Dezember

Der erste Dezember begrüßte mich mit frischen sechs Grad. Doch die Sonne hatte es durch die Wolken geschafft und der blaue Himmel dahinter sah vielversprechend aus. Aber selbst wenn es geregnet hätte, vom Wetter war meine Laune gerade nicht abhängig. Das Wochenende hatte ich damit verbracht, verschiedene Bücherstapel zu bauen, mal im Halbkreis, mal aufeinandergestapelt, mal mit mir mittendrin liegend, das Handy in Selfiestellung über mir. Ich brauchte ein paar gute Fotos, die Claudia und Merle in ihre Buchhandlungen hängen und auf ihre Websites stellen konnten. Außerdem hatte ich schon mit Christian und Jeanne, dem Bloggerpärchen, hin und her geschrieben. Sie wollten die Buchwerbung auf ihrem Instagram-Kanal starten und benötigten ein paar «instamäßige» Fotos. Und ich schrieb ein paar Lokalzeitungen in Brandenburg an und versuchte mein Glück ebenso bei einigen Stadtmagazinen, von denen es in Berlin reichlich gab. Ich hoffte, als Berliner Autorin mit meinem Roman, geschrieben in Frankreich, interessant genug für eine Story zu sein. Vielleicht war meine Geschichte sogar der zündende Punkt, also stellte ich mich in den Mittelpunkt. Leicht fiel mir das nicht, hatte ich doch mein Leben lang versucht, immer nur am Rande des Geschehens aufzutauchen, doch niemals mittendrin. Vielleicht hatte ich immer Angst davor gehabt, mich zu zeigen, und deshalb den sichereren Weg gewählt. Doch nun war es anders. Denn wer Bücher schreibt, wird gesehen. Und eine Wahl blieb mir so oder so nicht, ich hatte alles auf eine Karte gesetzt – und die musste ich jetzt ausspielen.

In die Betreffzeile schrieb ich «Von Berlin in die Provence – mein neues Leben als Romanautorin». Das sollte doch zumindest so weit Neugier wecken, dass ich nicht sofort in den Tiefen des elektronischen Papierkorbs landete.

Ohne zu zögern, schickte ich alles ab. Ich war zufrieden mit mir. Bisher hatte ich immer nur Werbung für Lebensmittel machen müssen. Oberflächlich, bunt. Mit kreativen Sprüchen, die nicht immer der Wahrheit entsprachen, aber genau auf bestimmte Hirnareale ausgerichtet waren, die den Empfänger dazu verleiteten, genau dieses Produkt zu kaufen. Jetzt machte ich Werbung für mich und meinen Roman, persönlich, authentisch, echt. Die Menschen mögen keine Fassaden und leeren Versprechen. Sie wollen wissen, wie es wirklich ist. Vielleicht, um sich selbst besser zu fühlen. Vielleicht, um sich inspirieren zu lassen. Um sich verstanden zu fühlen. Wahre persönliche Geschichten lassen keinen Neid entstehen, wie es Fassaden tun. Sie beruhigen und inspirieren und geben manchmal auch einen letzten Schubs, um endlich selbst das zu tun, was man sich schon immer gewünscht hatte zu tun. Doch ohne meine jahrelange Marketingerfahrung hätte ich gar nicht gewusst, wie ich es angehen sollte. Das fiel mir in diesem Moment ein. Und nun ergab mein bisheriges Tun einen Sinn. Vielleicht hatte ich gar keine Zeit vergeudet, vielleicht sollte alles genau so sein. Vielleicht war erst jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.

Aufgekratzt trug ich einen halbvollen Karton mit Büchern nach vorn zur Tür. Gleich würde Claudia kommen, um ihn mit zu Bonnes Idées zu nehmen. Weitere hundert Exemplare wollten wir zur Post bringen, die sollte Merle bekommen. Es war höchste Zeit, das Weihnachtsgeschäft hatte begonnen.

«Hallo, meine Liebe, lass dich umarmen. Du kannst stolz auf dich sein.» Claudia nahm mich fest in die Arme, nachdem ich ihr die Tür geöffnet und die Bücherstapel präsentiert hatte. Ich fühlte mich wie ein Schulkind, das zum ersten Mal eine gute Note mit nach Hause gebracht hatte.

«Das bin ich, das bin ich wirklich. Ich habe sogar schon angefangen, ein bisschen PR für mich zu machen», sagte ich grinsend und löste mich aus ihrer Umarmung.

«Na, das gefällt mir! Weißt du, Karla, die Zeit hier und dass du deinen Traum verwirklicht hast, das hat dir gutgetan. Ich weiß noch, am Anfang wirktest du ein bisschen wie ein kleines Häufchen Elend auf mich.»

