Juli

Meine innere Unruhe hatte sich etwas gelegt, ich war mehr angekommen und diese Entspannung wirkte sich auch auf das Schreiben aus. Die Wörter sprangen förmlich auf das elektronische Papier. Wenn es ab jetzt weiter so gut lief, konnte ich in zwei Monaten fertig sein und mich dann an die Überarbeitung und Verfeinerung der einzelnen Szenen machen. Und ich konnte mein Exposé für die Literaturagenturen und Verlage erstellen. Das wiederum verursachte in mir noch ein unangenehmes Magengrummeln.

Ich behielt die Routine bei, vormittags zu schreiben und nachmittags etwas zu unternehmen oder mich einfach faul in die Hängematte zu legen und zu lesen. Ich hatte mir neuen Stoff bei Claudia besorgt und ihr außerdem die ersten fünfzig Seiten meines Manuskripts gegeben. Wenn jemand Ahnung hatte, dann sie. Nachdem es meiner Mutter so gut gefallen hatte, war ich etwas mutiger geworden. Doch nun lag es seit zwei Tagen bei Claudia im Büro und ich hatte Angst, dass sie es tatsächlich las.

In zwei Tagen kam endlich Lotta und sie bestand darauf, ebenfalls mein gesamtes bisheriges Manuskript zu lesen. Vor Lottas Meinung hatte ich keine Angst. Ihr Feedback wäre ehrlich und sie würde es mir schonend beibringen, wenn es nicht so gut ausfiel.

Wir hatten uns so lange nicht gesehen. Das letzte Mal war an besagtem Silvester gewesen. Und jetzt, achtzehn Monate später, war alles anders. Je näher ihr Ankunftstag rückte, desto ungeduldiger wurde ich.

Ich saß im Garten und wollte gerade reingehen, um mir einen Kaffee zu machen, da piepte mein Handy, das neben mir auf dem Stuhl lag. Kati. Wir schrieben uns jetzt ab und an und sie schickte mir Fotos von ihren neuesten Illustrationen. Sie zeichnete vornehmlich Frauen in verschiedenen Situationen und Positionen. Tanzend im Regen, liegend am Strand, sitzend auf einem Felsen am Meer oder stehend mit einem überdimensionalen Koffer in der Hand. Ich merkte, wie sie völlig darin aufging, und versuchte, sie zu ermutigen, mehr daraus zu machen. Doch Kati würde niemals ihren Job an den Nagel hängen und von vorn anfangen. Obwohl Jakob genug für eine zehnköpfige Familie verdiente. Er gehörte zu den leisen Männern. Die, die was draufhatten, es aber nicht an die große Glocke hängten. Er wollte immer schon Anwalt werden. Aus dem ganzen Schnickschnack, den Kati so liebte, machte er sich nichts, und ließ sie machen, wenn sie mal wieder ein völlig überteuertes Catering bestellte. Aber sie könnte es nicht ertragen, abhängig von ihm zu sein, und hielt krampfhaft an ihrem ungeliebten Job fest. Sie könnte es vernünftiger angehen als ich und ihre Stunden kürzen, schlug ich ihr vor, als wir mal wieder ein paar Nachrichten hin- und herschickten. Das könne sie in ihrer Position nicht bringen, hatte sie geantwortet. Sie hatte sogar Angst, schwanger zu werden, obwohl sie gern Kinder hätte. Weil sie dann als «Mutter» abgestempelt werden und ihr Ansehen und ihre Position verlieren würde. Und ihr Ansehen brauchte sie wie die Luft zum Atmen. Wer bin ich noch, wenn ich meinen Job und mein Geld nicht mehr habe? , schrieb sie mir einmal. Darauf hatte ich keine Antwort, das musste sie schon selbst herausfinden.

Trotzdem mochte ich sie immer mehr. Es machte mich ein bisschen stolz, dass sie sich so vertrauensvoll an mich wendete und ich sie offenbar inspirierte. Es war schon komisch, die ganze Zeit waren wir uns räumlich nah gewesen, aber ansonsten weit voneinander entfernt. Und jetzt war es genau umgekehrt.

Hey, Karla, es gibt News! Ich habe meine Illus einer Bekannten von Jakobs Arbeitskollegen gezeigt. Sie arbeitet in einer großen Agentur und die suchen immer mal wieder Illustratoren für die Frauenzeitschrift, die sie betreuen. Na ja, sie sind begeistert und hätten sogar einen Auftrag für mich. Allerdings würde das bedeuten, dass ich Nachtschichten einlegen muss. Ich überlege noch. Sie zahlen eigentlich nicht schlecht.

Wow, ich las ihre Nachricht ein zweites Mal. Ich freute mich ehrlich für sie.

Warum überlegst du da noch??! , schrieb ich zurück. Nimm dir Urlaub oder melde dich krank, aber MACH das! Was sagt Jakob?

Findet’s gut. Und er ist die nächsten zwei Wochen sowieso geschäftlich unterwegs. Das heißt, ich hätte Zeit ...

Ja, probier es unbedingt aus! Ich freu mich für dich!

Danke! Weißt du, es ist merkwürdig, jetzt, wo ich mich mehr auf das Illustrieren konzentriere, kommt diese Möglichkeit.

Ja, so war das im Leben. Wenn man den ersten Schritt wagte, konnte sich auf einmal alles verändern.

Wie läuft’s mit deinem Roman?

Gut, so langsam komme ich in den Flow. Ich denke, im September werde ich wirklich die ersten Verlage anschreiben.

Toll! Ich drücke die Daumen! Karla, ich wollte dir noch was erzählen ...

Oh. Ich wartete, bis die nächste Nachricht eintraf. Etwas drückte auf meinen Magen.

Vor zwei Tagen habe ich Marc bei Franziska auf dem Balkon sitzen sehen. Sie wohnt ja im zweiten OG, ich kann direkt draufgucken von uns aus.

Oh. Mir wurde etwas übel von dem Magendruck.

Ich wusste nicht, ob ich dir das überhaupt schreiben soll. Es war ja nichts. Sie haben ein Glas Wein getrunken. Es war Sonntagnachmittag. Und später habe ich gesehen, wie er joggen gegangen ist. Aber wenn ich es nicht erwähnt hätte, hätte ich mich schlecht gefühlt. Ich freu mich doch so über unseren Austausch!

Aber was nach dem Wein und vor dem Joggen passiert war, das wusste sie nicht. Mir wurde schlecht.

Einatmen. Ausatmen.

Er kann machen, was er will. Ich habe ihn verlassen. Man kämpft nur für das, was man liebt, hämmerte es in meinem Kopf.

Wenn du magst, können wir kurz telefonieren , schrieb sie weiter, als ich nicht reagierte.

Nein, ich wollte nicht telefonieren. Ich wollte gar nichts wissen. Ich wollte, dass Lotta endlich da war.

Wie sieht sie denn so aus? , schrieb ich. Das hatte ich jetzt nicht wirklich gefragt. Ich wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. Doch meine Finger hatten die Kontrolle übernommen.

Es wird nichts sein, Karla. Marc ist nicht so ein Typ.

Was für ein Typ? Der direkt mit der Nächstbesten ins Bett stieg? Immerhin hatte ich ihn in seinem Ego gekränkt. Das konnten die wenigsten Männer ab.

Okay, sie ist hübsch, schrieb sie weiter, lange, rote, lockige Haare. Sommersprossen. Gute Figur. Nett. Zumindest auf der Party bei Isabelle. Aber doch gar nicht sein Typ.

Und vielleicht gerade deshalb interessant. Alles in mir wollte nach draußen. Ich wollte raus aus mir, um dieses lähmende Gefühl nicht ertragen zu müssen. Marc und Franziska.

Einatmen. Ausatmen. Es ging mich nichts an.

Verdammt! Und ob es mich etwas anging!

Einatmen. Ausatmen.

Ich muss jetzt Schluss machen, Kati. Danke, dass du es mir gesagt hast.

Okay. Es tut mir leid. Soll ich dich weiter informieren?

Jaaaa!

Nein, ich will es lieber nicht wissen.

Okay. Melde dich, wie es mit deinem Buch läuft.

Mach ich.

Er hat dich nicht verdient, Karla.

Nein, hatte er nicht.

Eine heftige Sehnsucht packte mich und riss mich fort. Irgendwohin, wo ich nicht sein wollte.

Den restlichen und den nächsten Tag verbrachte ich im Bett. Ein einziger Satz, nur wenige Wörter und meine Welt geriet schon wieder ins Wanken. Ganz schön wackelig noch mein neues Leben.

Am übernächsten Tag kam Lotta. Endlich. Sie war von Vancouver nach Paris geflogen. Von Paris nach Nizza und von Nizza mit dem Zug über Toulon und Marseille nach Aix-en-Provence gefahren, von wo ich sie am frühen Abend mit dem Auto abholte. Sie hatte all die begehrten Schauplätze und französischen Hot Spots ausgelassen, um volle drei Wochen mit mir in meinem petit village zu verbringen.

Laut rauschend fuhr der Zug ein und quietschte leicht während des Bremsvorgangs. Ich saß auf einer Bank in der Mitte des Bahnsteigs und schaute abwechselnd nach links und rechts. Da! Dahinten stieg sie aus dem Zug. Ich sprang auf und lief ihr entgegen. Jetzt würde alles gut werden. Lotta war da. Ein älterer Herr half ihr, ihre Reisetasche aus dem Zug zu heben. Da war ich schon bei ihr und schlang von hinten meine Arme um sie.

