde.

«Der Kühlschrank ist ein bisschen groß und die Vormieter wollten ihn nicht mitnehmen. Aber so kannst du wenigstens genügend Rosé lagern. Glaub mir, hier gibt es den besten», fügte sie lachend hinzu.

Dass die Provence den besten Roséwein zu bieten hat, hatte ich in jenem Sommer mit Lotta schon festgestellt.

«Komm, ich zeig dir oben noch Schlaf- und Badezimmer und dann bist du mich erst mal los. Du schaust müde aus.»

Wir gingen die Treppe hoch, zuerst kam das Badezimmer mit den blauen Mosaikfliesen auf dem Boden und an den Wänden, die ich schon am Laptop bestaunt hatte. Daneben befand sich das Schlafzimmer, das ich gleichzeitig als Schreibzimmer nutzen wollte. Die Fenster lagen zum Garten. An der rechten Wand stand ein französisches Bett, Claudia hatte zum Glück schon eine neue Matratze besorgt. Für Oberbett und Bettwäsche war ich zuständig. Als Provisorium lag eine mintgrüne Baumwolldecke auf dem Bett. Sie sah kuschelig aus und ich merkte bei ihrem Anblick wieder, wie müde ich war.

«Für die ersten Nächte», sagte Claudia auf die Decke deutend.

Ich nickte. Mein Blick glitt weiter durch den Raum, vorne unter dem Fenster stand ein alter, wuchtiger Schreibtisch, links an der Wand ein Bauernschrank, groß genug für meine Klamotten. Und links neben dem Bett wäre auf jeden Fall noch Platz für ein kleines Bücherregal.

Ich war sprachlos und platt. Dieses kleine Häuschen war perfekt für mich. Es war mir egal, was ich hier noch alles machen oder besorgen musste. Der französische Charme, den ich so liebte, kam hier voll zum Ausdruck.

«So, ich lass dich jetzt allein. Im Kühlschrank findest du ein paar Sachen fürs Frühstück. Jeden Samstag ist Markt im Dorf, aber der kleine Vival-Markt ist auch nicht weit weg. Das Fahrrad steht im Garten. Und jetzt wünsche ich dir eine wundervolle erste Nacht. Meld dich, wenn du was brauchst.» Und damit war sie schon aus dem Zimmer, die Treppen hinunter und ein paar Sekunden später hörte ich die Haustür ins Schloss fallen.

Ich öffnete das Fenster, klappte die Fensterläden auf und schaute in die Dunkelheit, die sich draußen mittlerweile ausgebreitet hatte. Die kühle Nachtluft hüllte mich ein und ich musste erst einmal realisieren, dass ich wirklich hier war. Noch vor wenigen Tagen saß ich im Haus meiner Eltern und wusste nicht so recht, ob ich meine Entscheidung zu gehen bereuen oder feiern sollte. Und jetzt war ich hier, mitten in der Provence, so, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Ich war glücklich für den Moment. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und schrieb meinen Eltern, dass ich gut angekommen war und mich morgen melden würde. Lotta schrieb ich: Unser Sommer von damals, lass ihn uns wiederholen. Du musst kommen!

Danach legte ich mich aufs Bett und schlief sofort ein.

Schon früh am Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen, die das Zimmer taghell ausleuchteten. Ich hatte vergessen, das Fenster und die Läden wieder zu schließen. Verschlafen setzte ich mich auf und warf einen Blick auf mein Handy, es war erst sieben Uhr. Mich fröstelte es und ich wickelte die Decke, die ich nachts irgendwann über mich ausgebreitet hatte, fester um mich. Doch der Blick nach draußen versprach gutes Wetter. Nur ein paar zaghafte Wölkchen zeigten sich am Himmel. Ich rutschte nach hinten und lehnte mich noch etwas benommen an die verschnörkelten Metallstriemen am Kopfende. Hier war ich also. Vorfreude, Ungläubigkeit, Glück und Anspannung wechselten sich ab. Mein Kopf war seltsam leer, dabei wartete eine lange To-do-Liste auf mich. Doch ich hatte Zeit. Viel Zeit. Und ich wollte es langsam angehen. Kein Hetzen, keine Termine. Atmen. Zu mir kommen. Atmen. Schreiben. Atmen.

Die Decke um mich geschlungen, ging ich runter ins Erdgeschoss, öffnete die Fenster, klappte die Läden nach außen und schloss vorsichtig die doppeltürige Glasterrassentür auf, mit dem kleinen Schlüssel, der im Schloss in der Türklinke steckte. Noch einmal zwei Fensterläden aufstoßen und der Tag flutete das Zimmer und tauchte es in ein sommerliches Licht. Ich trat auf die Terrasse hinaus. Die Terrakottafliesen unter meinen nackten Füßen waren leicht warm, die französische Frühlingssonne tat ihr Bestes. Ich atmete tief ein und blickte mich um. Der Garten vor mir bestand hauptsächlich aus Wiese. Einige Wildblumen ließen ihre Köpfe weit aus dem Gras herausragen und betupften das Grün mit lila, gelb und pink. Weiter hinten standen zwei Kiefern und ein großer Kastanienbaum, im vorderen Bereich der Wiese hatte jemand eine kleine Beetfläche hergerichtet, die von großen runden Steinen umgeben war. Eine niedrige Steinmauer umgab den gesamten Garten, an manchen Stellen überwuchert von rosa und weiß blühenden Oleanderbüschen. Dahinter Felder und Wald, in der Ferne eine bewaldete Hügelkette. An der Mauer lehnte ein rotes Damenfahrrad mit einem Holzkorb am Lenker. An der Stelle teilte ein hölzernes Gartentörchen die Mauer. Von außen konnte man nur an manchen Stellen in den Garten hineinschauen, aber die nächsten Nachbarn lagen ein paar Hundert Meter entfernt.

