September

Der erste September war da und schon immer kündigte sich damit für mich der Herbst an. Doch hier in der Provence war es von herbstlichen Temperaturen noch weit entfernt. Das Thermometer hatte sich auf dreißig Grad eingependelt, immerhin ein deutlicher Unterschied zu achtunddreißig. Die Weinlesehelfer mussten noch eine Woche durchhalten und ich hatte mir vorgenommen, bis dahin die erste Hälfte meines Manuskripts so zu optimieren, dass ich sie an die Literaturagenturen schicken konnte. Letzte Zweifel ignorierte ich so gut es ging. Drei Agenturen, die Claudia mir genannt hatte und die ganz oben auf der Liste standen, sollten zuerst Post von mir bekommen. Zwei saßen sogar in Berlin, die Dritte in Hamburg. Meine Liste deckte fast alle Regionen Deutschlands ab, rund dreißig Agenturen und Verlage. Da musste doch was dabei sein.

Ich saß auf der Terrasse und mühte mich ab, ein vernünftiges Exposé hinzubekommen. Zum dritten Mal löschte ich den gesamten Text und war kurz davor aufzugeben. Da signalisierte mir mein Handy, dass ich eine Nachricht von Kati bekommen hatte. Das war es, was mich schon den ganzen Tag beschäftigte: Wie war die Party gewesen? Im Grunde wollte ich es gar nicht wissen, aber ein allerletztes Fitzelchen hielt mich doch an dem einen Bein fest, das noch im alten Leben verankert war und nicht wegkam. Ich war mir fast sicher, dass es Neuigkeiten von Marc und der roten Franzi geben würde. Ich gönnte es ihm, er sollte glücklich sein und dennoch gab es da immer noch den klitzekleinen Stich in meiner Herzgegend.

Es war eine grandiose Party!! Dein Rosé war der absolute Renner. Nichts mehr von da. Ich brauche Nachschub! Hast du Zeit zum Telefonieren?

Nein, das würde ich mir jetzt nicht antun. Ich brauchte die Informationen stückchenweise, per Nachricht. Nicht am Telefon. Da hatte ich nicht so viel Zeit zum Überlegen, bevor ich antwortete.

Bin gerade unterwegs.

Ich schick dir eine Sprachnachricht, sonst schreibe ich auch noch einen Roman. Smiley, Smiley.

Die nächsten Minuten zogen sich dahin. Ich beschloss, mir ein Glas Rosé zu holen, um Katis Neuigkeiten besser ertragen zu können. Und dann poppte endlich das Sprachnachrichtensymbol auf.

«Hi Karla, bevor ich mir die Finger wund tippe, quatsche ich dir lieber ein bisschen was drauf. Also, es war echt eine sensationelle Party, alle sind gekommen, und gegangen sind die Letzten so gegen vier Uhr morgens. Puh, ich steh noch ein bisschen neben mir. Zu viel Rosé getrunken. Es war fast schon eine Rosé-Party.» Sie kicherte wie eine beschwipste Vierzehnjährige, die zum ersten Mal Alkohol probiert hat.

«Ich habe allen erzählt, dass ich ihn von dir habe und du Connections zu dem Weingut hast. Und dass du da jetzt um die Ecke wohnst. Isabelle und Daniel wussten es ja schon, aber alle anderen haben geguckt, sag ich dir.» Sie lachte laut auf, offensichtlich fühlte sie sich wohl in ihrer Rolle als Geheimnislüfterin.

«Marc ist übrigens mit Franzi zusammen zur Party gekommen. Ich kriege ja sonst nichts mit, ich vermute, er will es verheimlichen, dass da was läuft. Na ja, sie waren auf jeden Fall den ganzen Abend zusammen. Aber nix mit Knutschen, Händchenhalten oder so. Habe auch leider nichts herausbekommen. Aber ich soll dich grüßen von ihm und er freut sich, dass es dir gut geht. Das hat er sogar im Beisein von Franzi gesagt. Also, keine Ahnung, ob da was läuft. Aber das sollte dich gar nicht mehr interessieren ... du bist weit weg und ... hast alles richtig gemacht.» Ein Umschwung in ihrer Stimme. Das Partyglück ließ langsam nach.

«Ach, weißt du, Karla, ich beneide dich echt ... du hast einfach mal gemacht. Und ich stecke hier tief drin und komme nicht raus. Isabelle hält mich für verrückt. Ach, übrigens ist sie schwanger. Sie war die Einzige, die deinen Rosé nicht probieren konnte. Die beiden sind auf der Suche nach einem Haus. Puh … ich … ich weiß gar nicht mehr, ob ich Kinder will … du?»

Womöglich setzte gerade der After-Party-Blues bei ihr ein. Diese Depri-Stimmung nach einer durchzechten Nacht, wenn einem schlagartig wieder bewusst wird, dass die Realität im nüchternen Zustand anders aussieht als im betrunkenen.

«Ich habe übrigens einen zweiten Auftrag für einige Illus bekommen. Habe ihn aber abgelehnt.»

Stille.

«Ich ... ich kann das nicht, Karla. Ich kann mein Leben nicht verändern. So wie du. Ich ... ich brauche das alles hier. Dafür habe ich zu hart gekämpft.» Sie schluchzte jetzt. Was für eine Stimmungskurve, von hoch oben bis tief unten. Sie tat mir leid.

«Ich ... ich räum jetzt hier mal noch ein bisschen auf, der Caterer kommt gleich und will sein Zeug wieder abholen. Würde mich freuen, wenn du dich meldest. Sorry, dass ich dich hier so zululle. Bye, Karla.»

Was sollte ich ihr darauf antworten? Sie stand sich selbst im Weg. Sie konnte etwas ändern, aber die Sucht nach Geld und Besitz war zu groß. Konsum- und Partyrausch ließen einen kurzzeitig alles vergessen und man hatte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Und die Angst, diese zu verlieren, konnte lähmend sein. Ich wusste, wovon ich sprach. Vermeintliche Sicherheit kann gefährlich werden. Sie kann dir die Flexibilität nehmen, die freie Bewegung. Deine Träume stehlen.

Ich legte mein Handy weg, lief barfuß über die Wiese zu meiner Hängematte und legte mich hinein. Sanft stieß ich mich mit dem rechten Fuß vom Boden ab. Kati tat mir leid, aber ich konnte ihr nicht helfen. Doch da war noch ein anderes Gefühl. Ein sonderbarer Frieden lag auf mir. Obwohl ich nicht wusste, ob da was lief zwischen Marc und Franzi, war ich innerlich ruhig. Kati hatte recht, es sollte mich nicht interessieren. Ich war jetzt hier und hier war ich glücklich.