«Vergiss nicht, du hast auch einen großen Teil dazu beigetragen. Wenn ich hier nicht hätte wohnen dürfen und du mich nicht so unterstützt hättest ...»

«Ach Herzchen, nicht dafür», unterbrach sie mich, «und jetzt lass uns das Auto packen und in den Laden fahren, bevor ich noch sentimental werde.»

«Ich habe erst noch etwas für dich», sagte ich und zog eins meiner Bücher unter dem Couchtisch hervor. Claudia bekam ein Exemplar mit einer besonderen Widmung. Und als sie es entgegennahm und las, sah ich, wie ihre Augen doch noch feucht wurden.

Claudia hatte sich schon genau überlegt, wie sie mein Buch präsentieren würde. Selbstverständlich würde es im Schaufenster liegen, sagte sie, ein ganzer Stapel sogar. Daneben ein großes Pappschild mit meinem Foto und einer persönlichen Leseempfehlung von ihr. Außerdem ließ sie sich von Julie ein kleines Plakat gestalten, das einige Informationen und Bilder zu mir und meinem Buch zeigte, und das sie draußen an der Tür und drinnen an der Kassentheke befestigen wollte. Merle wollte sie die Plakate ebenfalls zur Verfügung stellen. Die beiden hatten sich schon abgesprochen.

«Na, wenn das Buch sich hier nicht verkauft, dann weiß ich auch nicht», sagte ich lachend und drehte mich in ihrem Büro ein Mal im Kreis.

«Bis auf die Feiertage lasse ich den Laden durchgehend geöffnet. Erfahrungsgemäß kommen schon immer einige Deutsche vorbei, die hier überwintern.»

«Ich bin wirklich so gespannt.»

«Was sagt eigentlich Olivier zu deinem Buch? Habt ihr schon darauf angestoßen?», fragte sie unvermittelt.

«Ähm ... nein, also ... haben wir nicht. Es ist gerade ... kompliziert ...»

«Ist es das nicht immer?»

Ich zuckte nur mit den Schultern. «Ich werde dann mal nach Hause gehen und einen Zug nach Berlin buchen», sagte ich und zog meine Jacke an.

«Ach ja, du fährst ja bald zu deinen Eltern. Wann gehts los?»

«In einer Woche. Ich komme vorher noch mal vorbei und schau mir an, ob du mich und mein Buch auch gebührend genug in Szene setzt.» Ich grinste. Ich würde mir meine gute Laune jetzt nicht wegen neuer Gedanken an Olivier verderben.

«Bien sûr , Frau Autorin. Soll ich dich nicht nach Hause bringen, ist ziemlich kalt heute.»

«Danke, aber ich laufe gern. Da kann man so gut über bestimmte Personen nachdenken ...» Ich ging zur Tür und drehte mich noch mal um. «Und, Claudia, danke für alles.»

«Das habe ich sehr gern gemacht. Ach, und Karla?»

«Ja?» Ich war schon halb aus der Tür.

«Ich habe das Haus noch nicht zur Vermietung ins Netz gestellt. Habe es noch nicht übers Herz gebracht.»

«Oh. Danke. Ich gebe dir schnellstmöglich Bescheid, wie es ab Januar weitergeht mit mir.»

Jetzt wurde es mir doch etwas schwer ums Herz. In den nächsten Wochen würde sich die Antwort auf die Frage ergeben, ob ich hier in Frankreich, in La Motte bleiben oder mir in Berlin ein weiteres neues Leben aufbauen würde. Mein Herz kannte die Antwort schon, doch mein Kopf musste noch eine Lösung finden. Oder aber ich vertraute einfach darauf, dass sich schon alles fügte.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, meine Habseligkeiten winterfest zu verstauen, die Lebensmittel, die ich noch hatte, zu verbrauchen und meine Reisetasche zu packen. Die meisten warmen Sachen lagen in Kisten verpackt bei meinen Eltern, viel musste ich also nicht mitnehmen. Außerdem steckte ich noch zwölf meiner Bücher ins Gepäck.

Ich trug jetzt regelmäßig meinen Writer-Pulli, zum einen, weil er warm und kuschelig war und zum anderen, weil ich jetzt tatsächlich ein echter Writer war. Eine Autorin. Eine Schriftstellerin.

Konnte ich mich lediglich aufgrund eines einzigen Buches so nennen?

Ja, das konnte ich. Außerdem schwirrte mir schon die nächste Romanidee durch den Kopf.