«Karla!» Lotta kreischte und drehte sich um.

Wir umarmten uns stürmisch und hüpften dabei ein paar Meter über den Bahnsteig.

«Du siehst toll aus!», sagte ich, während ich mich kurz von ihr löste, um sie zu betrachten. Ihr Blumenkleid flatterte leicht im Wind und ihre langen dunklen Locken wirkten wilder als sonst. Trotz der langen Anreise sah sie tiefenentspannt aus. Sie strahlte förmlich.

«Karla, ich habe dich so vermisst», sagte sie und umarmte mich noch mal. Diesmal fester. «Das machen wir nie wieder, dass wir uns so lange nicht sehen! Lass dich anschauen, hey, du lässt deine Haare wieder wachsen. Und die Sommerbräune hast du auch schon erreicht. Und was ist das hier? Sommersprossen?» Sie lachte und stupste mir auf die Nase.

Ich wollte nicht an Sommersprossen denken.

Wir hakten uns unter, liefen zum Auto und ich nahm ihre Reisetasche, um sie in den Kofferraum zu legen. Sie war erstaunlich leicht.

«Du bleibst doch drei Wochen, oder? Du hast ja kaum was dabei.»

«Natürlich bleibe ich drei Wochen, Süße! Aber hier ist es doch warm, um nicht zu sagen heiß. Da braucht man doch nicht viel.»

Das stimmte. Mittlerweile war Hochsommer und die Temperaturen schossen täglich auf über dreißig Grad.

«Ich bin so froh, hier zu sein.» Sie drückte mich noch einmal fest an sich.

Die anderthalbstündige Fahrt zurück nach La Motte quatschten wir unaufhörlich und schmiedeten eifrig Pläne für die nächsten drei Wochen. Auch wenn wir das in den Tagen zuvor schon unablässig getan hatten. Und natürlich wollten wir an die Orte fahren, wo wir früher schon gewesen waren. Ich hatte mir das bisher alles aufgehoben, weil ich mit Lotta zusammen in Erinnerungen schwelgen wollte. Erinnerungen an eine Zeit, die gar nicht so weit weg lag, mir aber trotzdem wie eine Ewigkeit her vorkam.

«Karla! Das ist ja fantastisch hier!» Lotta klatschte begeistert in die Hände, während ich sie durchs Haus und schließlich in den Garten führte. Ich hatte ihr zwar schon jede Menge Fotos geschickt, aber hier zu sein war doch noch mal anders.

«Das hast du alles eingerichtet und gestrichen? Nicht, dass ich dir das nicht zugetraut hätte.» Sie grinste und setzte sich auf einen der Terrassenstühle. Hinter ihr leuchtete der Himmel in einem glühenden Orange. Sie streckte die Beine von sich und sank tiefer in den Stuhl. Sie sah jetzt etwas erschöpft aus, kein Wunder bei der langen Anreise. In Kanada war es jetzt zwölf Uhr mittags. Ihr fehlte eine ganze Nacht.

«Ich bring dir ein Wasser, Lotta, du siehst echt müde aus», sagte ich, ging in die Küche und füllte einen großen Glaskrug mit Wasser, Eiswürfeln und Limetten. Der Glaskrug war eine weitere Anschaffung meiner Mutter, damit ich nicht für jedes Glas Wasser erneut in die Küche rennen musste.

«Ja, ich bin echt platt», sagte Lotta, als ich zurückkam. «Wieso wohnen wir eigentlich so weit voneinander weg?» Sie trank das ganze Glas in einem Zug leer.

«Gute Frage. Vielleicht weil du einfach nach Kanada abgehauen bist?», antwortete ich lachend. «Wie gehts eigentlich Dave? Und warum lässt er dich drei Wochen allein reisen?»

«Ihm gehts gut. Ich soll dich auch unbedingt grüßen und ich soll es auf keinen Fall vergessen.»

«Okay, ich werde ihm später schreiben, dass du es nicht vergessen hast.»

«Er hat dieses Jahr ein Sommercamp, das er betreut», erzählte Lotta weiter, «drei Wochen lang führt er jeden Tag Kinder und Jugendliche durch das Naturschutzgebiet und erklärt ihnen, wie wichtig der Wald für uns Menschen ist.»

«Das ist so eine schöne und wertvolle Arbeit. Hast du die Kampagne dafür gemacht?»

«Jep, und es haben sich total viele angemeldet. Die Jungs und Mädels vom Teilnehmermanagement hatten ganz schön was zu tun.»

Lotta hatte für mich das perfekte Leben. Sie lebte in einem Land, das sie liebte, in der Natur, die sie liebte, mit einem Mann, den sie liebte und der sie liebte, und hatte dazu einen Job, den sie liebte und ihr außerdem einige Freiheiten bot. Ich freute mich so für sie. Früher war ich immer die Vernünftige gewesen von uns, sie die Wilde. Sie ließ keine Party aus und hatte keinen Plan für ihr Leben. Es hatte sich immer alles ergeben, weil sie meistens ihrer Intuition gefolgt war. Ich hingegen hatte alles geplant und jetzt alles über den Haufen geworfen.

«Weißt du was?», sagte ich, «darauf stoßen wir jetzt noch an, bevor wir ins Bett gehen. Auf uns, auf das Leben und dass ganze drei Wochen vor uns liegen. Ich habe extra jede Menge Rosé für uns gekauft. Der Beste, du wirst schon sehen.» Verheißungsvoll zog ich die Augenbrauen hoch und lief dann schnell in die Küche, um zwei Gläser und eine Flasche Rosé aus dem Kühlschrank zu holen. Darauf hatte ich mich schon die ganze Zeit gefreut, mit Lotta abends gemütlich bei einer Flasche Wein zu sitzen und über das Leben zu sinnieren. So wie früher.

Als ich zurück auf die Terrasse kam, saß sie kerzengerade auf dem Stuhl und blickte mich mit einer Mischung aus Verunsicherung und Freude an. «Karla, ich muss dir noch eine wichtige Neuigkeit verraten.»

Es war erst sechs Uhr morgens und ich hellwach. Mein Hals war trocken und ein unwahrscheinlicher Durst brannte auf meiner Zunge. Kein Wunder, denn ich hatte die Flasche Rosé am gestrigen Abend allein getrunken. Mühsam erhob ich mich vom Sofa, schleppte mich in die Küche und hielt gierig meinen Mund unter den aufgedrehten Wasserhahn. Das Bett oben hatte ich Lotta überlassen und schlief wieder unten auf der Couch. Sie sollte es so bequem wie möglich haben.

Lottas erschrockenem Blick nach, nachdem sie es mir gesagt hatte, mussten meine Gesichtszüge völlig entgleist sein. Ich wusste im ersten Moment nicht, was ich darauf antworten sollte. Alle Gefühle, die ein Mensch nur haben konnte, sausten völlig unkontrolliert und gleichzeitig durch meinen Körper. Freude, ja, ich freute mich unglaublich für sie. Und ich würde Patentante werden, auch wenn ich zehntausend Kilometer weit weg wohnte. Gleichzeitig war ich sauer, weil sie es mir erst jetzt gesagt hatte. Erst jetzt! Sie war bereits im fünften Monat. Das erklärte auch die leichte Reisetasche und ihr Leuchten, das ihre ganze Erscheinung umgab und das mir sofort, als ich sie am Bahnsteig sah, aufgefallen war. Sie wusste es schon seit Anfang April. Kurz nachdem ich ausgezogen war. Ich sei so durcheinander gewesen und hätte genug mit mir selbst zu tun gehabt, sagte sie. Sie wollte es mir außerdem lieber persönlich sagen. Nicht am Telefon.

Und ich war unendlich traurig. Weil ich doch selbst eine gut funktionierende Beziehung wollte und einen Job, den ich liebte. Und einen schwangeren Bauch, vor dem ich den ganzen Tag schützend meine Hand halten konnte. Aber ich hatte es ja so gewollt. Dass ich jetzt wieder ganz am Anfang stand.

Ich heulte aus allen drei Gründen. Und kam mir gleichzeitig so blöd dabei vor. Ich hätte tanzend durch den Garten laufen sollen. Laut singend. Meine beste Freundin war schwanger! Stattdessen heulte ich. Und trank Rosé. Und zwischendurch lachte ich. Und Lotta umarmte mich bestimmt hundertmal. Sie verstand es. Jedes meiner Gefühle. Und dann erzählte ich ihr von der roten Franziska mit den Sommersprossen. Und von Kati. Und von meinen Eltern, die hier gewesen waren, und dass es mir so gut ging, ich aber trotzdem ständig an allem zweifelte. Und ich erzählte ihr von Olivier. Der den besten Rosé machte und den sie jetzt gar nicht probieren konnte.

Und irgendwann war die Flasche leer und Lotta fielen die Augen zu. Und dann sind wir ins Bett gegangen und ich sagte noch ihr, wie sehr ich mich ganz wirklich für sie freute. Und sie sagte: «Das weiß ich doch, Karla.»