Ich setzte mich auf die warmen Fliesen und beobachtete die Bienen und Schmetterlinge, die herumflogen und sich ab und an vorsichtig auf einer Blüte niederließen. Rechts an der Hauswand stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen. Doch ich wollte auf dem Boden sitzen. Mich erden. Ich konnte noch immer nicht begreifen, was ich hier eigentlich tat.

Claudia hatte schon einen Gärtner für dieses Stück Paradies hier angeheuert, der sich um das Gröbste kümmerte. Ich sollte lediglich für die Pflanzen sorgen, die, auf ein Dutzend Terrakottatöpfe verteilt, auf der Terrasse standen. Pink, weiß, rot, lila. Eine Pflanze mit rosafarbenen Blüten schlängelte sich in mehreren Abzweigungen die Hausfassade empor.

Ich hatte vor, Kräuter anzupflanzen. Thymian, Rosmarin, Oregano. Und ich wollte mehr Lavendel. Eine Hängematte zwischen den Bäumen wäre nicht schlecht. Ich musste dringend eine Liste erstellen. In meinem Kopf begann sich ganz langsam ein Chaos zu entfachen. Ich wollte schon wieder alles auf einmal. Eins nach dem anderen. Diese innere Unruhe drängte mich. Sie drückte gegen meinen Bauch und hämmerte in meinem Kopf. Die Angst zu scheitern, zu erkennen, dass der Weg doch falsch war, war mir dicht auf den Fersen.

Kaffee, ich brauchte Kaffee. Ich stand auf und suchte in der Küche nach etwas, das Kaffee machen konnte. Erst mal einen Koffeinschub, dann auspacken, dann die Liste erstellen. Eins nach dem anderen. Mein Ankommen würde ein paar Tage dauern. Das war immer so.

Ich fand eine silberfarbene Cafetiere im oberen Regal neben dem Kühlschrank. Sie sah noch recht unbenutzt aus. Vielleicht hatte Claudia sie neu gekauft. Daneben lag ein Päckchen gemahlener Kaffee. Meine Rettung. Im Kühlschrank stand frische Milch in einer Glasflasche, eine kleine Schüssel mit Tomaten, ein Stück Käse in Wachspapier eingewickelt und eine Tupperdose mit einigen Scheiben Brot. In der Tür entdeckte ich eine Flasche Rosé mit einem schlichten und modernen Etikett. Pour toutes les occasions stand dort drauf. Feine, goldene Buchstaben. «Für jede Gelegenheit» übersetzte ich. Die Wörter kamen wieder.

Bis auf den Wein stellte ich alles andere auf ein Tablett, das ich ebenfalls im Regal fand, befüllte die Cafetiere mit Wasser und Kaffeepulver und stellte sie auf den Herd. Während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte, betrachtete ich die Küche. Sie wirkte benutzt, aber gepflegt. Alles war sauber, vieles aus Holz selbst zusammengezimmert. Ich nahm mir vor, später eine Inventur zu machen, um herauszufinden, was alles zu besorgen war.

Ich schaute mich weiter im Wohnbereich um, hatte Claudia nicht gesagt, hier hinge ein Bild, das ihr Mann gemalt hatte? Ich ging rüber zur Couch, setzte mich und sank ein Stück ein. Da entdeckte ich neben der Kommode etwas auf dem Boden stehen. Ein gerahmtes Bild, das zur Wand gerichtet war und kleiner als das in Claudias Büro. Gestern Abend im Halbdunkeln hatte ich es wohl übersehen. Ich ging rüber, nahm es hoch und drehte es um. Es war genau die provenzalische Landschaft darauf zu sehen, die Claudia beschrieben hatte. Außerdem ein kleines Steinhäuschen mit mintfarbenen Fensterläden, einer Terrasse mit Tisch und Stühlen und jeder Menge Terrakottatöpfen auf dem Boden. Es musste dieses Häuschen sein. An dem Tisch saß eine Frau und las ein Buch. Sie wirkte jung, dunkles Haar, schmale Statur. Eine leichte Gänsehaut überzog mich. Dieses Bild hatte ich seit Jahren im Kopf. Ich stellte es auf die Kommode, ab jetzt sollte es mich immer an meinen Traum erinnern. Diese Frau auf dem Bild wollte ich sein.

Da hörte ich das Wasser brodeln und lief wieder in die Küche, um mir mein Frühstück zu servieren, das ich im Garten genießen wollte. Mein erstes Frühstück auf der Terrasse mit den warmen Terrakottafliesen.

Ich setzte mich an den Tisch und nahm den ersten Schluck. Der Kaffee war fantastisch, ich musste Claudia unbedingt fragen, wo es den gab. Ich lehnte mich zurück und versuchte den Moment zu genießen. So wie jetzt konnte es immer sein.

Nach einer Stunde hatte ich meine wenigen Sachen, die ich aus Deutschland mitgenommen hatte, auf die Zimmer verteilt. Nach zwei weiteren Stunden hatte ich mein kleines Häuschen inspiziert und eine Liste erstellt mit den Dingen, die ich besorgen musste. Die nächsten zwei Wochen wollte ich mich voll auf mein neues Zuhause konzentrieren. Erst mal einrichten und Ordnung schaffen, bevor das Schreiben losgehen konnte.

Eins nach dem anderen.

Mir fiel Kati ein, bei der ich mich melden sollte, wenn ich mich eingerichtet hatte. Jetzt war es doch eine Einrichtung – für ein neues Zuhause und ein neues Leben.

Auf der Küchenarbeitsplatte lag ein Zettel mit Adressen von zwei Einrichtungshäusern, Alinéa und Fly. Dort sollte ich online bestellen, wenn ich nicht stundenlang im Auto sitzen wolle, war Claudias Empfehlung. Ich nahm es mir für den Nachmittag vor, doch zuerst einmal musste ich duschen und mich mit frischen Lebensmitteln versorgen. Heute war Samstag und damit Markt in La Motte.