Merle schrieb mir, dass die Bücher angekommen waren, und sie immer gewusst hätte, dass eines Tages mein Buch in ihrem Buchladen liegen würde. Wir vereinbarten, dass ich direkt zu ihr käme, sobald ich in Berlin sei. Immerhin meldete sich auch die MAZ zurück. Die Brandenburger Lokalzeitung wollte einen kleinen Beitrag über mich bringen und wir machten einen Termin für ein Telefoninterview aus. Und ich schickte Exemplare an Noel, Tomas, Luca, der wieder zu Hause war, und Jan und Anna, die in Spanien überwinterten. Allen schrieb ich eine persönliche Widmung – meiner Weinlese-Crew.

Vogel

Es war so weit, mein Zug nach Berlin ging um kurz vor sechs Uhr morgens. Claudia brachte mich zum Bahnhof, der schon dezent weihnachtlich mit Lichterketten in Sternenform geschmückt war. Sie wartete noch so lange, bis die Bahn einfuhr und ich bedankte mich unzählige Male für alles. Zwei Tage zuvor hatte ich sie noch einmal im Laden besucht und ihre liebevolle Dekoration bestaunt, die sie gezaubert hatte. Man konnte gar nicht anders, als mein Buch zu kaufen, wenn man den Laden betrat. Es lachte einen von allen Seiten an. Und es war nicht nur irgendein werbebehafteter Manipulationsversuch, den Leuten irgendetwas zu verkaufen, es war eine echte Empfehlung aus Überzeugung und von Herzen.

«Olivier war bei mir im Laden. Er hat dein Buch gekauft, eins für sich und je eins für Babette und seine Oma zu Weihnachten.» Claudia sah mich eindringlich an. Ich schaute schnell weg und hievte meine Tasche in den Waggon. Zwölf Bücher hatten schon ein bisschen Gewicht.

«Na, dann weiß er ja nun, dass es da ist», sagte ich möglichst emotionslos. Die Ameisen in meinem Bauch waren immer noch mit Steinen beladen.

Ich gab Claudia noch eine letzte Umarmung und stieg in den Waggon. Da ertönte auch schon das schrille Pfeifen des Schaffners, und nur wenige Sekunden später schlossen sich die Türen. Der Zug fuhr langsam an und wurde von Sekunde zu Sekunde schneller. Ich winkte Claudia, bis sie nur noch als winziger Punkt zu erkennen war. Sie hätte Olivier etwas ausrichten können von mir. Andererseits war ich erwachsen genug, um das selbst zu regeln.

Ich setzte mich auf meinen Platz und ließ die Landschaft an mir vorbeirauschen. Nur noch verschwommen waren Häuser, Bäume und Felder zu erkennen und vermischten sich zu einer beigebraunen Masse. Jetzt ging es also zurück nach Deutschland. Die letzten Monate surrten im Schnelldurchlauf durch meinen Kopf. Wie viel ich erlebt, geschafft und gewonnen hatte. Was alles passiert war. Ja, ich fuhr zurück, aber dennoch war jetzt alles anders.

Berlin hieß mich mit eisigen vier Grad unter null willkommen. Der Zug hielt am Hauptbahnhof in der Tiefebene, meine Eltern wollten oben am Eingang auf mich warten. Schnell schwang ich mir meine Tasche über die Schultern, stieg aus und stellte mich in die Menschenmenge auf der Rolltreppe nach oben. Es war seltsam, wieder hier zu sein, alles war so vertraut und gleichzeitig fremd. So viele Menschen, die geschäftig hin und her wuselten. Touristen, Anzugträger, Kinder, Großeltern. Zerknüllte Fastfoodverpackungen und Pappbecher auf dem Boden, Zigarettenstummel, die achtlos weggeschnipst worden waren, und wild blinkende Anzeigetafeln, dass einem schwindelig wurde. Die einzelnen Ebenen des Bahnhofs waren über und über mit weihnachtlicher Deko geschmückt. Riesige goldene Plastikkugeln hingen von den Decken und vor fast jedem Bahnhofsgeschäft flimmerten mit Lichterketten geschmückte Tannenbäume, was aber anscheinend nicht dabei half, die Leute in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Bis auf die Kinder hatten alle steinerne, gestresste oder gelangweilte Mienen aufgesetzt. Noch gut zwei Wochen bis zum Fest.

Ich trat aus der riesigen Glastür und atmete die kalte Winterluft ein. Es war fast sechs Uhr abends und dunkel, doch der Platz erleuchtet von den unzähligen Lichtern der Stadt. Ich fühlte mich gut, fast schon erhaben über allen anderen, die von Termin zu Termin eilten, währenddessen ich mir dieses Leben erfolgreich abgewöhnt hatte.