Ich löschte meinen Durst, das Wasser gluckerte in meinem Bauch. Meine Güte, was war ich für eine Idiotin. Ich hatte meine Beziehung beendet, in der ich nicht mehr glücklich war, mein Umfeld verlassen, das mich nur noch nervte, meine Sachen gepackt, mein Traumhäuschen in der Provence gefunden, das ich einigermaßen bezahlen konnte, hatte keinen stressigen Job mehr, konnte endlich schreiben, schreiben, schreiben, was immer besser gelang, und hatte noch den ganzen Sommer vor mir und auch den Herbst. Und jetzt war Lotta hier und vor uns lagen drei sensationelle Wochen. Fokus, Karla. Fokus. Fokus. Fokus. Genau das war jetzt mein Fokus.

Ein bisschen dachte ich dabei auch an Olivier, aber eigentlich wollte ich das nicht.

Es war jetzt fast halb sieben, noch mal hinlegen lohnte sich nicht mehr. Also holte ich meinen Laptop und fing an zu schreiben. Ich hatte eine neue Idee. Meine beiden Charaktere sollten nicht nur unterschiedliche Leben haben, sondern sie lebten das Leben der jeweils anderen. Das Leben, das die andere gerne gehabt hätte. Nur mit kleinen Abweichungen zwischen Vorstellung und Realität. Eine hatte Kinder, beide ungeplant, denn eigentlich wollte sie nie welche und war nun völlig überfordert. Wünschte sich sehnlichst ihre Ruhe. Die andere hätte gern Kinder, immer schon gerne gehabt, konnte aber keine bekommen. Ihre Ehe ging langsam daran kaputt. Ja, ja, ja. So war es besser. Ich dachte dabei an Lotta und mich, auch wenn es bei uns ganz anders war. Lotta wollte kein anderes Leben. Und ich war dabei, mir meins neu zu gestalten.

Ich tippte und tippte, änderte Szenen, einige schrieb ich ganz neu. Hämmerte die Buchstaben auf die Tastatur ohne Rücksicht auf Fehler, ich hatte nur Sorge, meine plötzlichen Einfälle wieder zu vergessen. Nach vier Stunden hatte ich mein gesamtes, mittlerweile fast zweihundertseitiges Manuskript überarbeitet und schickte auch Claudia die ersten fünfzig Seiten der neuen Fassung. Jetzt konnte es weitergehen. Jetzt fühlte es sich gut an. Mein Rücken schmerzte vom krummen Sitzen auf dem Sofa, meine Augen brannten. Ich klappte den Laptop zu, ließ mich nach hinten fallen und augenblicklich fielen mir die Augen zu.

Es war schon weit nach Mittag, als mich der Kaffeeduft weckte, der über mir schwebte. Wie hatte Lotta es geschafft, so geräuschlos in der Küche zu werkeln?

Verschlafen setzte ich mich auf und streckte mich vorsichtig, mein Rücken tat mir immer noch weh.

«Hey, Schlafmütze.» Lotta stand in der Küche und schnippelte Äpfel, Pfirsiche und Bananen in eine Schüssel. Oh, Obst. Mein Mund verlangte schon wieder nach Wasser und etwas Fruchtigem.

«Selber Schlafmütze. Du hast ja noch deinen Pyjama an.»

«Du hast so fest geschlafen, ich habe dich dreimal angesprochen, aber da war nichts zu machen.»

«Ja, ich war früh wach und dann kam mir eine Idee für meinen Roman und ich habe das alles runtergeschrieben ... Aber wie gehts dir denn mit deinem Jetlag?»

«Na den habe ich jetzt hoffentlich überstanden nach fünfzehn Stunden Schlaf. Viel wichtiger ist, was hattest du für eine Eingebung und wann kann ich deine Ergüsse endlich lesen?» Sie stellte zwei dampfende Kaffeebecher und zwei Müslischalen, die sie mit Haferflocken und Obstbergen gefüllt hatte, auf das kleine, blaue Tablett, das meine Mutter mir in ihrem Kaufrausch ebenfalls noch gekauft hatte, und ging barfuß nach draußen.

«Es ist übrigens total schön, barfuß über diese Fliesen zu laufen», rief sie.

«Ja, ich weiß. Das Barfußlaufen werde ich im Winter am meisten vermissen», rief ich zurück. Ich stand auf und ging ihr hinterher. Es war bereits vierzehn Uhr und heiß.

«Na, jetzt ist aber erst mal noch Sommer und ich bin gerade erst angekommen.»

«Zum Glück.»

«Übrigens, mein erster Kaffee nach Monaten, habe ich jetzt wieder Lust drauf.»

«Na dann, stoßen wir halt mit Kaffee an», gab ich lächelnd zurück und hob den Becher. «Santé! »

«Santé! Auf deinen Bestseller, Karla! Ich hoffe, du widmest ihn deinem zukünftigen Patenkind.»

Vogel

«Hey, Karla», rief Lotta plötzlich, obwohl ich direkt neben ihr lag. Wir waren zum See gefahren und lagen schon den ganzen Nachmittag faul auf der Wiese unter einer schattigen Buche. Ich las ein Buch und Lotta mein Manuskript.

«Sie haben auch alkoholfreien Wein. Keinen Rosé, aber weißen.»

«Hä, was?» Irritiert schaute ich auf, in meinem Manuskript kam kein Wein vor.

«Na, dein Olivier ...»

«Er ist nicht mein Olivier!»

«Okay, das Weingut, das deinen geliebten Rosé verkauft, hat auch alkoholfreien Weißwein im Angebot. Wie wär’s, wenn wir hinfahren und welchen für mich besorgen? Dann könnten wir auch gleich nach den Tipps fragen, die Olivier dir noch geben wollte.»

Lotta schaute mich euphorisch mit großen Augen an. Ich kannte diesen Blick. Wenn sie den draufhatte, konnte niemand sie von ihrer Idee abbringen. Nur wegen dieses Blicks bin ich mit ihr früher auf Partys gegangen, auf die ich gar nicht wollte, war mehrmals nachts nackt im See baden und habe irgendwelche Zauberkekse probiert, von denen ich einen Lachflash bekam und am nächsten Morgen dröhnende Kopfschmerzen. Andererseits hätte ich ohne sie nicht so viel Spaß in meiner Studienzeit gehabt.

«Hm», grummelte ich, ich hatte wenig Lust, schon wieder dorthin zu fahren. «Ich weiß nicht, dann erscheine ich dort schon zum dritten Mal innerhalb von zwei Monaten. Entweder er denkt dann, ich habe ein Alkoholproblem oder er denkt, ich komme wegen ihm. Aber er soll weder das eine noch das andere denken.» Meine Güte, verhielt ich mich kindisch.

«Ach, Quatsch! Erstens fragen wir nach alkoholfreiem Wein und zweitens denke ich, dass du zu viel denkst. Lenk dein Denken mal lieber auf deinen Roman, der ist nämlich gut. Richtig gut, Karla!» Sie klappte den Laptop zu und rüttelte aufgeregt an meiner Schulter.

«Findest du wirklich?» Ich setzte mich auf und beäugte Lotta kritisch. Im Prinzip war sie doch genauso wenig objektiv wie meine Mutter.

«Ja, finde ich wirklich. Die ersten fünfzig Seiten haben mich jetzt schon gepackt.»

«Ehrlich?» Ich schöpfte Hoffnung und war gerührt. Vielleicht konnte ich es ja doch noch, das Schreiben. «Aber objektiv bist du nicht», fügte ich noch hinzu.

«Nein, stimmt. Aber deine beste Freundin. Und als die würde ich es dir auch sagen, wenn ich es schrecklich fände.» Sie grinste. «Also, was ist jetzt, fahren wir?»

«Hm, morgen, heute ist es schon zu spät.» Ich warf einen Blick auf mein Handy, das mir glücklicherweise siebzehn Uhr anzeigte. Und es war Sonntag.

«Okay, morgen. Nach dem Frühstück», drängelte sie weiter. Und wenn Lotta sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wurde das gemacht.

Zum dritten Mal fuhr ich jetzt also auf den kleinen Parkplatz vor dem Gebäude, zwar mit Lotta, aber trotzdem war es mir unangenehm, schon wieder hier aufzutauchen. Ja, Olivier war ganz nett und ja, er sah gut aus. Ehrlicherweise ziemlich gut sogar. Aber von Männern wollte ich gerade überhaupt nichts wissen. Mein Roman war jetzt das Wichtigste. Und die Zeit mit Lotta.

Wir stiegen aus und diesmal kam wieder der kleine, wie ein Cocker Spaniel aussehende Hund freudig schwanzwedelnd um die Ecke gelaufen. Er lief direkt auf Lotta zu, die «Oh, ein Basset Artésian Normand» rief und sich direkt hinhockte, um ihn zu streicheln. Mit Hunden kannte Lotta sich aus und sie fühlten sich andersrum zu ihr hingezogen, selbst die bissig aussehenden. Ich bewahrte weiterhin einen respektvollen Abstand. Als Kind war ich einmal fast von einem Hund gebissen worden, weil er sich so erschreckt hatte. Ich hatte mich im Dorf hinter einem alten Brunnen versteckt und nicht gesehen, dass ein junger Labrador auf der anderen Seite des Brunnens angeleint war. Als meine Mutter aus der Bäckerei kam, die direkt daneben lag und vor der ich kurz warten sollte, sprang ich hervor, um sie zu erschrecken. Leider hatte ich nicht nur sie erschreckt. Aber ich war zum Glück reflexartig zurückgesprungen, er hatte mich nicht richtig erwischt. Und außer einem kleinen Bluterguss und einer Prägung fürs Leben war nichts weiter passiert.