Die Hängematte schaukelte sanft hin und her. Ich verschränkte meine Arme hinter dem Kopf und blickte in den Himmel, der durch das dichte Grün des Kastanienbaums hindurchlugte. Wieder hatte ich ein Stück losgelassen.

Die nächsten Tage saß ich von morgens bis abends an meinem Laptop. Aus den ersten hundertfünfzig Seiten meines Manuskripts wurden hundertdreißig. Ich gab einigen Szenen mehr Tiefe und löschte dafür manches Überflüssige raus. Es musste einfach klappen.

Das Exposé nahm langsam Gestalt an. Am Ende der ersten Septemberwoche war alles bereit zum Versenden. Ich schickte es zunächst Claudia, damit sie ein letztes prüfendes Auge drauf warf. Und dann konnte es losgehen.

Olivier schrieb ich eine Nachricht, dass ich alles erledigt hatte und mich auf das Sommerfest morgen freute. Ich hatte ihn seit zehn Tagen nicht gesehen und sehnte mich nach seiner Stimme, seinen Blicken, seinen zufälligen Berührungen, seinem Lächeln. Wir schrieben uns fast täglich, meist banale Dinge, hinter denen aber mehr steckte. Ich kapitulierte langsam vor meinen Gefühlen, beschloss, mich nicht mehr dagegen zu wehren. Dennoch wollte ich es immer noch so langsam wie möglich angehen.

Dein Roman ist formidable, Karla, das weiß ich! Ich habe übrigens von der Weinjury die Nachricht bekommen, dass der Rosé ganz vorne mit dabei ist. Morgen soll die endgültige Entscheidung fallen. Wir haben viel zu feiern. Ich freue mich auf dich!

Ich war mir sicher, dass er den ersten Platz belegen würde. Genauso, wie er sich sicher war, dass mein Roman ein Erfolg wird. Es gab mir so viel Kraft, von Menschen umgeben zu sein, die mich ernst nahmen, an mich glaubten. Wie viel das ausmachte. Wie viel das verändern konnte.

Vogel

«Karla, es ist total egal, was du anziehst. Er ist so oder so in dich verliebt, da werden Klamotten nichts daran ändern.» Lotta amüsierte sich königlich. Wir hatten uns per Videocall getroffen und sie betrachtete mich vom Bett aus, wo ich den Laptop platziert hatte. Während ich aufgeregt wie ein Teenager vor dem ersten Date in einem Outfit nach dem anderen durch das Schlafzimmer wirbelte.

«Ja, ja, ich will aber trotzdem gut aussehen.»

«Du siehst gut aus. Deine langen Haare stehen dir übrigens excellent

Ich war seit Monaten nicht mehr bei einem Friseur gewesen und fühlte mich gut damit. Meistens trug ich meine Haare hochgezwirbelt zu einem lockeren Dutt, aber heute wollte ich sie offen tragen. Abends war es nun nicht mehr so heiß und die Gefahr verschwitzter Haare, die am Rücken klebten, bestand nicht mehr. Ich fühlte mich weiblich und genau so wollte ich heute sein. Weil ich nicht mehr wie in Berlin ständig joggen oder ins Fitnessstudio ging, hatte sich auch meine Statur verändert. Ich war nicht mehr so sportlich kantig, sondern weicher.

«Du strahlst, Karla», sagte Lotta, «von außen und von innen. Wie eine Schwangere.» Sie kicherte.

Lottas Bauch hatte in den letzten Wochen eine schöne runde Form angenommen und sie trug extra enge Kleider und Oberteile, die ihn noch mehr betonten. Sie war die schönste Schwangere, die ich je gesehen hatte. Und sie war vollständig mit sich im Reinen. Die Angst, keine gute Mutter zu sein, und das schlechte Gewissen waren verschwunden.

«Wow, Karla, du hast dich verändert! Darf ich dich heute Abend vielleicht ausführen?» Dave war ins Bild gekommen und hatte sich neben Lotta gesetzt. Sein Deutsch war inzwischen nahezu perfekt.

«Hi, Dave, wie schön dich zu sehen. Klar, beam dich kurz rüber, dann kannst du mitkommen. Aber bring Lotta mit!» Ich grinste und drehte eine weitere Pirouette. Ich trug jetzt das grüne Kleid, ich würde es auch heute Abend tragen.

«Alles klar, habe schon verstanden, dann gehe ich jetzt eben ins Bett», sagte er und verschränkte gespielt enttäuscht die Arme vor der Brust.

«Wir holen das nach, wenn ich euch endlich in Kanada besuche.»

«Na, da werde ich mich wohl noch gedulden müssen.»

«Diesmal komme ich, versprochen.»

«Okay, du hast jetzt zwei Zeugen für diese Aussage. Aber jetzt erst mal einen wundervollen Abend, Karla, und bis bald.» Er winkte in die Kamera und stand auf. «Aber dass du überhaupt noch wach bist», sagte er noch zu Lotta gewandt. «Du schläfst doch meistens schon um neun Uhr abends.»

Lotta puffte ihn in den Bauch und er ging lachend davon. Lotta war nicht nur die schönste Schwangere, sie hatte auch den besten Mann. Na ja, fast.

«Ja, du glaubst gar nicht, wie müde ich immer bin», sagte Lotta und gähnte jetzt. «Aber heute muss ich dir doch beistehen.»

In Vancouver war es elf Uhr abends und hier hatte der nächste Tag gerade begonnen.

«Das ist lieb, aber besser du gehst jetzt ins Bett, ich habe mein Outfit ja gefunden.»

Lotta nickte und reckte beide Daumen in die Höhe. «Grün steht dir wirklich ausgezeichnet.»

«Ja, das finde ich auch.» Schwungvoll hob ich meine Arme und drehte mich noch ein letztes Mal.

Als ich am späten Nachmittag am Weingut ankam, waren schon fast alle da. Auf der großen Wiese neben dem Hauptgebäude war eine riesige Tafel gedeckt. Mehrere Biertische standen hintereinander, überzogen mit einer weißen Tischdecke, die fast bis zum Boden reichte. Kleine Teelichter und leere Weinflaschen mit Sommerblumen darin standen darauf verteilt. Auf den Bänken lagen türkisfarbene Sitzkissen. Einige Plätze waren schon belegt und es wurde sich angeregt unterhalten. An der Hauswand hinter der Wiese war ein großes Buffet aufgebaut worden. Es türmten sich Salate, Käsetabletts, Baguettes und verschiedene Schüsselchen mit Dips und Oliven. Gegenüber ein großer Schwenkgrill, auf den Oliviers Vater Gemüsespieße und Würstchen legte. Ein paar von den Helfern standen um ihn herum und hielten ein Bier oder ein Glas Wein in der Hand. Zwischen den Gästen tobte Lilou umher und machte ab und an Halt bei jemandem, der bereit war, sie zu streicheln. Ich sah Babette, wie sie aus dem Haus kam und noch mehr Essen brachte, obwohl schon gar kein Platz mehr war. Eine ältere Frau kam hinter ihr aus dem Haus, lehnte sich lächelnd an die Wand und beobachtete das bunte Treiben. Das musste Oliviers Oma sein. Ich lief zu Babette, begrüßte sie und fragte, ob ich irgendetwas helfen könne. Doch sie lachte nur und scheuchte mich weg. «Nimm dir was zu trinken, amüsier disch.»