Das kleine Gartentor stand offen und besaß kein Schloss, was auch wenig nützen würde, da man einfach drübersteigen konnte. Ich schob das Fahrrad raus auf den kleinen Weg, der neben dem Garten her zur Straße hin und in die andere Richtung zu den Feldern hinter dem Haus führte. Ich schwang mich mit meinem Rucksack auf dem Rücken auf den Sattel und versuchte, mich zu orientieren. Radelte langsam die Schotterstraße entlang, an zwei Häusern vorbei, die ruhig in der Mittagssonne lagen. Es war niemand zu sehen. Am Ende rechts auf die Hauptstraße, die ins Dorf führte.

Der Marktplatz war klein, dennoch schoben sich jede Menge Menschen dicht gedrängt von Stand zu Stand. Doch es war kein eiliges Drängen, eher eine schwingende Masse, bei der Zeit keine Rolle spielte.

Ich stellte mein Fahrrad an eine Hauswand und hoffte, dass es noch da wäre, wenn ich wiederkam. Doch dann fiel mir ein, dass ich ja nicht in Berlin war.

Es war warm, ich trug nur eine dünne Sommerhose, mein T-Shirt steckte unordentlich im Bund. Meine Haare hatte ich zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden und auf meinem Kopf saß meine Sonnenbrille mit den großen runden Gläsern, die mein halbes Gesicht verdeckten, wenn ich sie aufsetzte. Ich mochte sie. Ein Geschenk von Marc zu meinem letzten Geburtstag. Ich konnte sie nicht weggeben, wollte noch ein kleines Stück von ihm bei mir tragen.

Ich näherte mich den Marktständen, nur wenige Leute konnte ich als Touristen ausmachen. Die Männer in langen Stoffhosen oder Jeans mit Hemd, die Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Einige mit Schiebermütze auf dem Kopf. Die Frauen in bunten, leichten Kleidern. Da war sie wieder, diese zufällige Lässigkeit, in der sie schon am Morgen ihre Kleiderwahl getroffen hatten.

Ich schob mich von Stand zu Stand und atmete den Duft von frischen Tomaten, Kräutern, Käse, Honig und getrocknetem Lavendel ein. Genau so hatte ich es mir vorgestellt. Genau so.

«Vous devez absolument goûter ce miel, Madame! »

Ich drehte mich um, ein älterer Herr hinter einem Honigstand lächelte mich an und hielt mir ein Stück Baguette hin, das mit Honig bestrichen war. Ich tat ihm den Gefallen und kostete. Der süße Geschmack mit dem Hauch einer Lavendelnote breitete sich augenblicklich in meinem Mund aus.

«Oh, trés bon, trés bon!», brachte ich zustande und entlarvte mich mit meinem deutschen Akzent als Nicht-Französin.

«Ah, Sie aus Allemagne . Sie auch guten ’onig ’aben, aber ’ier besser. Echter miel de lavande », sagte der Verkäufer, nahm eins der Honiggläser und schwenkte es bedeutungsvoll durch die Luft.

Ich kaufte ein großes Glas, sehr zu seiner Freude, und steckte es in meinen Rucksack. Dieser Honig sollte meinem Frühstück auf der Terrasse das i-Tüpfelchen verpassen.

Ich schlenderte weiter und probierte mich durch. Man durfte hier alles kosten, bevor man es kaufte. Mein Rucksack füllte sich mit süßlichen, kräftig roten Tomaten, Paprika, Auberginen, diversen Käsesorten mit heimischen Kräutern, cremigen Aufstrichen in kleinen runden Gläschen, saftigen Pfirsichen, Oliven und Olivenöl, Melonensirup und frisch gebackenem Baguette. Neben den ganzen Lebensmitteln gab es die typischen Lavendelstände mit unzähligen Seifen und lilafarbenen Duftsäckchen mit getrocknetem Lavendel, hübsch verpackt als Mitbringsel für zu Hause. Als nichts mehr in meinen Rucksack hineinpasste, setzte ich mich in ein schon gut gefülltes, kleines Café am Rande des Marktplatzes und bestellte einen café crème und ein Glas Mineralwasser.

Ein melodisches Stimmengemurmel in einer angenehmen Lautstärke umgab mich. Obwohl es voll war, wirkte alles entspannt. Die Franzosen beherrschten ihr Savoir-vivre nahezu perfekt. Ich beobachtete das Treiben vor mir und dachte an Marc. Daran, wie oft wir darüber gesprochen hatten, so einen Urlaub in Frankreich zu machen. Wie oft ich darüber gesprochen hatte. Er konnte mir immer alles erfüllen und kaufen, solange es in seinen Plan passte. Doch diesen Urlaub, den schob er immer wieder auf. Es kamen andere Urlaube, in großen Anlagen auf kleinen Inseln. Je weiter weg, desto besser. Wer brauchte schon Europa, wenn er die ganze Welt sehen konnte? Ich beschwerte mich nicht. Wieso auch? Wir schwelgten im Luxus. So ein Urlaub wie hier war ihm nicht gut genug. Er wollte nicht auf Märkten einkaufen, er wollte nicht kochen. Er wollte, dass andere das für uns taten. Er wollte nicht auf einfachen Stühlen sitzen. Er wollte flauschige Polster. Er hob ab. Und ich schwebte mit ihm über dem Boden. Ich wünschte, Marc wäre hier, wünschte, er könnte das hier mit mir erleben. Ich wünschte mir den alten Marc zurück.

Mein café crème kam, im Milchschaum schwamm ein Herz aus Kakaopulver. Ich tauchte den kleinen, silbernen Löffel hinein, und das Herz löste sich langsam auf. So wie meins. Ich wollte es festhalten, wollte, dass es funktionierte. Aber das tat es nicht. Nicht mehr.