«Komisch, es sieht geschlossen aus», stellte ich etwas enttäuscht fest, als ich sah, dass die große Glastür zu war. Es stand kein weiteres Auto auf dem Parkplatz und zu sehen war auch niemand.

«Vielleicht haben sie montags zu ... im Internet stand allerdings nichts deswegen», sagte Lotta.

«Komisch, das Eingangstor ist auf, aber vielleicht ist das auch immer auf.»

Ich suchte die Fensterscheiben nach Hinweisen zu den Öffnungszeiten ab und fand sie schließlich eingerahmt in einem kleinen Glaskasten, der etwas versteckt unter einigen Weinreben hing.Dimanche et Lunedi fermé stand dort. Na, immerhin hätte es sich gestern auch nicht gelohnt, hierherzufahren.

«Das ist ja blöd», sagte Lotta. Sie war zu mir gekommen, der Hund trabte ihr treu hinterher. «Aber wir können ja mal ums Haus laufen, vielleicht sehen wir jemanden oder wir klingeln einfach», schlug sie vor.

«Auf keinen Fall!», entgegnete ich panisch. Das wäre ja noch viel peinlicher, wenn wir hier einfach auf dem Privatgrundstück herumliefen und uns womöglich noch jemand dabei entdeckte. Allein bei dem Gedanken daran versank ich schon zur Hälfte im Boden.

«Ach, schade», sagte Lotta, «aber na gut, dann kommen wir eben morgen wieder. Dann musst du heute Abend nur wieder allein Wein trinken.» Sie schaute mich halb mitleidig, halb amüsiert an.

Lotta war immer noch wie früher, sie hatte ihre «Liebe-das-Leben»-Einstellung und ihre spontanen «Jetzt-lass-uns-doch-mal-was-erleben»-Momente nie abgelegt. Selbst jetzt nicht, mit einem schwangeren Bauch, der sich schon zaghaft unter ihrem bunten Sommerkleid abzeichnete. Als bei allen anderen irgendwann das Leben dazwischenkam, lebte Lotta weiter frei nach dem Motto «Das Leben ist immer für mich». Sie war ein Mensch, bei dem alles immer zum richtigen Zeitpunkt kam. Und wenn nicht, machte sie den Zeitpunkt einfach passend. Ich fragte mich, wann bei allen anderen das Leben so kompliziert geworden war. Wann war der Moment gewesen, in dem aus dem entspannten «Mir-liegt-die-Welt-zu-Füßen»-Jungsein ein gestresster Erwachsener wurde?

«Nee, heute kein Alkohol, mein Absturz vor drei Tagen hängt mir immer noch in den Knochen», antwortete ich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Flasche alleine getrunken zu haben.

Plötzlich fing der Hund an zu bellen und rannte über den Parkplatz Richtung Einfahrt, wo ein grauer Peugeot Pick-up einfuhr. Der Fahrer parkte neben meinem Auto und stieg aus. Olivier.

Wir schauten dem Hund nach, der jetzt freudig an Olivier hochsprang und sich von ihm kraulen ließ. Dann bellte er erneut und kam zurück auf uns zu. Jetzt wollte ich vollständig im Boden versinken. Ich fühlte mich wie eine Einbrecherin, obwohl wir lediglich vor dem Gebäude standen. Wir waren zwar ein Stück von der Eingangsfront entfernt, allerdings in der Richtung, in der es zum privaten, hinteren Hausbereich ging, was es schon ein bisschen so aussehen ließ, als würden wir dort rumschnüffeln. Aber das Schild mit den Öffnungszeiten hätte man schließlich auch direkt vorne an die Eingangstür hängen können.

Olivier winkte uns zu, griff sich seinen Rucksack vom Beifahrersitz und kam uns entgegen. Irgendwo in irgendeiner Ecke meines Körpers, die ich nicht genau ausmachen konnte, gab es etwas, das auf- und absprang.

«Hey, Karla, schön dich zu sehen», sagte er mit echter Freude in seinen Augen, «und deinen Besuch hast du auch mitgebracht. Enchantè – freut mich sehr!»

«Danke, mich auch, ich bin Lotta», sagte Lotta und ich hoffte inständig, dass sie nicht noch das obligatorische «und ich habe schon viel von dir gehört» hinzufügte. Tat sie nicht. Danke, Lotta.

«Wir hatten auf eurer Internetseite entdeckt, dass ihr auch alkoholfreien Wein anbietet, deswegen sind wir hier», sagte ich entschuldigend.

Er zog fragend eine Augenbraue hoch. «Alkoholfrei? Schon genug von der occasion

Ich versuchte ein Lächeln, doch bevor ich etwas erwidern konnte, ergriff Lotta das Wort. «Nein, nein, Karla ist ganz begeistert von eurem Rosé und jetzt ein wenig enttäuscht, weil sie ihn allein trinken muss. Bei mir gehts nämlich gerade nicht.» Während sie das sagte, legte sie eine Hand auf ihren Bauch und strahlte, wie nur eine Schwangere das hinbekommt. «Deswegen hatte ich die Idee, einfach alkoholfreien Wein zu kaufen. Der wäre also nur für mich.»

«Ich verstehe», sagte Olivier und lachte. Abwechselnd schaute er mich, dann Lotta und dann wieder mich an. Ich schaute schnell weg, bevor ich noch rot wurde. Was war bitte schön bloß los? Es nervte mich, dass er mich so nervös machte.

«Ja, wir haben geschlossen heute», sprach er weiter, «aber für euch mache ich natürlich eine Ausnahme», und wieder blieb sein Blick auf mir ruhen. Ich war kurz davor, wahnsinnig zu werden, ich musste hier schnellstmöglich weg.

«Kommt mit, ich schließe auf und ihr bekommt eine private Weinprobe. Wir haben auch Traubensaft.»

Lotta klatschte laut in die Hände, eine Angewohnheit, wenn sie begeistert von etwas war und die sie nie abgelegt hatte, und stieß einen Juhu-Schrei aus. Der Hund, der bisher brav neben ihr gesessen hatte, bellte aufgeregt.

«Das ist übrigens Lilou, eine Dame», sagte Olivier und bückte sich, um sie zu streicheln. «Ganz zutraulich und tut keiner Fliege was zuleide.»

«Aber wir wollen dich nicht stören, du hast sicher zu tun», sagte ich schnell. Das war der Unterschied zwischen Lotta und mir, ich hatte bei allem Bedenken und immer Sorge, dass ich jemanden stören könnte.

«Non, pas du tout! Ihr stört überhaupt nicht, ich komme gerade von ‹La Dame Jeanne› in Cucuron. Sie werden ab sofort unseren Wein auf der Karte stehen haben, und zwar alle Sorten, die wir haben. Und darauf stoßen wir an.» Er grinste siegesbewusst und schloss die Glastür auf, und ich trat zum dritten Mal ein. «Wieder eine occasion », murmelte ich.

Im Laufe des Nachmittags entspannte ich mich zusehends, was nicht am Alkohol lag, sondern an Oliviers Art. Er war zugewandt, tiefgründig und ehrlich. Ich war ein bisschen beeindruckt, nach unserer ersten holprigen Begegnung hatte ich das nicht erwartet. Er erzählte, dass er gerade versuchte, seinen Wein in den umliegenden Restaurants unterzubringen, was nicht einfach sei, da es so viele Weingüter in der Provence gebe, die das gleiche Ziel hätten. Wir lauschten seinen Geschichten über die unterschiedlichen Menschen in den unterschiedlichen Restaurants. Man spürte, dass er in seinem Element war, und auch sein französischer Akzent kam beim Erzählen wieder stärker durch.

Wir erfuhren von seiner deutschen Oma, die im Elsass aufgewachsen war, und durch die er hauptsächlich so gut Deutsch sprach. Sein Verhältnis zu ihr war eng. Seine Eltern hatten, als er klein war, täglich sehr viel mit dem Weingut zu tun gehabt und wenig Zeit für ihn, doch seine Oma war immer da und erzählte ihm Geschichten, kochte sein Lieblingsessen und zeigte ihm später ihre Heimat. Sein Opa war früh gestorben, ihn hatte er kaum mehr kennengelernt. Er war Einzelkind wie ich. Nachdem seine Eltern sich ein paar Jahre nach seiner Geburt fast getrennt hatten, weil ihnen alles zu viel wurde, entschlossen sie sich, kein zweites Kind mehr zu bekommen. Die Oma kam nach Frankreich und half aus. Und blieb. Seine Eltern fanden wieder zusammen und das Weingut entwickelte sich. Olivier war nach dem Abitur zunächst nach Südafrika gegangen und hatte auf verschiedenen Weingütern mitgeholfen. Wo ihn niemand kannte und wo er das Gefühl hatte, sich freier entfalten zu können. Drei Jahre blieb er dort, bis er mit zweiundzwanzig sein Oenologie-Studium in Bordeaux begann und davon zwei Jahre als Auslandssemester an der Hochschule in Geisenheim verbrachte. Mit achtundzwanzig war er fertig und mit dreißig stieg er offiziell mit in das Weingut seiner Eltern ein. Das war vor fünf Jahren.