Da erblickte ich Noel und Luca, die am Ende der großen Tafel standen und sich unterhielten, und gesellte mich zu ihnen.

«Ah, unsere Karla», begrüßte mich Noel auf Französisch und wir nahmen uns in die Arme. Es war so schön, ihn wiederzusehen.

«Hallo, ihr zwei, ihr lebt noch», sagte ich lachend. «Wie war es denn noch ohne mich auf den Weinfeldern?»

«Schwer», sagte Noel stöhnend und klappte seine Mundwinkel nach unten, «du hast gefehlt.»

«Ja, klar.» Ich stieß ihn freundschaftlich in die Rippen. «Ich habe an euch gedacht, während ich mich dem Exposé für die Agenturen gewidmet habe.»

«Dann geht es jetzt also los?», fragte Luca erfreut.

«Ja, ich werde das Exposé zusammen mit einer Leseprobe verschicken und hoffe, dass eine Agentur oder ein Verlag anbeißt. Kann aber eine Weile dauern.»

«Ich bin mir sicher, unsere Karla wird eine berühmte Autorin», sagte Noel und nahm mich ein zweites Mal in die Arme. «Ich hoffe, du schreibst mir dann eine Widmung ins Buch.»

«Bien sûr. Auf jeden Fall!»

Jan und Anna stießen zu uns und unsere Truppe war nun fast komplett.

«Wo ist Tomas?», fragte ich.

«Er ist oben und telefoniert mit seiner Tochter ... Liebeskummer.» Noel verdrehte die Augen. «Hat sie andauernd.»

Tomas und Noel teilten sich eins der drei Gästezimmer auf dem Weingut. Die meisten anderen waren in günstigen Pensionen untergekommen oder bei Freunden und Bekannten von Oliviers Familie. Jan und Anna zelteten sogar hinter dem Weingut.

«Vielleicht sollte ich mal mit ihr sprechen», sagte Luca grinsend. So schüchtern er am Anfang erschien, so selbstbewusst wirkte er jetzt. Die Zeit hier tat ihm scheinbar gut.

Jemand betätigte eine Art Glöckchen und wir blickten uns um in die Richtung, aus der der Ton kam. Olivier stand bei seinem Vater am Grill und hielt eine kleine Metallglocke in der Hand. Das Gemurmel um uns wurde still.

«Bonsoir, à tous », begann Olivier und hatte dabei wieder sein unwiderstehliches Lächeln im Gesicht. Dann redete er auf Englisch weiter. «Ein riesengroßes Dankeschön an euch, dass ihr uns in den letzten Wochen so tatkräftig unterstützt habt. Mir persönlich hat es wieder großen Spaß gemacht und ich habe mich sehr über die neuen und auch über die altbekannten Gesichter gefreut. Unsere Familie wird mit jedem Jahr größer und darauf bin ich unglaublich stolz. Danke, dass es euch gibt. Und nun darf gefeiert werden!»

Klirrend stieß er mit seinem Vater an und alle jubelten und klatschten.

«Das Buffet ist eröffnet», rief Babette ebenfalls auf Englisch, und augenblicklich stürzten alle zum Haus, um sich die Teller mit den ganzen Köstlichkeiten vollzuschaufeln.

Olivier hatte mich entdeckt und kam zu mir rübergeschlendert. Sofort setzte das körpereinnehmende Kribbeln wieder ein.

«Karla, ich freue mich, dich zu sehen», begrüßte er mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. «Hast du dein Exposé fertig bekommen?»

«Ja, es liegt noch bei Claudia», antwortete ich und bemühte mich, zumindest äußerlich ruhig zu bleiben. «Wenn ihre Freigabe kommt, schicke ich es morgen raus.»

«Das klingt gut. ... Ich freue mich auf den Abend mit dir.» Er schaute mich an.

«Ja ... ja, ich freue mich auch ... und dass wir uns endlich wiedersehen.» Das «endlich» war nicht eingeplant gewesen, aber mit rausgerutscht. Sofort schoss mir die Hitze in den Kopf. Doch in Oliviers Augen schimmerte ein Lächeln.

Der Abend verlief großartig. Das Essen war unübertrefflich und Oliviers Eltern waren so bemüht, dass sich alle wohlfühlten, liefen ständig hin und her, um etwas zu bringen oder abzuräumen. Olivier holte zwei große Lautsprecherboxen und ließ über sein Tablet französische Volkslieder abspielen. Doch nach und nach wurden spezielle Musikwünsche laut und schließlich stellte sich Luca als DJ zur Verfügung. Pop, Hip-Hop, Rock, 80er, 90er, die Musikrichtung wechselte wild durcheinander, doch das störte niemanden. Kaum jemand saß noch am Tisch. Fast alle tanzten, sangen mit.

Ich saß etwas abseits der Menge und unterhielt mich mit Oliviers Großmutter, er hatte mich ihr vorgestellt. Sie war fast neunzig Jahre alt, aber noch mitten im Leben und ganz angetan davon, sich mit mir auf Deutsch und über Deutschland zu unterhalten. Ihre Stimme war leicht brüchig, doch ihre Augen leuchteten, ich sollte ihr alles über mein Leben in Berlin erzählen. Und da Olivier die meiste Zeit mit den Gästen beschäftigt war und nicht zuhören konnte, fiel es mir leicht. Nur Marc erwähnte ich nicht. Schließlich verabschiedete sie sich, «Alte Frauen müssen ins Bett», sagte sie und lächelte mich an. Sie erhob sich langsam und wandte sich zum Gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um. «Du bist mehr hier als dort, Karla, das spüre ich.»

Ich sah ihr noch nach, bis sie im Haus verschwand und schaute in den langsam dunkler werdenden Himmel. Die Sicht war klar, die ersten Sterne glitzerten weit weg. Ja, ich war mehr hier als dort.

Mein Handy vibrierte in meiner Tasche, Claudia hatte mir geschrieben. Es ist perfekt, schick es raus!

Kurz zuckte ich. Morgen würde ich also mein Manuskript aus der Hand geben. Fremde Leute würden es sich anschauen. Mit zitternden Fingern steckte ich mein Handy wieder in die Tasche.