Ich trank einen Schluck, die warme, hellbraune Flüssigkeit verteilte sich in meinem Mund. Zwischen Zunge und Gaumen schmeckte ich die perfekte Mischung aus Kaffee und Milch – mit dem Beigeschmack französischer Leichtigkeit. Und die brauchte ich dringend. Mein Leben war so schwer geworden. Zu viel Gepäck. Ich musste es loswerden und mich wieder leicht fühlen, bevor die Schwere mich vollständig erdrückt hätte. Frankreich sollte mir dabei helfen. Das Land der Leichtigkeit. Ja, das alles hier wollte ich. Und alles andere wollte ich nicht mehr. Auch wenn es wehtat.

Vogel

Ich betrachtete die Liste an Dingen, die ich besorgen wollte. Für das Haus. Für mich. Für die, die nach mir hier wohnen würden. Ich saß im Garten, meine nackten Füße im Gras. Den kleinen Tisch und einen der Stühle hatte ich auf die Wiese in den Schatten des Kastanienbaums gestellt. Hier würde ich die nächsten Wochen, Monate schreiben. Bei Regen im Schlaf-Arbeitszimmer. Mit Blick nach draußen.

Ich konzentrierte mich wieder auf die Liste: Bettdecke, Kopfkissen, Bettwäsche, Handtücher, einen großen Spiegel, den ich neben dem Bauernschrank auf den Boden stellen konnte, ein kleines Bücherregal, einen Couchtisch, eine Steh-Leselampe und einen Teppichläufer für den Wohnbereich – die Bodenfliesen im Haus waren kühl. Ein Set Saft- und ein Set Weingläser, Kaffeebecher, Teller, Besteck – davon gab es nur jeweils zwei Stück –, zwei weitere Töpfe, eine Pfanne. Farbe für die Fensterläden, Farbe für Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer. Ein paar bunte Kissen. Gartenmöbel – einen etwas größeren Tisch und eine gemütliche Sitzbank. Einen großen Sonnenschirm und eine Hängematte. Ich würde es auf jeden Fall schön herrichten, mein neues Leben. Ohne Marc. Das erste Mal bestückte ich eine Wohnung allein. Musste mich mit niemandem einigen, keine Kompromisse eingehen. Kein Streit.

Kein Versöhnungssex. Keine gemeinsame Freude. Kein gemeinsames Anstoßen auf die neue Wohnung.

Keine gemeinsame Zukunft. Nur meine eigene.

Ich klappte meinen Laptop auf, ging auf die Seite eines der Einrichtungshäuser – Alinea – und bestellte die Küchenutensilien. Es fühlte sich gut an, meine neue Adresse in die Zeilen zu tippen. Alles andere bekam ich bei Fly. Ich entschied mich für einen zwei Meter langen Spiegel mit einem schmalen roséfarbenen Rand aus Metall, zwei vierstöckige Regale aus Holz, eine Stehlampe mit einem Lampenschirm in vert fôret und einen flachen, eckigen Tisch in bleu ciel . Dazu ein paar mintgrüne und ozeanblaue Kissen, einen bunten, länglichen Teppich sowie mint- und fliederfarbene Handtücher und Bettwäsche. Gartenmöbel bekam ich dort ebenfalls. Innerhalb der nächsten drei Tage sollte alles ankommen.

Jetzt brauchte ich nur noch Farbe. Dafür setzte ich mich ins Auto und fuhr ins zehn Kilometer entfernte Pertuis, wo es laut Internet einen großen Handel für Handwerker- und Malerbedarf gab. Die ganzen Anschaffungen rissen das erste kleine Loch in mein finanzielles Polster.

Am frühen Abend war ich zurück und schleppte meine Errungenschaften ins Haus. Die weiße Farbe ins Wohnzimmer und die Küche, Salbeigrün ins Schlaf- und Schreibzimmer. Mintgrün für die Fensterläden – die Farbe der Provence.

Das letzte Mal, als ich selbst gestrichen hatte, war ich neunzehn. Ich wollte den furchtbaren Rauchergeruch meines Vormieters aus dem WG-Zimmer vertreiben.

Morgen würde ich mit dem Streichen anfangen. Eins nach dem anderen.

Mir fiel die Flasche Rosé ein, die im Kühlschrank stand. Jetzt war eine gute Gelegenheit. Ich holte sie raus, öffnete sie mit dem Korkenzieher, den ich im Küchenschubfach gefunden hatte, und goss mir einen großen Schluck in das einzige Weinglas, das einsam im Regal stand. Dazu riss ich mir ein großes Stück Baguette ab, nahm eine Handvoll Tomaten und ein Stück würzig riechenden Käse. Ich trug alles raus auf die Terrasse, die Dämmerung setzte schon langsam ein. Beschwingt streifte ich meine Turnschuhe von den Füßen und spürte die immer noch leicht warmen Terrassenfliesen unter meinen Fußsohlen. Das hatte etwas Beruhigendes.

Ich probierte einen Schluck des kühlen Weins und war überrascht, wie gut er schmeckte. Kaum Säure, fruchtig. Er schmeckte nach Sommer, ohne süß zu sein. Claudia hatte einen guten Geschmack. Ich schaute mir das Etikett genauer an. Château Dupont bei Ansouis. Soweit ich wusste, lag das ganz in der Nähe, dann würde ich in den nächsten Tagen vorbeifahren und Nachschub holen. Ich wollte im Internet nachschauen und stand auf, um mein Handy zu suchen. Ich hatte es den ganzen Tag nicht dabeigehabt. Total vergessen. Es lag noch oben neben dem Bett auf dem Fußboden.

Zehn neue Nachrichten, fünf verpasste Anrufe. Meine Eltern! Ich hatte ganz vergessen, mich zu melden. Zwei Anrufe von Lotta waren dabei, genau wie drei Nachrichten. Eine weitere von Kati. Ich ging wieder runter und rief meine Mutter an.