«Karla, Karla, hier sind wir!»

Meine Eltern standen ein paar Meter entfernt, riefen und winkten überschwänglich über die Menge hinweg. Mühsam drängelte ich mich zu ihnen durch und wir schlossen uns in die Arme. Das letzte Mal, dass wir uns gesehen hatten, schien eine Ewigkeit her zu sein.

«Karla, mein Liebes!» Meine Mutter drückte mir einen Kuss nach dem anderen auf Wangen und Stirn und strich mir immer wieder durchs Haar. «Deine Haare, so lang hattest du sie noch nie, steht dir gut. Du siehst erholt aus.» Wieder drückte sie mich und hielt meinen Arm fest, als hätte sie Angst, ich könnte gleich wieder verschwinden.

«Deine Mutter hatte schon Sorge, du überlegst es dir doch noch mal anders», sagte mein Vater und nahm mir meine Tasche ab.

«Ach, Quatsch, was soll ich denn Weihnachten allein in Frankreich? Da wäre ich mir dann doch einsam vorgekommen.» Ich hakte mich bei meiner Mutter unter und wir liefen zum Auto, das einige Meter entfernt an der Straße stand.

«Ich dachte, dass du vielleicht bei Oliviers Familie feiern möchtest.»

Ich hatte meinen Eltern nur das Nötigste über Olivier erzählt, aber offenbar kannten sie ihre Tochter zu gut.

«Ach so, ja, das wäre sicherlich nett gewesen, aber Weihnachten zu Hause bei euch ist doch am schönsten. Was gibt es denn zu essen heute? Ich habe einen riesigen Hunger», sagte ich und versuchte vom Thema abzulenken, wohlwissend, dass meine Mutter es kaum abwarten konnte, ihre einzige Tochter endlich für vier Wochen verköstigen zu dürfen. Aber mein Magen hing wirklich irgendwo ganz unten und knurrte unerbittlich.

Meine Eltern hatten das Haus und den Garten in einen weihnachtlichen Glanz versetzt. Schon als Kind liebte ich es, wenn mein Vater die endlos lange Lichterkette um den Zaun spannte, kleine glitzernde Sterne in den Apfelbaum hing, die bisher jeden Winter überstanden hatten, und meine Mutter an jedem erdenkbaren Platz im Haus kleine Tannenbaumzweige platzierte, die sie entweder mit kleinen roten Kugeln oder mit Zimtstangen dekorierte. Vor der Tür stand ein kleiner Weihnachtsbaum und im Küchenfenster, das nach vorn zur Straße zeigte, leuchtete eine zweistöckige Weihnachtspyramide aus Holz, die noch aus den Kindheitstagen meines Vaters stammte. Jetzt regte sich doch langsam eine weihnachtliche Stimmung in mir.

In der Küche roch es nach Herzhaftem, ein Gemüse-Nudelauflauf à la Provence, den meine Mutter schon vorbereitet hatte. Hungrig setzte ich mich an den gedeckten Tisch und genoss es, bedient zu werden.

«Es gibt Grund zu feiern», rief mein Vater und holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. «Auf dich, liebe Karla, und auf dein erstes Buch. Mögen viele es kaufen und mögest du noch viele weitere Bücher schreiben!» Damit drückte er den Korken nach oben, der mit einem lauten Plopp an die Decke knallte und hinter ihm zu Boden fiel.

Ich schielte zu meiner Mutter, die, wie ich vermutete, immer noch Sorge hatte, ich könnte vom bloßen Schreiben meine Miete nicht bezahlen. Nicht ganz zu Unrecht, denn immerhin war noch längst nicht abzusehen, ob ich wirklich davon leben könnte. Doch sie lächelte nur, nahm das Glas entgegen, das mein Vater ihr hinhielt, und hob es hoch. «Auf dich, Liebes!»

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, es war erst sieben Uhr. Ich hatte unruhig geschlafen, war ein paar Mal aufgewacht und musste jedes Mal überlegen, wo ich mich befand.

Der Geruch von frischen Brötchen und Kaffee stieg mir in die Nase und schaffte es, dass ich mich trotz der Müdigkeit in meinen Knochen aus dem Bett schwang. Kurz blieb ich stehen und betrachtete die Bilder an der Wand über meinem alten Schreibtisch. Die Fotos hatte ich damals wild durcheinander mit Klebestreifen an die Tapete geklebt. Auf den meisten waren Lotta und ich zu sehen, ein paar Freunde aus der Schulzeit und auch zwei von Marc und mir. Eins an einem Badesee hier in Brandenburg, kurz nachdem wir zusammengekommen waren. Und ein zweites, wie wir bei meinen Eltern im Garten sitzen, auf einer Decke im Gras. Mein Vater hatte das Foto geknipst, ohne dass wir es mitbekommen haben. Es war ein ganz anderes Leben.