«Hey, Karla», rief jemand aus Richtung der Tanzenden. Noel kam zu mir herüber und hatte Jan und Anna im Schlepptau.

«Komm, tanz mit uns», sagte Anna, griff meine Hand und zog mich hoch.

Nur widerwillig ließ ich mich auf die Wiese neben der Tafel ziehen, die als Tanzfläche diente. Doch Noel schob mich weiter, mitten in die Menge. Keiner bemerkte, dass eine neue Tänzerin zu ihnen gestoßen war. Langsam lockerte ich mich und bewegte meinen Oberkörper im Takt der Musik. Es lief ein alter Song aus den Neunzigern, «Torn». Noel lachte und zappelte hin und her. Anna hatte die Arme in die Luft gehoben und die Augen geschlossen. Jan machte kreisende Bewegungen mit seinen Händen. Es war egal, wie man tanzte. Es ging um Spaß. Um zusammen feiern.

Meine Bewegungen wurden fließender, ich ließ mich von der Menge tragen, wurde eins mit der Musik. Lange hatte ich nicht mehr so einen echten Spaß auf einer Party gehabt – ungezwungen, frei, bunt.

Jemand legte mir von hinten die Hände auf meine Hüften und flüsterte mir ins Ohr. Ich verstand nur «Wein» und «erster Platz». Kurz aufkreischend drehte ich mich um, schlang meine Arme um Olivier und hüpfte auf und ab. «Ich wusste es, ich wusste es!»

Olivier erwiderte meine spontane Umarmung und so standen wir eine Weile nur da, umschlungen, während um uns herum alle tanzten und laut mitsangen und die Luft prall gefüllt war von Freude, Sommer, Hoffnung und Glück. Im nächsten Moment ertönte «Reality». Es war ein abgekartetes Spiel, das wusste ich. Denn ich hatte Luca von meiner Leidenschaft für Sophie Marceau und «La Boum» erzählt. Und außerdem konnte er Olivier und mich genau sehen von seinem improvisierten DJ-Pult aus. Aber das war mir jetzt egal. Ich legte meinen Kopf an Oliviers Schulter, spürte seine Körperwärme und wir bewegten uns kaum merklich zu dem Song. Die Dunkelheit war längst über uns hereingebrochen, der Himmel sternenklar. Alois, Oliviers Vater, hatte rund um die Wiese dünne Holzpfähle in den Boden gesteckt und eine lange Lichterkette daran aufgehängt. Sie warf ein warmes, unaufdringliches Licht auf dieses Fest an diesem Ort. Nirgendwo anders wollte ich sein.

Olivier löste sich sanft von mir, nahm meine Hand und zog mich aus der Menge raus. «Lust auf einen kleinen Ausflug?»

Immer noch in der Schönheit dieses Moments gefangen und deshalb unfähig, etwas zu sagen, folgte ich ihm. Mir war alles egal, Hauptsache ich war bei ihm. Wehren nützte nichts mehr, diese Mauer war vollkommen eingestürzt.

Wir liefen zum Parkplatz, wo eine kleine Vespa stand, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. «Ist das deine?», fragte ich.

«Von meiner Mutter. Sie hat bestimmt nichts dagegen, dass wir sie uns mal ausleihen.» Dann ging er zu seinem Wagen und holte eine Jacke, die er mir um die Schultern legte. «Für den Fahrtwind.»

Dankbar schlüpfte ich hinein.

Dann gab er mir einen der zwei Helme, die am Lenker hingen, und schwang sich auf den Sitz. Ich tat es ihm gleich und schon fuhren wir durch die laue Sommernacht. Meine Arme um seine Taille, meine Hände flach auf seinem Bauch. Bei jeder Kurve spürte ich die kleinen Bewegungen seiner Muskeln.

Irgendeine Zeit später, mein Zeitgefühl war völlig verschwunden, hielt er am See. An der gegenüberliegenden Seite von der Stelle, wo ich sonst immer schwimmen ging. Wir stiegen ab und Olivier zog mich zu dem kleinen, schmalen Badestrand hinunter. Ich streifte meine Schuhe von den Füßen und lief barfuß durch den körnigen Sand. Als meine Zehen das Wasser berührten, zog ich sie kurz zurück, es war frisch.

«Hast du Lust zu schwimmen?»

«Warum nicht.» Ich drehte mich um und schaute Olivier an, hielt seinem fragenden Blick stand. Die paar Gläser Wein hatten mich mutig gemacht. Ich zog die Jacke aus und ließ sie in den Sand fallen. Hitze floss durch meine Adern. Dann schob ich die Träger meines Kleides von den Schultern, sodass es herunterfiel und sich um meine Füße sammelte. Olivier bewegte sich nicht. Schaute mich nur an. Langsam drehte ich mich wieder um und ging ins Wasser. Das kühle Nass umspielte meine Knöchel, dann meine Waden, meine Kniekehlen. Kurz verharrte ich, ging weiter.

Oberschenkel, Po, Bauch.

Ich spürte Oliviers Blicke auf mir.

Schließlich tauchte ich ein. Es war kalt. Befreiend. Ich schwamm. Ließ los, was mich zurückhalten wollte. Der Mond leuchtete auf den See, spiegelte sich auf der Wasseroberfläche.

Ich blickte zum Strand, Olivier war nun ebenfalls im Wasser und schwamm auf mich zu. Seine Bewegungen waren kräftig und gleichmäßig.

Die Anziehungskraft zwischen uns ließ sich nicht mehr stoppen, sie war zu stark. Mein Herz klopfte, fast hatte ich Angst, es könnte zerspringen. Die verschiedensten Energien schnellten durch meine Blutbahnen und alles schrie nach seiner Berührung.

Hitze von innen. Die Gänsehaut wich ihr widerstandslos.

Wir näherten uns vorsichtig. Brusttief standen wir uns im Wasser gegenüber. Keiner sagte ein Wort. Dann, endlich waren wir wieder umschlungen. Seine Hände glitten über meinen Rücken, seine Lippen suchten meine, unsere Zungen fanden sich und wollten sich nie mehr loslassen. Ich strich über seine Schultern, seine Brust. Es war seltsam und gleichzeitig so elektrisierend. Sein Geruch, so anders als der von Marc. Er fühlte sich anders an, es war so fremd und doch so schön. Mein Kopf verglich im Millisekundentakt jedes Stück Haut, was ich berührte. Er kam meinen Gefühlen nicht hinterher. Ich zögerte kurz und löste mich. Ich schaute ihn an. Sein Gesicht war nur schwach zu erkennen.

«Alles in Ordnung?»

«Ja.»