Während er erzählte, begegneten sich manchmal unsere Blicke und ich schaute jedes Mal schnell woanders hin, bevor es eine Sekunde zu lang werden könnte. Es waren diese Art Blicke, bei denen man genau wusste, dass da etwas war. Wie zwei Magnete, die sich anzogen und kurz vorm Aufeinanderklacken wieder auseinandergezerrt wurden. Ich wollte das nicht zulassen, ich musste erst mal mit mir selbst klarkommen.

Ich vermied es, über mich zu reden. Ich konnte es nicht. Olivier wusste nur, dass ich eine Auszeit in der Provence verbringen wollte, um endlich meine Romanidee auf Papier zu bringen, die schon ein paar Jahre auf ein paar Blättern in meiner Kiste im Kleiderschrank versauerte. Ich sagte nichts von Marc. Nur wenig von meinem Leben in Berlin in den letzten paar Jahren. Und Olivier war so feinfühlig, nicht nachzuhaken.

Dafür redete Lotta über ihre Zeit in Kanada, über Dave, über das Baby, das in knapp fünf Monaten kommen würde, und über ihre Arbeit, die ihr so viel Spaß machte und ihr einen Sinn gab. Ich war ihr dankbar dafür. Und sie wusste, dass ich lieber zuhörte, als über mich zu reden. Die ganze Zeit streichelte sie unbewusst ihren Bauch und ich dachte daran, dass sie eine so wunderbare Mutter sein würde. Wir hatten nie ernsthaft über Kinder gesprochen. Da war immer nur so ein «Ja, Kinder, klar, gehört ja dazu». Die Frage, ob wir überhaupt eins wollten, hatten wir uns nie richtig gestellt. Doch ich war immer davon ausgegangen, dass es so sein würde. Zumindest bei mir.

«Karla, das könntest du doch tun!», rief Lotta ganz angetan.

Ich war in Gedanken immer noch beim Kinderkriegen und hatte die letzten Sätze von Olivier nicht mehr richtig mitbekommen. «Äh, was kann ich tun?», fragte ich und schaute von einem zum anderen.

«Na, bei der Weinlese helfen», sagte Lotta. «Ich bin dann leider schon wieder in Kanada, sonst wäre ich auf jeden Fall dabei gewesen ... na ja, zumindest, um zu delegieren.» Sie grinste und trank noch einen Schluck, sie hatte sich für Traubensaft entschieden.

«Also wenn du Zeit und Lust hast», klinkte Olivier sich ein, «würde ich mich freuen. Wir fangen Ende August an.»

«Klar, warum nicht», gab ich zurück. Ich hatte zwar keine Ahnung, auf was ich mich da einließ, aber Nein sagen wollte ich auch nicht. «Wenn ich euren Wein schon trinke, muss ich ja schließlich auch wissen, wie er hergestellt wird. Une autre occasion. Santé! » Ich grinste und war zufrieden mit meiner Antwort.

Vogel

«Hi, Mum», sagte ich leise und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht aus Versehen auf die üppigen Lavendelsträucher zu treten. In langen Reihen lagen sie vor mir. Auf den schmalen Feldwegen dazwischen musste man fast balancieren. Lotta und ich waren Oliviers Tipp gefolgt, eine Lavendelfeldtour zu machen, und befanden uns gerade mittendrin. Er hatte uns verschiedene Wege genannt, die nicht im Reiseführer standen und wo die Lavendelfelder besonders prachtvoll aussahen. Die Blüten versprühten ihren blumigen Duft, der mich angenehm einhüllte. Überall summte es und die riesige, lilafarbene Fläche bewegte sich leicht im Takt des französischen Sommers.

Ich gab Lotta, die zwei Reihen links von mir stand und eifrig Fotos knipste, ein Zeichen, dass meine Mutter am Telefon war.

«Hallo, Liebes, wo erwischen wir dich denn, du sprichst ja so leise.»

«Lotta und ich machen eine Lavendelfeldtour und ich bin umgeben von Lila. Es ist so still und friedlich hier.» Ein weißer Schmetterling flog direkt vor meiner Nase vorbei und setzte sich auf eine Blüte, die dadurch ein winziges bisschen zu wippen anfing.

«Oh, herrlich, ja diese Farbenpracht, hach. Und wie schön, dass Lotta da ist. Das tut dir gut. Ich hatte den Eindruck, du bist vielleicht ein wenig einsam.»

«Nein, mir gehts gut allein. Aber jetzt bin ich natürlich glücklich, dass sie hier ist. Wo seid ihr denn im Moment?» Dass meine Eltern bei mir gewesen waren, war schon ein paar Wochen her. Sie hatten eine ganze Weile an der Côte d’Azur verbracht und mir fast täglich Bilder vom tiefblauen Ozean geschickt.

«Wir haben gerade Italien verlassen und sind jetzt auf dem Weg nach Freiburg. Dort bleiben wir noch ein paar Tage. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht, Liebes. Hast du denn schon was von Claudia gehört? Du hattest ihr doch dein Manuskript geschickt, oder?»

Sofort schwebte eine kleine graue Wolke über meinem Kopf. Das Manuskript lag seit über einer Woche bei ihr und sie hatte noch nichts dazu gesagt. Was immer das heißen mochte. Wahrscheinlich hatte sie nur viel zu tun und es lag noch unangetastet auf einem ihrer Papierstapel im Büro.

«Nein, bisher noch nicht. Ich gehe sie aber mal wieder besuchen, mit Lotta. Vielleicht hat sie es ja noch gar nicht gelesen. Ihr Buchladen läuft gerade ziemlich gut. Sie hat sogar das deutsche Sortiment aufgestockt, weil so viele deutsche Touristen in ihren Laden kommen.»

«Das freut mich für sie, die Buchhandlung ist wirklich schön. Ein richtiges Kleinod, so etwas muss erhalten bleiben. Und dein Manuskript wird sie schon noch lesen. Und es wird ihr gefallen. Ganz bestimmt.»

«Ja, bestimmt.» Ich hoffte es.

Der Schmetterling flog weiter, dafür kamen jetzt zwei Hummeln und belagerten den Lavendelstrauch vor mir. Es hatte ein bisschen was Meditatives, diesen winzigen Naturereignissen zuzusehen.

«Und wie geht es Lotta? Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen. Schick doch mal ein Foto von euch zweien.»

«Das mach ich, Mum. Lotta geht es gut ... sie ist schwanger. Das Baby kommt Anfang Dezember.»

Da stand ich, mitten im Lavendelfeld und erzählte meiner Mutter, dass meine beste Freundin ein Kind bekam, als ob es die selbstverständlichste Nachricht der Welt wäre.

«Nein, wirklich? Das sind ja wunderbare Neuigkeiten! Bestell ihr bitte ganz liebe Grüße von uns. Weiß sie schon, was es wird?»

«Nein, sie will sich überraschen lassen ... typisch Lotta. Und weißt du was? Ich werde sogar Patentante.» Der Gedanke, irgendwann Lottas Baby in den Armen zu halten, machte mich glücklich. Langsam ging ich weiter durch die Reihe und hockte mich hin. Jetzt war ich vollständig umgeben von diesem beruhigenden Duft und atmete ihn tief ein. Das Summen der Bienen war auf dieser Höhe lauter geworden und ich fühlte mich eins mit der Natur.

«Das ist schön, Liebes. Und wie gesagt ... du bist ja auch noch jung ...»

«Ja ... Ich muss Schluss machen, Lotta und ich wollen noch ein paar Lavendelbilder machen und dann weiter zum Lac de Sainte-Croix, uns abkühlen.»

«Da habt ihr aber ein volles Programm, habt ihr die Tour selbst zusammengestellt?»

Das war eine berechtigte Frage, denn sowohl ich als auch Lotta waren nicht gerade bekannt dafür, Tagestouren zu planen. Wir liebten es, uns im Urlaub treiben zu lassen. Der Nachteil war nur, dass man dadurch nicht ganz so viel sah.

«Ach, wir haben die Tipps von dem Weingutbesitzer bekommen», sagte ich so beiläufig wie möglich. «Wir waren noch mal da, um alkoholfreien Wein für Lotta zu holen, und da sind wir ein bisschen ins Gespräch gekommen.»

«Ach so, na dann macht euch noch eine tolle Zeit. Genießt es! Wir haben dich lieb.»

«Das machen wir. Ich hab euch auch lieb. Und gib Paps ein Küsschen.»

Ich erhob mich ganz langsam aus meiner Hocke, damit mir nicht schwindelig wurde, und hielt nach Lotta Ausschau. Sie stand am Rand des Feldes und winkte zu mir rüber. «Jetzt lass uns endlich Fotos machen», rief sie ungeduldig. «Ich glaube, ich werde zu Hause ein ganzes Fotobuch nur mit Lavendelbildern vollmachen. Aber wäre schön, wenn du auch mit drauf wärst.»

«Unbedingt», rief ich lachend zurück. Beschwingt lief ich zum Feldrand zurück und breitete dabei meine Arme aus, als würde ich gleich losfliegen.

Später am Lake St. Croix saßen wir auf einem Holzsteg und ließen unsere Füße ins Wasser baumeln. Der See funkelte in leuchtenden Blaunuancen und mein Leben in Berlin war in diesem Moment Lichtjahre entfernt.

Der Strand war voll, Südfrankreich längst in der Hauptsaison angekommen. Ich war dabei, ein paar Fotos von Lotta und mir an meine Eltern und auch an Olivier zu schicken. Wir hatten unsere Nummern ausgetauscht. Man wusste ja nie, ob man sich nicht verfuhr ...