«Karla, Kind, warum meldest du dich nicht?» Sie hatte bereits nach dem ersten Klingeln abgehoben, klang äußerst besorgt und gleichzeitig beruhigt.

«Entschuldige, Mum, hatte mein Handy den ganzen Tag nicht dabei. Musste hier erst mal ankommen. Ich war schon auf dem Markt und habe die ersten Besorgungen fürs Haus gemacht.»

«Ich hatte mir Sorgen gemacht und wollte schon Merle anrufen, damit sie mir die Nummer von Claudia geben kann ... Wie ist es denn, gefällt es dir? Kauf bloß nicht zu viel, du wirst es ja nicht behalten können und du musst dir dein Geld einteilen.»

Schon wieder das Geldthema.

«Nein, Mum, es sind nur Sachen, die ich hier wirklich brauche. Es ist toll hier. Ich liebe es. Wirklich. Die Größe ist perfekt und die Wände, weißt du, es ist ein richtiges Steinhaus. Und der Garten, er ist groß und ... wunderschön.» Ich schloss die Augen. Jetzt, wo ich es aussprach, kam es in meinem Kopf an.

Ich erzählte meiner Mutter von Claudia und ihrer Buchhandlung, vom Markt in La Motte, von meinen Einrichtungsideen – und merkte selbst, wie aufgekratzt glücklich ich deshalb war.

«Hauptsache, du fühlst dich wohl, Karla. Das ist wirklich die Hauptsache.»

Ich konnte die Sorge und die Liebe meiner Mutter spüren. Durchs Telefon hindurch. Das Wichtigste für sie war immer, dass es mir gut ging. Und wenn es das nicht tat, konnte sie es kaum ertragen. So wie Mütter eben sind. Aber meine war noch mal anders. Sie wollte nicht nur, dass es mir gut ging, sie wollte mich in Watte packen und jegliches Schlechte von mir fernhalten. Aber genau das war jetzt gerade zu viel für mich. Ich wollte mir beweisen, dass ich mich selbst um mich kümmern konnte. Ich wollte diesen mühsamen Weg gehen, den ich mir immer schon zurechtgelegt, aber bei dem ich dann doch die richtige Abzweigung verpasst hatte. Stattdessen bin ich dem Strom gefolgt, bin die Hauptstraße gegangen, die alle gegangen sind.

Karriere. Haus. Kind. Irgendwann.

Immer höher kommen. Immer weiter. Sicher war sicher.

«Wir wollen dich gern besuchen, Karla. Ein bisschen im Garten helfen, und wir waren auch schon so lange nicht mehr in Frankreich. Vielleicht Ende Juni für ein paar Tage? Wir könnten uns eine Unterkunft in der Nähe suchen.»

«Nein, Mum, ihr wohnt natürlich bei mir. Ich kann unten auf der Couch schlafen und ihr oben im Schlafzimmer. Ich stehe sowieso früh auf, um zu schreiben.»

«Aber nur, wenn es dir auch wirklich passt», rief mein Vater wieder im Hintergrund.

«Ja, kommt. Ich freue mich auf euch!» Und das war ernst gemeint. Ich freute mich, meinen Eltern zeigen zu können, wo ich jetzt wohnte. Wenn auch nur vorübergehend. Ich freute mich, ein paar Tage nicht allein zu sein. Und ich freute mich, ein Stück Kindheitserinnerungen aufleben zu lassen. An unsere Urlaube in Frankreich. An die Unbeschwertheit.

Schließlich las ich Lottas Nachrichten.

Karla, Süße, was hältst du davon, wenn ich dich besuchen komme? Du hast mir echt Lust gemacht! Ich habe im Juli drei Wochen frei. Ist das nicht großartig? Und Dave hat hier zu tun. Meld dich!

Und ob das großartig war! Lotta und ich drei Wochen hier in der Provence. Dieser Sommer war jetzt schon ein Highlight.

Magnifique , schrieb ich zurück. Kann es kaum erwarten!

Die letzte Nachricht war von Kati.

Hey, Karla, ich dachte, ich schreibe dir einfach mal. Sind denn alle Pakete angekommen und konntest du was verkaufen? Wie gehts dir und wo bist du jetzt? Wäre cool, wenn wir mal quatschen könnten. Hast dich ja einfach davongeschlichen ... Meld dich mal. Liebe Grüße auch von Jakob.

Irgendetwas in mir wollte, dass sie mir von Marc erzählte. Ob sie mit ihm über mich gesprochen hatte, wie es ihm ging. Was er ihr und den anderen erzählt hat. Ob er überhaupt was erzählt hat. Ich war kein Teil mehr von seinem Leben, und obwohl ich das so wollte, machte es mich traurig.

Ich schrieb nicht zurück. Wusste nicht, was. Ich hätte gerne mit ihr gesprochen, hatte aber keine Ahnung, wie ich es ihr erklären sollte. Wir hatten immer nur ein recht oberflächliches Verhältnis gehabt. Wahre Probleme gab es nicht. Und wenn, dann wurden sie in Konsum ertränkt. Und trotzdem war da etwas unter dieser Oberfläche. Ich hatte immer das Gefühl, dass es da doch irgendetwas gab, das uns verband. Viel wusste ich nicht über Kati, nur, dass sie aus einer nicht gerade wohlhabenden Familie kam, zwei jüngere Brüder hatte und ihre Eltern die meiste Zeit von Sozialhilfe lebten. Kati hasste ihre Vergangenheit. Sie erwähnte es einmal beiläufig zwischen ein paar Gläsern Wein. Umso mehr achtete sie darauf, dass alle mitbekamen, dass sie zur «oberen Liga» gehörte. Sie arbeitete als Controllerin in einem großen Konzern und war auch selten vor einundzwanzig Uhr zu Hause. «Von Spaß kann keine Rede sein, von Kohle schon», sagte sie einmal zu mir, als ich sie gefragt hatte, ob sie ihren Job eigentlich gern machte. Im vergangenen Jahr hatten sie und Jakob geheiratet, ein angesehener Anwalt für Familien- und Erbrecht. Auf ihren Partys, die sie mehrmals im Jahr gern und ausgelassen feierten, gab es echten Champagner und kleine Kanapees, die als Flying-Buffet serviert wurden und von denen ich nie satt wurde. Doch als ich einmal zufällig ihre wunderschönen Illustrationen sah, die aus ihrem übergroßen, in Leder gebundenen Notizbuch fielen, als sie es hastig wegräumen wollte, fing ich an, sie zu mögen. Offenbar hatte sie noch eine andere Seite – eine kreative und scheinbar auch eine verletzliche. Irgendwann später sprach ich sie darauf an, doch sie winkte ab. Als Illustratorin verdiene man doch nichts.