Und dann vergaß ich, wo ich war, und alles andere um mich herum wurde blass. Mein Körper drohte zu explodieren. Alles, was ich in den letzten Wochen krampfhaft versucht hatte, zurückzuhalten, überschwemmte mich in einer solchen Intensität, dass ich das Gefühl hatte, nichts mehr unter Kontrolle zu haben. Aber ich versuchte es auch erst gar nicht.

Es mussten mindestens eine Stunde oder zwei vergangen sein, ich hatte mein Zeitgefühl noch nicht wiedererlangt. Wir lagen auf dem schmalen Sandstrand auf unseren Klamotten, eng aneinandergeschmiegt. Über uns eine Decke, die Olivier unter dem Sitz der Vespa gefunden hatte. Unsere Haut war getrocknet, und nur die feuchten Haare waren noch Beweis für das nächtliche Schwimmen im See. Wir schauten in den Nachthimmel, um uns war es still, nur das leise Plätschern des Wassers, das ans Ufer schwappte, war zu hören. Wir hatten seit Verlassen des Festes kaum etwas gesprochen, aber das mussten wir auch nicht. Ich genoss es, es war ein angenehmes Schweigen.

«Ich glaube, ich habe mich schon beim ersten Mal in dich verliebt. Als du das erste Mal zum Weingut kamst», sagte Olivier.

«Und ich war sauer auf dich.»

Er lachte leise. «Ich musste dich einfach ein bisschen ärgern.»

«Das war clever, denn deshalb musste ich bei jedem Schluck Rosé an dich denken.» Ich rutschte enger an ihn heran.

«Seit dem Nachmittag, wo du und Lotta bei mir wart, wusste ich endgültig, dass ich mich verliebt hatte.»

«Hat man nicht gemerkt.»

«Du warst so ... distanziert.»

«Ich weiß.»

«Das ist okay.»

«Ja.»

«Ich werde die nächsten zwei Wochen nicht da sein, habe einige Termine, um den Rosé zu präsentieren. Auch in Deutschland. Sie haben mir vorhin noch die Liste geschickt.» Olivier drehte seinen Kopf zu mir. «Ich wünschte, du würdest mitkommen, aber ich weiß, dass du mit deinem Roman zu tun hast. Und ich weiß, dass er großartig wird.» Er küsste mich auf die Stirn.

Olivier hatte die Auszeichnung «Großes Gold» für den besten Rosé des Jahres bekommen. Mehr als fünfhundert Weine wurden von einer internationalen Jury mit Gold bewertet, und es waren nur drei Roséweine dabei.

«Ich freue mich so für dich, du hast es so verdient.» Ich drehte mich zu ihm und legte meinen Kopf auf seine Brust. Dann würden wir uns jetzt zwei Wochen nicht sehen. Das war vielleicht gut, vielleicht aber auch nicht.

«Sollen wir los? Ich bringe dich nach Hause. Du frierst ja.» Er streichelte meinen Arm, auf dem sich wieder eine leichte Gänsehaut gebildet hatte. Langsam wurde es doch zu kühl, doch diesen Moment hier zu verlassen, fiel mir schwer. Ich hatte Angst vor morgen, vor den nächsten Tagen, vor meinen eigenen Gefühlen. Wann war ich so kompliziert geworden?

Wir standen auf, zogen uns an und gingen Hand in Hand zur Vespa zurück. Auf dem Rückweg fuhren wir um den halben See und dann war es nicht mehr weit bis zu mir. Wir waren die Einzigen auf der Straße, ich hatte immer noch keine Ahnung, wie spät es mittlerweile war. Der Fahrtwind war jetzt kalt und ich fror.

Vor meinem Häuschen stiegen wir ab und standen etwas unschlüssig voreinander.

«Bleib hier», sagte ich.

Wir gingen ins Haus, durch das Wohnzimmer und die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Es fühlte sich richtig an, er gehörte hierher. Marc passte hier nicht hin. Hätte niemals hierhin gepasst.

Wieder suchten sich unsere Lippen und fanden sich. Meine Hände wollten jeden Zentimeter seiner Haut berühren. Jetzt fühlte es sich weniger fremd an.

Am nächsten Tag wachten wir erst auf, als Oliviers Handy klingelte, es war Babette. Erschrocken blickte ich auf den Wecker neben meinem Bett, schon fast zwölf Uhr mittags. Musste doch spät geworden sein.

«Tout va bien maman », sagte Olivier noch leicht verschlafen ins Telefon, «ich komme gleich und helfe euch beim Aufräumen.» Dann drehte er sich zu mir. «Sie hat sich ein bisschen Sorgen gemacht, weil wir plötzlich weg waren und die Vespa auch und es jetzt schon mittags ist.» Olivier grinste und ich war froh über die Leichtigkeit in seiner Stimme.

«Na, dann sollten wir uns mal langsam aufmachen», erwiderte ich und grinste zurück. Ich wickelte mich in die blaue Decke und stand auf, um ins Bad zu gehen. Nach der Dusche ging ich runter, um uns Kaffee zu machen und brachte alles raus in den Garten. Es war schon wieder warm, aber nicht mehr so heiß. Der Herbst kündigte sich vorsichtig an.

Olivier kam mit nassen Haaren auf die Terrasse und blickte sich interessiert um. «Du hast es wirklich schön hier, Karla. Eigentlich wäre es viel zu schade, das wieder herzugeben.» Er nahm sich eine der gefüllten Kaffeetassen, kam zu mir an den Tisch und küsste mich wieder auf die Stirn. Ich mochte das, es hatte so etwas Respekt-Gefühlvolles.

«Ja, ich kann es mir ehrlich gesagt auch nicht so richtig vorstellen.» Mein Magen zog sich unangenehm zusammen. «Wann geht denn deine Tour genau los?»

«Morgen schon. Ich fahre zuerst nach Bordeaux, um die Formalien zu erledigen. Und dann werden wir die Prämierungsaufkleber für die Flaschen in Druck geben. Dann geht es weiter nach München, dort habe ich mit diversen Food- und Weinmagazinen einen Interviewtermin. Es gibt noch ein paar Veranstaltungen und Weinfachtagungen, auf denen ich den Rosé präsentiere. Die letzten Tage werde ich wieder in Frankreich sein. In Paris. Und am fünfundzwanzigsten kommen Fotografen und ein Journalist von ‹Juste du vin› zu uns auf das Weingut.»

«Puh, volles Programm.»

«Oui

«Und das haben die alles so schnell organisiert?»

«Na ja, organisiert haben sie es schon seit Wochen, sie wussten nur noch nicht, wer hinfahren wird.» Olivier nahm meine Hand. Wir saßen nebeneinander auf den Terrassenstühlen und blickten in den Garten. Die Wiese besaß dank Maurice immer noch ihr saftiges Grün.