Danke für diesen wunderbaren Tag , schrieb ich ihm dazu und drückte auf Senden. Nur ein paar Sekunden später kam eine Antwort: Das sieht nach einem merveilleuse journée aus. Das freut mich sehr! Habe gerade noch an euch gedacht.

«Was ist, Karla?», fragte Lotta und schaute mich amüsiert an.

«Wieso, was soll sein?», gab ich verwirrt zurück.

«Na, du lächelst so.»

Am nächsten Tag hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte unbedingt wissen, wie Claudia mein Manuskript fand. Jetzt sofort. Ich brauchte ein Feedback, hoffte auf Bestätigung, wollte vorankommen. Ich wollte dieses Buch. Ein winziges Fitzelchen in mir wusste, dass es gut war. Wenn es Claudia gefiel, war ich einen großen Schritt weiter. Sie kannte sich aus, Bücher waren ihr Leben. Ich musste es wissen. Und wenn es ihr nicht gefiel, dann ... dann .... nein, nein. Es war gut. Es musste so sein. Dafür war ich doch hier.

«Lotta, wir fahren jetzt zu Claudia», rief ich ohne Vorwarnung nach draußen. Es war Samstag und gerade zehn Uhr, ich lief mit einer Tasse Kaffee in jeder Hand in den Garten. Die Fliesen waren jetzt schon heiß und kurz sehnte ich mich nach den milderen Temperaturen im Mai und Juni. Lotta saß unter dem Sonnenschirm im Schatten und war in ein Buch vertieft, das sie sich aus meinem Regal geschnappt hatte. «Madame Bovary» von Gustave Flaubert, ein französischer Klassiker von 1952, ins Deutsche übersetzt. Sie blickte auf und schaute mich fragend an.

«Klar, sehr gerne, möchte sie ja auch noch unbedingt kennenlernen. Aber warum hast du es auf einmal so eilig?»

«Ich weiß nicht, ich will wissen, ob sie mein Manuskript schon gelesen hat. Kann es gerade nicht mehr aushalten.» Ich stellte die beiden vollen Tassen auf den Tisch und der Kaffee schwappte leicht über.

«Mach dir keine Sorgen, es wird ihr gefallen. Es ist gut, Karla, glaub mir doch.»

Das wollte ich ja. Aber der Bestätigungsdrang hatte sich jetzt auf mich gestürzt und war nicht mehr abzuschütteln.

«Wir könnten erst auf den Markt gehen und dann bei ihr vorbeischauen ... falls sie überhaupt Zeit hat.»

«Machen wir so», sagte Lotta. Sie hatte das Buch auf den Tisch gelegt und jetzt lagen beide Hände wie schützend auf ihrem Bauch. Ich hatte den Eindruck, dass diese Geste in den letzten Tagen häufiger geworden war. Außerdem sah sie noch schöner und noch glücklicher aus. Sie hatte eine leichte Bräune bekommen und ihre dunklen Locken glänzten mehr als sonst.

«Ach, ich bin so froh, dass du hier bist», sagte ich und setzte mich seufzend. «Ich weiß gar nicht, was ich machen soll, wenn du wieder fährst.»

«Noch bin ich ja da und päppel dich auf. Und jetzt machen wir uns auf nach La Motte. Ich bin schon ganz gespannt auf deine Claudia. Ich finde ja, sie sollte dir das Haus überlassen, so schön, wie du alles hergerichtet hast.» Sie nahm meine Hand, die orientierungslos auf dem Tisch lag, und drückte sie sanft.

Der Gedanke daran, mir in ein paar Monaten in Berlin oder Umgebung eine Wohnung zu suchen, gefiel mir gar nicht. Das alles hier war für mich schon zu einem neuen Zuhause geworden.

Wir fuhren mit dem Auto nach La Motte rein, was sich als blöde Idee herausstellte. Ich musste mich noch daran gewöhnen, dass wir Juli hatten und nicht nur die ausländischen Touristen in die Provence strömten, sondern die Franzosen ebenfalls Ferien hatten und gerne auch im eigenen Land Urlaub machten. Der einzige Parkplatz kurz vor dem Zentrum war gerammelt voll und zig wartende Autos standen schon davor, die Fahrer bereit, sich sofort in die nächste frei werdende Lücke zu zwängen. Uns blieb nichts anderes übrig, als ein Stück zurückzufahren und an der Straße zu parken.

Nach fünfzehn Minuten Fußmarsch erreichten wir den Marktplatz und setzten uns erst mal auf die Stufen eines Hauseingangs, der im Schatten lag. Wie oft ich jetzt schon hier gewesen war, und noch immer liebte ich dieses Dörfchen mit seinen unebenen Pflastersteinen und Gässchen. Auch jetzt bei Hitze und Überfüllung.

Schließlich setzten wir uns wieder in Bewegung, immer schön langsam. Es duftete einladend nach Lavendel und Sommer und Lotta war entzückt von den vielen Ständen. Sie schlängelte sich von einem zum anderen, die rechte Hand schützend vor ihrem Bauch haltend. Wir probierten und kauften und mein Rucksack wurde immer schwerer unter der Last der ganzen Köstlichkeiten. Als er kaum noch zuging, beschlossen wir, eine Pause einzulegen. Wir brauchten dringend eine Erfrischung. Wir schleppten uns in das Café mit den Kakaoherzen auf dem Milchschaum und bestellten eine große Karaffe hausgemachter Zitronenlimonade. Schwerfällig ließen wir uns in die Stühle fallen, schlürften gierig den Krug leer und lauschten dem angenehmen Gemurmel um uns. Ich liebte es, hier zu sein, mit Lotta. Und ich war jetzt gewappnet für Claudias Meinung.

Eine Stunde später standen wir vor Bonnes Idées . Die Tür stand weit auf, um die paar leichten Windzüge hereinzulassen, die ab und an vorüberzogen. Vor der Tür hatte Claudia drei kleine, runde Tische mit je zwei Stühlen aufgestellt, die alle belegt waren. Die, die keinen Platz ergattert hatten, standen auf dem schmalen Bürgersteig verteilt, jeder mit etwas zu trinken in der Hand. Auf einer Tafel, die neben der Tür lehnte, bot sie Kaffee, Wasser und Rosé an. Drinnen bewegte sich eine Menschenmenge durch die Regalreihen und ab und an stach eine Hand aus der Menge und zog ein Buch heraus.

Wir drängelten uns durch den Laden bis nach hinten zu dem kleinen Kassenbereich, hinter dem sich die Tür zu Claudias Büro befand. Claudia war nicht im Laden und machte bestimmt Büroarbeit. Sie hatte eine junge französische Studentin eingestellt, die ihr beim Verkauf und Bedienen der Kunden half. Sie hieß Julie und kannte mich schon. Sie beriet gerade eine Kundin und winkte mir zu.

Ich klopfte leise an und öffnete die Bürotür. Claudia saß am Schreibtisch und war in ihren Papierkram vertieft. Sie schaute auf, als sie uns sah, und sofort breitete sich ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

«Ah, Karla, salut , wie schön, dich zu sehen! Und du bist bestimmt Lotta», sagte sie und ihr Blick schwenkte von mir zu Lotta und dann auf Lottas Bauch.

«Hallo, Claudia, schön, dich endlich kennenzulernen. Karla schwärmt richtig von dir.» Sie begrüßten sich mit Wangenküsschen und Claudia nahm Lottas Hände in ihre und sagte: «Mein Kind, du bist ja schwanger, trés merveilleux

Auf Französisch hörte sich Begeisterung einfach viel schöner an, wie ich mal wieder feststellte.

«Ja, das stimmt», Lotta lachte, «man sieht es mir wohl langsam an, was?»

«Und Karla», sprach Claudia weiter und drehte sich zu mir, «ich habe gestern Abend dein Manuskript gelesen und war enttäuscht, dass es nur fünfzig Seiten waren. Die neue Fassung ist übrigens viel besser als die alte. Ich will mehr!» Sie klatschte in die Hände wie zum Beifall und ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren.

«Das ist ja fantastique », rief Lotta und nahm mich in die Arme. «Ich wusste doch, dass es gut ist. Ich habe es auch schon gelesen und finde es super

«Es gefällt dir also wirklich?», fragte ich trotzdem noch etwas unsicher an Claudia gewandt. «Ich hatte mich schon gefragt, ob ... na ja ... ach, egal.»

«Es gefällt mir wirklich, meine Liebe. Sicher, hier und da noch eine Kleinigkeit, die du noch mal etwas überarbeiten müsstest, aber wenn der Rest des Manuskripts so ist wie der Anfang, dann ist es wirklich eine wundervolle und gut geschriebene Geschichte.»

Wums! Da hatte ich meine Bestätigung. Und sie traf mich mit voller Wucht, unschlüssig, ob sie mich umstoßen oder ins nächste Level heben sollte.

«Danke ... das ... das bedeutet mir wirklich viel.»

«Du musst mir nicht danken, Schätzchen, du bist die Schriftstellerin. Du hast einen schönen Schreibstil. Meine Buchhandlung steht offen für dein Werk.» Sie machte mit beiden Armen eine ausladende Geste. «Und Merle hatte es dir ja, soweit ich weiß, sowieso schon angeboten für ihre Buchhandlung. Willst du dir denn einen Verlag suchen?»