Die nächste Woche verbrachte ich mit Streichen.

Streichen. Essen. Schlafen. Streichen.

Das Haus verließ ich nur fürs Einkaufen.

Zwischendurch wurden meine Bestellungen geliefert und ich stapelte die Kartons hinter dem Sofa. Dann strich ich weiter.

Claudia kam vorbei und brachte mir mehr von dem guten Kaffee. Ein kleines Einweihungsgeschenk.

«Oh, trés beau, Karla! », rief sie und klatschte in die Hände. «Wie viel schöner es jetzt hier schon aussieht!» Und es war ihr ein persönliches Anliegen, dass das Bild, das ihr Mann gemalt hatte, wieder an der Wand hing. Sie brachte Hammer und Nägel mit und wir hängten es gemeinsam über der Kommode im Wohnzimmer auf. Jeden Tag betrachtete ich es und jeden Tag erinnerte es mich an meinen Traum. Und so langsam fühlte ich mich hier etwas wie in einem Zuhause. Mit jedem Pinselstrich ging mein Leben voran. Ich las die Romane, die Merle mir gegeben hatte, und stellte sie in mein neues Bücherregal. Ich pflanzte französische Kräuter in dem Beet im Garten und briet mir abends frisches Marktgemüse in der neuen Pfanne. Ich schickte Lotta und meinen Eltern Fotos von meinen Fortschritten. Ma nouvelle vie! , schrieb ich dazu und sendete lachende Smileys mit Sternen in den Augen hinterher.

Noch hatte ich Ablenkung, noch schaffte ich es, nicht weiter an Marc zu denken, geschweige denn ihm zu schreiben, um ihm zu sagen, wo ich jetzt war und wie mein Traum sich langsam verwirklichte. Ich wollte ihm so viel erzählen. Und auch wieder nicht. Es zerrte an mir, dass wir einfach so auseinandergegangen waren. Es zerrte, dass er so wenig getan hatte, damit ich blieb. Er hatte mich die letzten Jahre immer mit sich gezogen. Manchmal kam ich kaum hinterher. Aber jetzt hatte sich die Richtung geändert.

In den letzten Monaten war ich immer seltener dabei gewesen. Ich hatte keine Lust mehr auf die immer gleichen Partys, die immer gleichen Gespräche, den immer gleichen Luxus. Es langweilte mich. Es frustrierte mich. Ich fand mich selbst oberflächlich und irgendwann unausstehlich. Da war nichts Spannendes mehr. Alles war so glatt und seicht und windstill. Doch ich wollte Wellen, Wind und Berge. Ich wollte das Leben spüren. Ich fing wieder an, mehr zu lesen. Hatte es jahrelang ausgesetzt. Da war keine Zeit. Jetzt nahm ich sie mir. Das Lesen setzte meine Fantasie in Gang. Immer mal wieder schrieb ich ein paar Sätze auf, die mir so einfielen. Für ein Buch. Irgendwann.

Dann kam der Streit. Marc wollte mich mal wieder mitziehen. Sein Chef, «der von ganz oben», wie er ihn immer nannte, kannte meinen Chef von ganz oben. Ein Geschäftsessen, ein bisschen plaudern, zeigen, was man draufhatte. Vorfühlen für seine Beförderung und für meine. Die erst mal in der Tasche und wir wären bereit für den nächsten Schritt. Kinder. Ich wollte Kinder, aber keine Beförderung. Das sagte ich ihm und er ging allein zum Essen. Als er wiederkam, diskutierten wir die ganze Nacht. Was aus uns geworden war. Was werden könnte. Was ich eigentlich wollte. Was er wollte.

«Das ist nur eine Phase, Karla.» Das war Marcs Lieblingsspruch. «Denk doch mal nach! Du kannst doch jetzt nicht alles hinschmeißen, nur weil du plötzlich deine Schreiblust wiederentdeckt hast. Das kannst du doch nebenbei machen. Mach es von mir aus in der Elternzeit, da hast du doch genug Zeit für so was.»

Wann war das passiert? Wann hatte ihm das Geld so das Gehirn vernebelt? Wie ein Fremder war er auf einmal.

Ich war wütend. So wütend, dass die Wörter, die sich in meinem Hals ansammelten, einen Stau verursachten. Jedes wollte das Erste sein. Keines kam raus. Wann hatte unsere Liebe aufgehört? War sie noch da?

Als Nächstes kam der Schmerz. Das Bewusstsein darüber, dass wir vielleicht keine gemeinsame Zukunft hatten. Langsam schlich es sich von hinten an mich heran.

Es folgten weitere Nächte mit weiteren Diskussionen. Leiser. Aber je leiser es wurde, desto ernster wurde es. Dann kam die Stille. Und dann zog ich aus.