«Das ist so eine Riesenchance für dich.» Ich erwiderte seinen leichten Druck auf meine Hand und schaute ihn von der Seite an. Wie sollte ich das aushalten, ihn ausgerechnet jetzt so lange nicht zu sehen? Doch andererseits, eine neue Beziehung? Jetzt? Das fühlte sich seltsam an. Ich durfte mich nicht von meinem Roman ablenken lassen. Und was war mit ihm? Immerhin war ich eine Deutsche, die vielleicht wieder zurück nach Deutschland ging. Dachte er darüber nach?

«Ich weiß, dass du noch irgendwo feststeckst, Karla. Ich spüre das. Und das ist absolut okay.» Er drehte sein Gesicht zu mir und drückte meine Hand noch einmal.

Statt einer Antwort verschränkte ich meine Finger in seine und legte meinen Kopf an seine Schulter.

Eine knappe Stunde später fuhren wir auf den Parkplatz des Weingutes. Es war bereits zwei Uhr nachmittags. Die Wiese sah schon fast wieder so aus, als wäre nichts gewesen. Nur der Grill stand noch dort und wartete darauf, gereinigt zu werden. Oliviers Vater kam uns mit einem großen Eimer voll Wischwasser entgegen.

«Papa, je vais le faire », sagte Olivier und griff nach dem Eimer.

«Non merci . Pack lieber deine Sachen zusammen», antwortete er und zwinkerte mir zu.

Da kamen Jan und Anna hinter dem Haus hervor, die gepackten Backpacks auf ihren Rücken. Sie hatten ein letztes Mal hier gezeltet und wollten weiter durch Frankreich reisen und dann Richtung Italien. Mir fiel siedend heiß ein, dass ich mich gar nicht von Noel und Tomas verabschiedet hatte. Hoffentlich waren sie noch da.

«Hey, ihr zwei», sagte Anna, «schön, dass wir euch noch mal sehen. Ihr habt noch ganz schön was verpasst gestern, Noel hat eine Supertanzeinlage hingelegt.» Sie lachte.

«O ja, das war zu komisch», sagte Jan, «es ging noch bis drei Uhr früh. Und danke noch mal, Olivier, für das Fest und die tolle Zeit hier.»

Wir umarmten uns alle vier fest, ich würde sie vermissen, unsere kleine Weinhelferfamilie.

«Ganz viel Erfolg mit deinem Roman, Karla», sagte Anna noch. «Lass uns wissen, wann wir ihn kaufen können.»

«Wird gemacht. Ich hoffe, ihr habt noch viele weitere aufregende und schöne Erlebnisse auf eurer Reise. Behaltet sie im Herzen.»

Wir winkten und sie liefen zum Auto von Oliviers Eltern, wo Luca schon wartete, um sie zum Bahnhof zu bringen.

«Komm, lass uns reingehen», sagte Olivier, «Noel und Tomas sind bestimmt noch auf ihrem Zimmer. Sie reisen erst morgen früh ab.»

Zum ersten Mal betrat ich das Wohnhaus, das links neben dem Anbau einen eigenen Eingang besaß. Ich wusste, dass Oliviers Eltern und seine Oma im Erdgeschoss wohnten, wo auch sein Büro lag, und er eine eigene Wohnung im Obergeschoss hatte. Hinter der Eingangstür befand sich ein kleiner Flur. Links davon war eine weitere Wohnungstür und rechts führte eine Treppe nach oben. Die Wohnungstür stand offen und ich konnte einen Blick in die dahinterliegende große Küche werfen. Babette war gerade dabei abzuwaschen.

«Salut maman. » Olivier ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie drehte sich um und wischte ihre nassen Hände an ihrer Schürze ab. «Olivier, was fällt dir ein, einfach abzuhauen?», fragte sie scherzhaft. Sie sprach Französisch, aber ich konnte sie gut verstehen. Dann winkte sie mir zu, ebenfalls hereinzukommen.

«Karla ist schuld», sagte Olivier grinsend, «sie hat mich aufgehalten.»

«Na, dann drücke ich beide Augen zu.» Sie strahlte mich an und nahm mich in die Arme. Und ich hoffte, dass meine Gesichtsfarbe normal geblieben war.

«Soll ich was helfen?», fragte ich und wollte schon nach einem Geschirrtuch greifen, das über einem Küchenstuhl hing.

«Non, non! Macht ihr euer Ding, morgen muss Olivier ja schon los.» Sie wedelte mit ihren Händen und scheuchte uns aus der Küche.

Oben war auf der linken Seite eine weitere Wohnungstür, rechts ging es in einen Flur, in dem sich die drei Gästezimmer befanden. Die ersten beiden waren leer, die Türen standen offen. Hier waren vier Helfer aus den anderen Gruppen untergebracht gewesen, erklärte mir Olivier. Beim letzten Zimmer war die Tür angelehnt, jemand telefonierte und im Badezimmer gegenüber, das sich alle Gäste teilten, lief die Dusche. Wir klopften an und traten ein. Tomas saß auf einem der Einzelbetten und sprach, seiner Stimmlage nach zu urteilen, wieder mit seiner Tochter.

«Vielleicht sollten wir sie wirklich mal an Luca verweisen», flüsterte ich Oliver zu. «Er kann sie bestimmt aufheitern.»

Tomas winkte uns zu, zeigte auf sein Handy und verdrehte die Augen. Da kam Noel ins Zimmer, er roch noch nach Seife und rubbelte im Gehen seine Haare trocken.

«Ah, was für eine schöne Überraschung, ich hatte gehofft, wir würden uns noch mal sehen, nachdem ihr ja gestern einfach verschwunden seid.» Er zwinkerte uns zu und grinste verschmitzt. Vermutlich lief ich gerade zum zweiten Mal rot an.

«Na klar», antwortete ich und probierte mich wieder im Französischen, «ich kann dich doch nicht gehen lassen, ohne mich zu verabschieden.»

Wir nahmen uns in die Arme und drückten uns. Noel war in den letzten beiden Wochen ein guter Freund für mich geworden.

«Bring du erst mal deinen Roman raus, Karla. Und dann sehen wir uns spätestens im nächsten Jahr bei der Weinlese wieder. Wenn du berühmt bist.»

«Dann kennen wir ja schon zwei Berühmtheiten», warf Tomas ein, der sein Gespräch beendet hatte. Er hatte seine Tochter offenbar wieder beruhigen können. «Einen Bestseller-Winzer und eine Bestseller-Autorin.» Tomas lachte und wir stimmten alle mit ein.

«Und jetzt haut ab», sagte Noel, «ich mag keine Abschiede, wir sehen uns später noch. Ihr habt bestimmt noch was zu besprechen.»