«Ja, zumindest will ich es versuchen.» Ich hatte zwar schon mit dem Gedanken gespielt, es selbst herauszubringen, aber die Kosten für Lektorat, Grafik und Buchdruck erdrückten mich etwas. Meine Ersparnisse schrumpften kontinuierlich und ich befürchtete, dafür würde es nicht reichen.

«Ich habe ein paar gute Literaturagenturen, die ich dir empfehlen kann. Vielleicht versuchst du es dort als Erstes. Aber warte nicht zu lange, bis die sich entscheiden, kann es Monate dauern.» Sie verdrehte die Augen.

«Ja, ich denke, ich werde das nächsten Monat angehen.»

«Die nehmen dich mit Kusshand», warf Lotta ein, meine ewig optimistische Freundin. «Das wäre doch jetzt eine Gelegenheit für einen ganz besonderen Rosé, oder?»

Claudia lachte. «Ich habe mir schon gedacht, dass dir der Wein schmecken wird, Karla. Er ist wirklich gut. Und in der Provence gibt es einige, wie du weißt. Stell dir vor, er ist sogar für den Concours Général Agricole nominiert! Im September wird entschieden.

«Ach, das wusste ich ja gar nicht.» Der Concours Génèrale Agricole war der Wettbewerb zur Auszeichnung landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich, und die Kategorie Wein war eine der wichtigsten. Das wusste ich von Marc, der Weine oft danach auswählte. «Davon hatte Olivier gar nichts erzählt. Wir ... äh ... hatten kurz geplaudert, als wir Nachschub geholt haben», fügte ich schnell hinzu. Sie sollte bloß keine falschen Schlüsse ziehen.

«Olivier weiß es selbst erst seit ein paar Tagen, seine Eltern haben ihn heimlich dafür angemeldet. Er hätte das selbst nie gemacht.»

«Beeindruckend mit der Nominierung», sagte Lotta, «kann man irgendwo abstimmen oder so, um ihn zu unterstützen?»

«Nein, das entscheidet allein die Jury. Einige höchst anerkannte Kenner auf dem Gebiet. Aber frag mich nicht nach Namen. Damit kenne ich mich nicht aus. Er hat es auf jeden Fall verdient, hat sich in den letzten Jahren ziemlich ins Zeug gelegt ... Ach, Lotta, für dich habe ich noch eine Lavendellimonade, wenn du magst. Auch très delicieux .» Sie ging nach hinten, um die Getränke und Gläser zu holen. In der Ecke stand jetzt ein großer Kühlschrank mit einer Glastür, so wie es ihn in Restaurants gab.

«Hat er denn eigentlich keine Frau oder Freundin?», wollte Lotta weiter wissen.

Ich erstarrte kurzzeitig und knuffte sie unauffällig in die Rippen.

«Nein, soweit ich weiß, nicht», sagte Claudia ungerührt und schenkte uns ein. «Ich kenne ihn ganz gut durch seine Mutter, Babette, eine gute Freundin von mir. Vor zwei, drei Jahren hatte er eine längere Beziehung. Eine Deutsche, die er während seines Studiums kennengelernt hat. Sie wollte nach Frankreich ziehen, zu ihm. Ist dann aber von heute auf morgen abgesprungen. Ich glaube, Olivier hat ziemlich gelitten und sich dann auf das Weingut gestürzt.» Sie hob ihr Glas und wir drei stießen an.

So ein kleines Dörfchen war gar nicht so schlecht, um neue Dinge zu erfahren.

«Auf die zukünftige Bestsellerautorin und den Weinpreisgewinner», sagte Lotta und kicherte, «Santé!»

«Eine wunderbare Kombi», erwiderte Claudia und zwinkerte mir zu.

Ich sagte gar nichts und fühlte mich eher wie in einer kitschigen Verkupplungsshow. Meine Gesichtsfarbe musste mindestens so rosé sein wie der Wein in meinem Glas.

Vogel

Die Tage mit Lotta verflogen nahezu. Aber wir nutzten unsere Zeit, gingen oft schwimmen, machten Ausflüge nach Avignon und Aix-en-Provence, lasen stundenlang zusammen im Garten, fuhren zweimal ans Meer, das nur eine Autostunde entfernt lag, bereiteten die verschiedensten Quiches zu und quatschten oft bis tief in die Nacht. Einige Male schliefen wir sogar draußen, ich hatte zwei bequeme Sonnenliegen gekauft. Dann lagen wir still im Dunkeln, schauten in den sternenklaren Nachthimmel über uns und schickten unsere Wünsche ins Universum. An manchen Tagen besuchten wir die kleinen Orte, in denen wir früher schon gewesen waren, und stellten überrascht fest, dass sich doch einiges verändert hatte. Neue Unterkünfte und Restaurants waren hinzugekommen und manche Feldwege waren zu asphaltierten Straßen geworden. Nur eines änderte sich wohl nie: die Schilder mit den Unmengen an Richtungspfeilen, die in jedem noch so kleinen Ort den Touristen den Weg zeigten. Ich musste jedes Mal lachen, wenn ich wieder eins entdeckte: Centre Village, Église, Bibliothèque, Boulangerie, Pâtisserie, Boucherie, Chambres d’Hotes – wirklich alles war an jeder Ecke ausgeschildert, obwohl es so nah beieinanderlag. Die Orte waren meist winzig, aber bevor sich die Touristen kreuz und quer in den Gassen verirrten, wollte man es ihnen offenbar lieber leicht machen. Zwei Wochen nach Lottas Ankunft besuchten wir das erste Mal Cucuron wieder, den Ort, der uns damals so verzaubert hatte. Wir holten uns kleine tourtes aus der Boulangerie unten am Löschteich – ein großes rechteckiges Wasserbassin, das von mächtigen Platanen und kleinen Cafés und Restaurants umgeben war und ein göttliches Bild abgab – und schlängelten uns durch die Gässchen nach oben zu der kleinen Burgmauer. Von dort aus genossen wir den weiten Blick ins Tal und ließen es uns schmecken. Es war ein fast schon überwältigendes Gefühl, nach all den Jahren endlich wieder hier zu sein. Ich fühlte mich immer mehr wie die Karla von damals, mit all ihren Träumen, die sie hatte und die ich jetzt, nach ein paar Jahren Pause, wieder in Angriff genommen hatte. Es war fast so, als hätte ich wieder zurück zu mir selbst gefunden. Mein Leben in Berlin war blass geworden, auch an Marc dachte ich immer weniger. Kati schrieb nichts mehr über ihn und ich fragte nicht nach. Die rote Franzi erschien mir nur noch wie eine Figur aus einem Roman – nicht existent.

Wir schliefen, bis wir von selbst aufwachten und aßen, wenn wir Hunger hatten. Beide wurden wir uns noch mal unserer tiefen Freundschaft bewusst und ich war unendlich dankbar, Lotta in meinem Leben zu haben. Mit dem Schreiben kam ich gut voran, dafür nahm ich mir nach wie vor in den Vormittagsstunden Zeit, während Lotta las, mit Dave telefonierte oder uns etwas Leckeres zum Mittagessen zauberte. Es wurde unser ganz persönlicher zweiter Frankreichsommer. Ich hatte mich lange nicht mehr so frei und unbeschwert gefühlt.

Meine Romanfiguren bekamen immer mehr Tiefe und entwickelten fast schon ein eigenständiges Leben. Ich war zufrieden mit meinem Werk.

Mit Olivier schickte ich mir inzwischen fast täglich Nachrichten. Wir schrieben nichts Besonderes, umkreisten uns vorsichtig mit kontrolliertem Abstand. Doch wir wussten, dass wir irgendwann unweigerlich aufeinandertreffen würden und uns dem stellen müssten, was da unausgesprochen zwischen uns lag. Es war wie eine stillschweigende Vereinbarung.

Manchmal schrieb ich ihm von meinem Romanfortschritt und er mir von seinen Deals, die er mit den umliegenden Gastronomien aushandelte. Ich freute mich für ihn und er sich für mich, und wir verabredeten, dass wir uns, wenn Lotta wieder abgereist war, treffen würden. Natürlich nur, um zu besprechen, was mich bei der Weinlese erwartete.

An einem unserer letzten gemeinsamen Abende wollten Lotta und ich nach Ménerbes fahren. Unserem Urlaubsort von damals. So oft hatten wir abends hoch oben auf den langen Stadtmauern gesessen, von wo aus wir in das unendlich wirkende Tal des Département Vaucluse blicken konnten. Das Sommerabendleuchten war magisch gewesen in diesem Moment. Ich fühlte mich so verbunden mit dieser Region, dass ich mir nur schwer vorstellen konnte, irgendwo anders mein Schriftstellerinnendasein zu leben als hier. Wenn ich damals gewusst hätte, wie recht ich damit gehabt hatte.

Wir parkten das Auto auf dem Besucherparkplatz unten am Berg und liefen langsam durch die vielen kleinen Gassen nach oben. Ménerbes besaß nur eine Handvoll Cafés, alles war überschaubar und wirkte ruhig und entspannt. Die Abendsonne stand schon tief und ihre orangeroten Strahlen suchten sich ihren Weg durch die schmalen Lücken zwischen den Häusern. Die Luft war leicht schwül und etwas drückend. Es war ein heißer Tag gewesen.