Ich kratzte die letzte Farbe aus dem Farbtopf und betrachtete mein Werk. Die Fensterläden sahen wieder aus wie neu. Das Mintgrün passte perfekt zur beigefarbenen Hauswand. Die Abendsonne spiegelte sich im Fensterglas und tauchte alles in ein warmes orangerotes Licht. Ich legte den Pinsel zur Seite, ich war fertig. Fertig mit dem Streichen. Fertig mit unserer Beziehung. Acht Jahre hatte ich einfach so beendet. Ich wusste, dass Marc mir die Schuld gab. Ich war die, die gehen wollte. Nicht er. Er wollte, dass ich blieb, aber wollte nichts dafür tun. Aber ich war ihm nichts schuldig. Sein Leben, so wie er es jetzt führte, war ihm wichtiger als ich. Deshalb ließ er mich gehen. Doch an manchen Tagen tat diese Gewissheit so weh, dass es mir fast die Luft abschnürte.

Es wurde Zeit, an meinem Roman weiterzuschreiben. Ich hatte alles erledigt, mich eingerichtet, war angekommen. Jetzt wollte ich den Traum vom Schriftstellerinnendasein in einem Häuschen in der Provence auch leben. Ich hatte alles geschafft und es fühlte sich immer noch merkwürdig an. Wohl niemand hätte mir zugetraut, dass ich diese Schritte wirklich gehe. Noch nicht mal ich selbst. Alles aufzugeben, was man sich jahrelang aufgebaut hat, war einfach unvorstellbar. Und doch war es möglich. Das Schwierigste ist immer, die Entscheidung zu treffen. Den leisen Verdacht, dass dahinter die Welt zu Ende sein könnte, zu entkräften. Was, wenn es nicht so ist, und sich ein Leben voller ungeahnter Möglichkeiten auftut? Man würde laufen und laufen und nicht herunterfallen. Denn immer, wenn man meint, den Horizont, das Ende, erreicht zu haben, käme ein neuer.

Was, wenn es gut wird?

Ich richtete mir meinen Schreibplatz auf der Terrasse ein und spannte den Sonnenschirm auf – die Temperaturen stiegen tagsüber schon bis auf zwanzig Grad. Doch eine Sache wollte ich noch erledigen, bevor ich wieder loslegte.

Vogel

Das Weingut Château Dupont lag nur etwa fünfzehn Autominuten in südlicher Richtung. Ich bog in die mit Zypressen gesäumte Zufahrt ein, das breite Metalltor am Ende stand offen und ich fuhr langsam über den Schotterweg auf das große Steinhaus zu. Rund um das Anwesen eröffneten sich die Weinfelder.

Das Château Dupont war eins der kleineren Weingüter, Claudia hatte mir erzählt, dass der Sohn des Winzers das Gut zum größten Teil übernommen hatte und sich lieber um weniger Felder kümmern wollte, doch dafür alles nachhaltig bewirtschaftete. Einen Teil der Felder, die nicht unmittelbar um das Gut lagen, hatte er deshalb verkauft. Claudia holte ihren gesamten Wein von diesem Gut. Außerdem sprach man hier Deutsch, was mich überhaupt erst ermutigte, persönlich hinzufahren.

Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus standen drei Autos, doch sonst war niemand zu sehen. Ich stellte mich auf einen der letzten freien Plätze und stieg aus. Ein kleiner, wie ein Cocker Spaniel aussehender Hund lief schwanzwedelnd auf mich zu und bellte ein paar Mal. Zögerlich ging ich weiter, vor bellenden Hunden hatte ich Respekt. Doch da verschwand er auch schon wieder.

Das Haus hatte vorne einen trapezförmigen Anbau mit einer großen eingefassten doppeltürigen Glasfront. Die Tür stand offen und ich trat ein. Der Anbau war als Verkostungsraum eingerichtet worden. Im vorderen Bereich standen einige Stehtische aus massivem Holz und ein paar alte Weinfässer, die ebenfalls als Tische fungierten. Auf jedem Tisch stand eine leere Weinflasche mit frischen Wiesenblumen darin. An den Wänden hingen große, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien mit lachenden Menschen als Porträt- oder Gruppenaufnahme aus verschiedenen Generationen. Ich mochte es auf Anhieb.

Hinter den Tischen auf der rechten Seite befand sich ein langer Tresen mit einem großen Weinkühlschrank dahinter und einem Regal mit Weingläsern, das bis zur Decke reichte. Die oberen Regalflächen füllten unzählige leere Weinflaschen mit signierten Etiketten. Daneben führte eine geschlossene Tür vermutlich ins hintere Haus oder in ein Büro. Auf der linken Seite des Raumes waren fein säuberlich jede Menge Holzkisten gestapelt. Solche, die für den Weintransport verwendet wurden.

«Bonjour Mademoiselle, comment puis-je vous aider? »

Etwas erschrocken drehte ich mich um, in der Glastür stand ein Mann und trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab und legte es sich anschließend lässig über die Schulter. Die Sonnenstrahlen, die hinter ihm in den Raum fielen, warfen einen Schatten auf sein Gesicht, doch ich konnte erkennen, dass er ungefähr in meinem Alter sein musste. Ich blinzelte gegen die Sonne, die jetzt ausgerechnet genau durch die Lücke lugte, die sich zwischen seinem Kopf und dem Türrahmen befand. Kurz überlegte ich, meine riesige Sonnenbrille aufzusetzen, die ich mir wieder ins Haar gesteckt hatte.

«Ähm, pardon ... äh, parlez vous allemand? » Ein Satz, den ich mir vorher schon zurechtgelegt hatte. Zusammen mit: Parlez vous anglais?

«Ah, non Mademoiselle, je suis désolé. » Er machte einen Schritt weiter in den Raum hinein und lehnte sich gegen eins der Weinfässer. Jetzt konnte ich sein Gesicht erkennen und unsere Blicke trafen sich.