Oliviers Wohnung bestand aus einer kleinen Küche, die Fenster zum Hof gerichtet, einem angrenzenden großen Wohnzimmer und einem ebenfalls großen Schlafzimmer nach hinten raus, mit Blick auf die Weinfelder. Das Bad war mit ins Schlafzimmer integriert und halboffen. Zwei Seiten wurden durch eine dicke Glasscheibe vom Rest des Raumes getrennt. Die Toilette befand sich separat auf dem Flur. Olivier führte mich durch die Räume und ich bestaunte die selbstgebauten Möbelstücke, die der hellen, modernen Einrichtung einen charmanten Kontrast gaben. Ein Wohnzimmertisch aus Holzpaletten, ein Bücherregal aus gestapelten Weinkisten. Die Wand dahinter gab ein Stück Mauerwerk preis. In der Küche ein altes Weinfass, das, wie unten im Verkaufsraum, als Stehtisch fungierte. Ich fragte mich, ob Alex das so eingerichtet hatte oder ob es sein Werk war. Olivier schien meine Gedanken zu erraten.

«Ich habe das alles vor zwei Jahren renoviert und umgebaut. Die Kombination von alt und neu mochte ich schon immer.»

Aha, dann hatte er renoviert, nachdem Alex gegangen war. Irgendwie beruhigte mich das.

«Du hast einen guten Geschmack. Gefällt mir.» Ich stellte mich an das Weinfass und schaute durchs Fenster auf den Hof. Alois war noch immer mit dem Schrubben des Grills beschäftigt.

«Da bin ich beruhigt.» Olivier nahm mich in den Arm und küsste mich.

Die nächsten Stunden verbrachten wir mit Packen und Wein zusammenstellen. Olivier wollte auch andere Weine mitnehmen und sie verkosten lassen. Am Abend saßen wir ein letztes Mal alle zusammen unten in der Küche. Noel und Tomas waren auch da und es gab einen gigantischen Kartoffel-Gemüse-Auflauf. Ich fühlte mich wohl hier, aufgenommen.

Gegen neun Uhr abends verabschiedete ich mich von Noel und Tomas und brach auf. Olivier wollte früh aufstehen am nächsten Tag und wir hatten beide etwas Schlaf nachzuholen. Mein Auto stand immer noch da, wo ich es gestern Abend abgestellt hatte. Als wäre nichts gewesen.

Wir standen lange an der offenen Fahrertür und hielten uns im Arm. Die beiden kommenden Wochen waren wichtig. Wichtig für unseren beruflichen Weg und wichtig für uns.

Die nächsten Tage konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Völlig unsortiert schwirrten sie durch meinen Kopf. Ich musste mich zwingen, die Agenturanschreiben fertigzustellen, löschte gefühlte hundertmal die E-Mails, um sie dann doch wieder genau so zu schreiben wie vorher. Ich machte viele Pausen, ging spazieren, fuhr mit dem Fahrrad ins Dorf und schaute dauernd auf mein Handy. Ich schwamm im See an meiner Badestelle und blickte sehnsuchtsvoll auf jene gegenüberliegende Seite. Ich vermisste Olivier. Und gleichzeitig fragte ich mich, wie das mit uns funktionieren sollte. Wir telefonierten fast jeden Tag und schrieben uns. Er hatte viele Termine, war dauernd unterwegs oder im Gespräch. Ich versuchte, mich abzulenken, grübelte, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen sollte. Zudem schrumpfte mein finanzielles Polster tagtäglich.

Die Temperaturen sanken weiter, nachts wurde es kalt, die Ventilatoren standen nun nutzlos in der Ecke. Ich telefonierte mit meinen Eltern, erzählte aber nur wenig von Olivier. Ich sprach mit Lotta und erzählte ihr alle Details.

«Ach Karla, Süße, jetzt mach dir doch nicht schon wieder so viele Gedanken. Es läuft doch gut, entspann dich.»

Ich wünschte, sie könnte mir etwas von ihrer Gelassenheit abgeben.

Gegen Ende der Woche hatte ich endlich alle Agenturen und Verlage, die auf meiner Liste standen, angeschrieben. Jetzt hieß es warten. Warten und hoffen. Und weiterarbeiten am Manuskript, sodass auch die restlichen Seiten meinem Perfektionismus gerecht wurden.

Ich kam gerade aus dem Garten und hatte mir ein paar Kräuter aus meinem Beet geholt. Es sollte einen Tomatensalat geben. Da vibrierte mein Handy. Es lag auf dem Wohnzimmertisch, war immer in Reichweite, um Olivier nicht zu verpassen. Zwischen seinen Terminen versuchte er immer, sich zu melden.

Ich schaute aufs Display und sofort fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Magen. Eine Nachricht von Marc war eingegangen.

Seit ich ihm geschrieben hatte, dass er nicht warten solle, hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt. Das war im April gewesen.

Ich sank aufs Sofa, unschlüssig, ob ich die Nachricht lesen sollte. Doch meine Aufregung war zu groß. Meine Hände zitterten leicht, als ich sie öffnete.

Hi, Karla, ich hoffe, es geht dir gut. Ich wollte fragen, ob ich deine restlichen Sachen zu deinen Eltern bringen soll? Ich habe sie alle in Kisten gepackt. Wenn du etwas von den Möbeln oder Sonstiges haben möchtest, lass es mich wissen. Wir einigen uns bestimmt. Marc

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht genau das. Vielleicht schwebte aber irgendwo in mir doch noch ein Hauch Hoffnung, dass es hätte klappen können mit uns. Ich dachte an Olivier, auf einmal war er so weit weg. Mein Hals zog sich zusammen, Tränen sammelten sich in meinen Augen und kullerten in dicken Tropfen meine Wangen hinunter. Ärgerlich wischte ich sie weg, so einfach war das also für ihn. Meine Sachen vor die Tür stellen und mich aus seinem Leben verbannen. Wir hatten nicht mal mehr miteinander gesprochen. Er ließ mich einfach gehen. Hatte ich ihm so wenig bedeutet? Und für wen wollte er Platz machen?

Unfähig, irgendetwas zu tun, blieb ich auf dem Sofa sitzen und starrte auf den Boden. Ich wollte, ich musste ihm noch so vieles sagen. Da musste noch so viel raus.

Mein Handy klingelte. Olivier. Doch ich konnte nicht drangehen. Nicht jetzt. Ich musste das erst mit Marc klären. Endgültig. Erst dann war ich frei.