Wir wollten uns oben auf die Stadtmauer setzen. So wie früher. Ich dachte daran, wie wir mit Mitte zwanzig hier hochgestiefelt waren, unbekümmert und frei, den Kopf voller Träume. Ich sah die Karla, die immer ihr Notizbuch dabeihatte, stets bereit, Sätze, die manchmal von jetzt auf gleich in ihrem Kopf waren, aufzuschreiben. Am Ende unseres Frankreichsommers war es vollgeschrieben und dann verschwand es irgendwann in der Kiste, unten in meinem Kleiderschrank. Ich wollte zu ihr, ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich so lange damit gewartet hatte. Ich wollte, dass sie mir verzieh, dass ich ein anderes Leben gewählt hatte. Ich wollte, dass sie verstand, dass das okay war, es schön war und dass ich jetzt bereit war, dort weiterzumachen, wo ich damals aufgehört hatte. Ich wusste nicht, ob sie es verstehen würde, und hatte Angst, dass ich sie enttäuscht hatte.

«Weißt du», fing Lotta an, nachdem wir eine ganze Weile angenehm schweigend nebeneinander hergelaufen waren, jede ihren Gedanken nachhängend, «ich denke ganz oft an unseren Sommer damals, es war einfach der schönste und unbeschwerteste überhaupt. Ich habe dich immer bewundert für deinen Plan, auf jeden Fall schreiben zu wollen. Du warst so sehr davon überzeugt und so sehr in deinem Element, dass es einen richtig angesteckt hat. Ich war manchmal fast neidisch, weil du so genau wusstest, was du machen möchtest und ich dagegen so planlos war.»

Zwei kleine Katzen sprangen rechts von einer Mauer herunter und balgten sich vor uns auf dem Weg. Als sie uns bemerkten, rannten sie weg und versteckten sich hinter einem großen Terrakottatopf, der vor einem Hauseingang stand. Der weiße Oleander blühte kräftig.

«Ach, Quatsch», sagte ich, «du warst doch immer die Unbeschwerte, hast dich treiben und immer alles auf dich zukommen lassen. Du hattest vielleicht keine konkrete Vorstellung, aber so kann man auch weniger enttäuscht werden. Alles wirkte immer so leicht bei dir. Darauf war ich neidisch.»

Oben an der Stadtmauer angekommen, atmeten wir erst mal durch. Die Luft war immer noch drückend. Wir suchten uns ein Plätzchen auf den noch warmen Steinen und schauten ins Tal hinab.

«Ja», sagte Lotta und nahm den Faden wieder auf, «ich habe mich einfach ins Leben hineingestürzt und alles mitgenommen, was kam, ohne Plan. Aber ich habe mir manchmal mehr Struktur gewünscht, so wie bei dir. Planlos ist auch oft anstrengend. Du weißt nie, was als Nächstes kommt. Kannst dich auf nichts wirklich einstellen.»

So hatte ich das nie gesehen. Lotta war für mich immer der Optimismus in Person. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen, aber ohne, dass sie je viel dafür tun musste. Es flog ihr zu. Und für diese Ungezwungenheit bewunderte ich sie.

«Vielleicht sollten wir uns gegenseitig etwas abgeben», sagte ich, «dann wäre es eine perfekte Mischung.»

«O ja, das wäre es.»

Die Sonne stand jetzt kurz über der Horizontlinie, berührte sie schon fast. Es würde nicht mehr lange dauern und dann wäre sie verschwunden. Das Grün der Tallandschaft vor uns war jetzt mit einem leuchtenden Orange gemischt. Ich holte zwei Lavendellimonaden aus dem Rucksack, die wir von Claudia geschenkt bekommen hatten. Sie waren noch angenehm kalt. Ich gab Lotta eine und mein Blick fiel wieder auf ihr kleines Bäuchlein, das in den letzten drei Wochen ein gutes Stück gewachsen war. «Spürst du eigentlich schon was?», fragte ich.

«Ja, manchmal. Es fühlt sich an wie Schmetterlingsflügelschläge.» Sie ließ ihre freie Hand langsam zu ihrem Bauch gleiten und legte sie vorsichtig dort ab. «Das ist auch so eine Sache», fuhr sie fort, «ich steckte so in meinem planlosen Leben drin, dass ich mir niemals vorstellen konnte, es aufzugeben. Ich liebe meine Freiheiten und dass ich immer dort leben kann, wo es mich hinzieht. Das machen kann, wozu ich Lust habe. Ohne Einschränkung. Zumindest wollte ich diese Option behalten ... Und na ja, dazu gehörte auch, dass für mich feststand ... niemals Kinder zu bekommen.» Ihre letzten Worte verschluckte sie fast, sie konnte nicht weitersprechen. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schaute mich an, und da sah ich den Schmerz in ihren Augen.

«Dieses Baby», sagte sie mit halb erstickter Stimme, «wäre fast nicht da. Ich ... ich wollte es nicht. Ich war mir sicher ... und ich lag schon auf dem Stuhl ... beim Arzt. Es war kurz vor Ende des dritten Monats. Und dann konnte ich nicht mehr. Ich habe es abgebrochen und bin nach Hause gerannt. Drei Tage lag ich im Bett und habe nur geheult. Dave wusste gar nicht mehr, was er noch machen sollte ...» Sie schniefte und wischte sich die Tränen weg.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich stand auf, nahm sie in den Arm und hielt sie einfach nur fest, bis das Schluchzen langsam aufhörte und in einen flachen Atem überging.

Die Sonne war jetzt fast nicht mehr zu sehen. Ein leichtes Glühen schwebte noch über dem Horizont und klammerte sich an ihm fest.

Ich war verwirrt und überfordert, warum hatte sie mir nichts gesagt? Meine geliebte Lotta war unendlich traurig, und ich hatte nichts davon gewusst und es nicht einmal bemerkt.

«Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich mit meinem neuen Innenleben anfreunden konnte», fuhr Lotta fort. «Und dann kam plötzlich diese große Angst über mich, dass ich es verlieren könnte. Als Strafe, weil ich es erst nicht haben wollte. Das hat mich fast verrückt gemacht. Und als ich dann hier bei dir war, da kamen so viele Erinnerungen auf. Du willst die Karla von früher sein und ich habe mich gefragt, ob ich noch die Lotta von früher war. Und auch wenn sich einiges geändert hatte, ich glaube, ich war es. Und da wusste ich, dass ich es nicht mehr sein wollte.»

Ich setzte mich wieder neben sie und blickte auf das Tal vor uns, die beginnende Dunkelheit legte sich nun langsam darüber. Am Horizont waren nur noch verschwommene Umrisse zu erkennen. Das Leben war schon irgendwie verrückt. Bei jedem lief es in eine andere Richtung. Eine geheime Formel, die für alle gilt, gab es wohl nicht. Jeder musste seine eigene Formel herausfinden.

«Warum hast du mir nie was gesagt?», fragte ich leise.

«Ich konnte nicht. Du warst gerade mitten in der Trennung von Marc und selbst so traurig. Ich wollte dich nicht zusätzlich belasten. Und außerdem wusste ich, dass du gerne Kinder haben möchtest. Ich hatte Angst, dass du es nicht verstehst. Und dann, als ich sicher war, dass ich das Baby behalte, hatte ich auch Angst es dir zu sagen – aus dem gleichen Grund.» Wir lachten kurz auf aufgrund dieser ungerechten Ironie, die das Leben manchmal mitten hineinwarf.

«Mir war gar nicht klar, dass du keine Kinder wolltest.»

«Ich habe das auch nie so deutlich gesagt. Da waren wir tatsächlich mal unterschiedlicher Meinung.»

«Und warum hast du dich in dem Moment umentschieden?»

«Ich weiß nicht, es kam auf einmal über mich. Ich fühlte mich so egoistisch und unfair. Ich habe immer alles mitgenommen, was das Leben mir gab, und es war immer gut und jetzt machte ich schlapp. Und die Angst, es irgendwann fürchterlich zu bereuen, kam noch dazu.»

«Was hat denn Dave dazu gesagt?»

«Der Arme. Er wollte ja auch keine Kinder, da waren wir uns einig. Aber als ich ihm erzählte, dass ich schwanger bin, hat sich in dem Moment irgendein Schalter bei ihm umgelegt. Er hat sich so gefreut, aber meine Meinung trotzdem akzeptiert.»

«Darf ich mal?» Sie nickte und ich legte meine Hand vorsichtig auf Lottas Bauch. «Hallo, Patenkind, hier ist deine Patentante und neben mir sitzt deine Mama, eine ganz wunderbare Frau, das sag ich dir.»

Lotta lachte und schluchzte dabei. «Ich habe so Angst, eine schreckliche Mutter zu sein.» Wieder liefen ihr ein paar Tränen die Wangen herunter.

«Nein», sagte ich, «ich weiß, dass du eine fantastische Mutter sein wirst. Und ich werde eine fantastische Patentante sein.»

«Danke, Karla», Lotta lächelte, «ich bin so froh, dass es jetzt raus ist. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen dir gegenüber.»

«Das brauchst du doch nicht, ich muss ein schlechtes Gewissen haben, dass ich nichts bemerkt habe. Danke, dass du es mir erzählt hast. Lass uns nie wieder Geheimnisse voreinander haben.»

Jetzt war es fast ganz dunkel, die Temperatur war gesunken und der Nachthimmel hatte die drückende Luft verdrängt. Die Sterne zeigten sich am Himmel und die Sichel des Mondes hing schräg, sodass es ein bisschen aussah wie ein lächelnder Mund.