Er hatte dunkles Haar, das etwas strubbelig abstand. Ein unordentlicher Dreitagebart umrahmte sein Gesicht. Er war groß, größer als ich mit meinen eins einundsiebzig, und trug eine ausgeblichene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt. Seine Arme sahen trainiert aus. Wie bei jemandem, der sich viel draußen bewegte und mit anpackte.

Ich hatte extra eine weiße Bluse angezogen, weil ich dachte, dass man das auf einem Weingut so trug, und fühlte mich etwas overdressed.

«Oh», brachte ich nur heraus und versuchte es weiter mit: «Anglais? »

Ich glaubte, ein winziges Mundwinkelzucken bei ihm zu erkennen. «Je suis trés désolé, Mademoiselle, mais peut-être pouvez-vous essayer le francais? »

Ob ich es nicht auf Französisch versuchen könnte, immerhin verstand ich ihn einigermaßen. Ich fing an zu schwitzen, verdammt, Claudia hatte mir doch gesagt, man könne hier Deutsch. Wenigstens Englisch hätte ich gedacht. Ich musste unbedingt mein Französisch auffrischen, sonst kam ich hier keine fünf Meter weit.

«Le vin rosé ... äh ... ‹Pour toutes les occasions› ... il est trés bon et ... äh ... je veux acheter », stammelte ich. Mittlerweile hatten sich unangenehme nasse Flecken unter meinen Achseln gebildet. Ich presste meine Arme enger an mich. Aber das musste er jetzt verstehen. Dass «kaufen» acheter hieß, hatte ich mir vorher zur Sicherheit noch mal von meiner Übersetzungs-App bestätigen lassen.

«Ah, le rosé! » Ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus und in seinen Augen blitzte es fast unmerklich. Machte er sich lustig? Was für ein Blödmann. Auf einmal war es mir peinlich, auf einem Weingut in der Provence zu fragen, ob man mit mir Deutsch sprechen könnte. Am liebsten wäre ich einfach wieder gefahren. Andererseits, er kannte mich nicht. Konnte mir also auch egal sein.

«Peut-être c'est une occasion en ce moment? » Er schaute mich fragend an, doch als ich nichts erwiderte, ging er rüber zum Kühlschrank und holte eine Flasche Rosé heraus, stellte zwei Weingläser auf den Tresen und schenkte ein. Offenbar war das jetzt eine Gelegenheit – eine occasion .

Er reichte mir ein Glas und fing an, seins ein wenig zu schwenken, dann hielt er es sich an die Nase und roch daran. Dieses Wein-Probieren hatte ich immer lächerlich gefunden, ein dämliches Männergehabe, um zu zeigen, dass sie Ahnung von Wein hatten. Und warum überhaupt wurde im Restaurant immer dem Mann der erste Schluck ins Glas geschenkt, damit er probieren konnte?

Doch hier wirkte es nicht lächerlich. Es war kein «Guck mal, was ich draufhabe». Es wirkte völlig normal.

Interessiert beobachtete ich ihn, er schien in seinem Element zu sein. Dann hob er sein Glas in die Höhe, schaute mich an und sagte: «Santé. »

«Santé », erwiderte ich, entspannte mich ein wenig und probierte ebenfalls einen Schluck. Der Wein schmeckte immer noch nach Sommer.

«Au fait, je suis Olivier », versuchte er unsere stockende Konversation weiter fortzuführen, nachdem er sein Glas wieder abgesetzt hatte.

Jetzt wurden also die Namen ausgetauscht. Das sollte ich hinbekommen. «Je suis Karla », antwortete ich, «et je ne parle pas bien le francais », fügte ich schnell hinzu, bevor er noch weitersprach.

«Pas de problème. Nous nous comprendrons », antwortete er grinsend und prostete mir erneut zu.

Ich trank einen weiteren Schluck und versuchte mir angestrengt zusammenzureimen, was «Ich würde gerne sechs Flaschen mitnehmen» auf Französisch hieß. Ich zog mein Handy aus der Tasche und gab es in meine Übersetzer-App ein. War mir egal, wie Olivier das nun fand.

Als ich wieder aufschaute, sah ich, wie er mich amüsiert beobachtete. Seine Mundwinkel zuckten schon wieder leicht und sein Blick wirkte belustigt. Was dachte der sich eigentlich?

«Je voudrais prendre six bouteilles », sagte ich mit fester Stimme, trank den letzten Probierschluck, lächelte und schulterte meinen Rucksack, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich gehen wollte.

«Trés bon, Karla. Je tu donne un carton. »

Er ging nach hinten, durch die Tür, wo sich wahrscheinlich das Lager befand, und kam wenige Sekunden später wieder heraus mit einem Weinkarton in der Hand. «Huit Euros la bouteille et quarante-huit Euros le total. » Er stellte den Karton auf einen der Stehtische und ich gab ihm meine Kreditkarte zum Bezahlen.

«Et voilà, merci Karla. » Mit einem strahlenden Lächeln, das gar nicht mehr nach Belustigung aussah, gab er mir meine Karte zurück. Etwas irritiert steckte ich sie ein, nahm den Karton und ging Richtung Ausgang.

«Merci et au revoir », rief ich ihm beim Rausgehen zu und lief zu meinem Auto. Geschafft. Das nächste Mal würde ich einfach online bestellen.

«Vielleicht bis bald, Karla. Der Sommer ist noch lang», hörte ich Olivier hinter mir rufen.

Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

Aufgebracht drehte ich mich um, Olivier stand an der Tür gelehnt, die Arme vor sich verschränkt und grinste.

Überfordert davon, wie ich darauf reagieren sollte, lief ich einfach weiter zum Auto, stellte den Karton auf den Beifahrersitz, stieg ein und knallte die Tür zu. Kurz zögerte ich, nach einer schlagfertigen Antwort suchend, doch es fiel mir nichts ein. Also startete ich den Motor und fuhr vom Parkplatz, ohne ihn noch mal eines Blickes zu würdigen.