Ich schleppte mich nach draußen auf die Terrasse, wo mein Laptop stand, und schrieb Marc eine E-Mail. Ich hatte ihm so viel zu sagen, dass es nicht in eine Whatsapp-Nachricht passte. Ich schrieb, was ich ihm so oft versucht hatte zu erklären. Dass unser Leben in Berlin so oberflächlich geworden war, nur noch die unwichtigen Dinge zählten. Dass wir doch eigentlich mal ganz anders gewesen waren. Dass ich meinen Traum immer aufgeschoben hatte. Für ihn. Dass ich immer nur wollte, dass wir glücklich sind und ich es am Ende nicht mehr war. Dass ich nicht gegangen war, weil ich ihn nicht mehr liebte, sondern weil ich das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden. Und mir die Gesellschaft, in der wir feststeckten, die Luft zum Atmen nahm. Dass ich Angst gehabt hatte, dass es irgendwann zu spät wäre, meinem Traum nachzugehen. Dass ich so enttäuscht von ihm war, weil er immer genau gewusst hatte, was ich wollte. Und weil ihm offensichtlich alles andere wichtiger war als ich. Dass es mich unglaublich schmerzte, dass er mich einfach gehen ließ und dass es immer noch wehtat. Dass ich nicht mehr wusste, wann unser gemeinsamer Weg plötzlich geendet hatte. Dass ich den Marc von früher vermisste und ich immer die Hoffnung hatte, es würde funktionieren.

Ich las meine Zeilen immer wieder durch, saß Stunde um Stunde vor meinem Laptop. Hoffte, es würde leichter, wenn ich die Worte, die mich fast erdrückten, aussprach. Gegen Mitternacht drückte ich endlich auf Senden. Meine Augen brannten, in meinem Kopf dröhnte es. Aufgewühlt und völlig erschöpft ging ich ins Bett.

Die nächsten Tage zogen sich schleppend dahin. Von Marc kam keine Antwort und ich fing an, es zu bereuen, ihm überhaupt geschrieben zu haben. Wieso konnte ich nicht einfach loslassen? Es war doch alles geklärt. Ich war diejenige, die gegangen war. Doch ich hatte all die Jahre so daran geglaubt, dass Marc und ich alles schaffen konnten, dass ich mich jetzt nur schwer damit abfinden konnte, dass es eben nicht so war.

Olivier rief noch ein paar Mal an, doch ich konnte nicht drangehen. Ich sehnte mich nach ihm und fühlte mich gleichzeitig wie gelähmt. Ich schrieb ihm, dass ich nachdenken müsse und ich mich auf ihn freute, wenn er wieder da sei. Daraufhin schrieb er nicht mehr zurück. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden.

Wieder war alles anders. Anstatt weiter vorwärtszugehen, ging ich zurück. Die Leichtigkeit des französischen Sommers war vorbei. So kurz, so schön, so schmerzhaft in der Erinnerung. Ich konzentrierte mich auf mein Manuskript, deshalb war ich hier. Um mir meinen Traum zu verwirklichen. Und das konnte ich immer noch, daran hatte sich nichts geändert. Alles andere war zweitrangig. Ich musste es wegschieben. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen. Und ich noch nicht bereit. Vielleicht brauchte es aber genau das, um voranzukommen.

Vogel

Sehen wir uns morgen?

Olivier war wieder da. Ich hatte diesen Sonntag herbeigesehnt und war doch nicht in der Lage, zu ihm zu fahren. Mein altes Leben hatte mich wieder eingeholt. Ein letztes Aufbäumen, bevor es endgültig verschwand.

... muss dir noch so viel erklären , schrieb ich zurück.

Okay ... tut mir leid, wenn dir alles zu schnell ging. Ich vermisse dich.

Nein, es ging mir nicht zu schnell. Es lief eher viel zu langsam. Ich lief viel zu langsam.

Morgen sind die von «Juste du vin» bei uns im Haus, schrieb er weiter.

Ich wusste, dass Olivier es auch als Chance für mich sah, wenn ich dabei wäre. Die angehende Autorin. Konnte ja nicht schaden, das zu erwähnen. Doch es fühlte sich nicht richtig an. Nicht jetzt.

Ich komme lieber später vorbei. So gegen acht.

Die Mischung aus Aufgeregtheit vor Freude und vor der Angst, ihm von Marc zu erzählen und dass die Trennung mich immer noch belastete, war kaum zu ertragen. Die Ameisen in meinem Buch trugen schwere Steine. Olivier wusste, dass ich in Berlin nicht allein gewohnt hatte, aber er hatte auch gemerkt, dass ich die Einzelheiten lieber für mich behielt.

Als ich ankam, waren keine Journalisten und Fotografen mehr da. Ich lief zum Anbau, der leer und verlassen wirkte. Drinnen standen auf einem der Weinfässer ein paar leere Gläser, daneben zwei ebenfalls leere Roséflaschen. Alles war ein bisschen umgestellt worden, vermutlich, um für den Fotografen Platz zu machen. Auf einem Stuhl lagen Oliviers Notizbuch und Kalender. Genau wie ich hielt er Termine und Ideen analog fest. Obendrauf sein Handy. Ich setzte mich daneben und wartete, ich war ein bisschen zu früh. Ich betrachtete den Raum, in dem ich jetzt schon so oft gewesen war. Alles war so vertraut, ich fühlte mich willkommen, zugehörig. Die letzten Monate zogen in einer Art Kurzabriss an mir vorbei. Es war so viel und manchmal anstrengend. Immer ging es hoch und runter. Doch es war auch so erfüllend und schön.

Oliviers Handy klingelte. Ich schaute auf den Stuhl neben mir. «Alex» zeigte das Display an. Alex. Ich starrte auf das Blinken, das mir wie ein höhnisches Gelächter vorkam. Es klingelte unendliche zehn Mal, dann war es endlich still. Wie hypnotisiert starrte ich weiter auf die nun schwarze Fläche. Dann blinkte es erneut. Eine Nachricht war eingegangen und die erste Zeile erschien auf dem Display. Wieder Alex.

Hey, es war so schön, dass ...

Es war so schön, was? Was war so schön? Mein Herz stolperte in meiner Brust. Krampfhaft umklammerte ich den Stuhl, auf dem ich saß. Er hatte sich in Deutschland mit Alex getroffen. Warum hatten sie noch Kontakt? Warum gab es immer noch ihre Nummer in seinem Telefon?

Warum gab es immer noch Marcs Nummer in meinem? Aber das war etwas anderes. Olivier und Alex waren schon lange getrennt. Marc und ich nicht. Es fühlte sich mit einem Mal so lächerlich an, dass ich hier war, um ihm von Marc zu erzählen. Damit er verstand, warum ich gerade so war, wie ich war. Was machte ich hier überhaupt?

Ich wollte keine Erklärung, ich wollte gehen. Ich stand auf und lief raus. Noch immer war niemand zu sehen. Mein ganzer Körper war schwer, doch ich lief weiter zum Auto. Lilou bellte irgendwo im Hintergrund. Kurz zögerte ich, es gab für alles eine Erklärung. Doch ich stieg ins Auto und fuhr davon.