Eine Erinnerung kam auf und ich hob das Kopfkissen hoch. Dort lag es immer noch. Das Foto von Marc und mir, das ich von unserer Pinnwand mitgenommen hatte. Ich nahm es und klebte es zu den anderen Bildern an die Wand.

Dann zog ich mir meinen Writer-Pulli über und ging dem Kaffeegeruch entgegen nach unten in die Küche.

«Guten Morgen, wie hast du geschlafen?»

«Guten Morgen, Mum.» Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und setzte mich an den Frühstückstisch, meine Eltern hatten bereits angefangen. «Gut. Ich bin ein paar Mal aufgewacht und wusste erst nicht, wo ich bin. Aber ansonsten gut.» Ich nahm einen Schluck Kaffee, der erste Schluck war immer der beste.

«Und wie hast du deine nächsten Tage so geplant?», fragte mein Vater und biss in sein Marmeladenbrötchen.

«Also, ich werde erst mal Merle besuchen und schauen, wie sich mein Buch in ihrem Laden macht. Und dann werde ich mich noch mal dahinterklemmen, ein paar Artikel über mich in die Zeitung zu bekommen. Mit Kati wollte ich mich treffen ... und dann habe ich auch schon eine neue Buch-Idee. Vielleicht fange ich damit schon mal an.» Ich nahm mir ein Brötchen und fing an, es aufzuschneiden.

«Wir könnten die Tage zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen», schlug meine Mutter vor. «Irene hat in Spandau wieder ihren kleinen Eierlikörstand, und ich könnte sie fragen, ob sie nicht ein paar Bücher von dir mit auslegen möchte.»

«Oh, das ist eine gute Idee, Mum!», sagte ich und bestrich mein Brötchen ebenfalls mit Marmelade. Ich freute mich, dass meine Mutter offenbar überlegt hatte, wie sie mir beim Buchverkauf helfen könnte. Irene war eine langjährige Freundin und machte einen ziemlich guten Eierlikör.

«Man könnte anbieten, dass es ein Pinnchen Likör beim Kauf eines Buches aufs Haus gibt», sagte ich und biss in mein Brötchen. Diese Marmelade hatte ich definitiv auch vermisst.

«Gute Idee!» Meine Mutter lachte, sie schien froh, dass mir ihr Vorschlag gefiel.

«So, meine beiden Lieblingsfrauen, ich lass euch jetzt allein, ich werde Erik heute helfen, seinen Gartenteich winterfest zu machen, bevor der erste Schnee fällt. Und dann besorge ich uns noch einen Weihnachtsbaum.» Mein Vater erhob sich und gab meiner Mutter und mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er die Küche verließ.

Nach zwei Brötchen mit selbst gemachter Erdbeermarmelade und zwei großen Bechern Kaffee war ich pappsatt. Ich stand auf und half meiner Mutter dabei, den Tisch abzuräumen.

«Weißt du, Karla», meine Mutter zog die Spülmaschinentür auf und räumte die Teller ein, ihre Stirnfalte war vertieft, das war sie immer, wenn es ihr ernst war, «ich möchte, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin. Ich weiß, ich habe die ganze Zeit Sorge gehabt, dass das Risiko zu groß ist, das du eingehst. Und ich habe die Sorge immer noch, ich meine, du hast ziemlich viel aufgegeben ... dein ganzes Leben hier ... Da hast du wohl mehr von deinem Vater mitbekommen als von mir.» Sie blieb vor der Spülmaschine stehen, die fertig zum Anstellen war und lächelte mich an.

Ich war dabei, den Kühlschrank einzuräumen, doch hielt jetzt inne und setzte mich. «Ich weiß doch, Mum. Mütter machen sich nun mal Sorgen. Danke, dass du nicht versucht hast, es mir auszureden.»

«Es fiel mir schwer, aber ich habe mich wirklich zurückgehalten, sonst hätte ich auch Ärger von deinem Vater bekommen.»

«Na, das hätte ich gerne gehört.»

«Du sollst nicht denken, ich hätte es dir nicht auch zugetraut. Das habe ich nämlich. O ja.» Mit Schwung drückte sie auf den Startknopf und die Maschine fing augenblicklich an zu brummen.

«Das habe ich nicht gedacht. Ich hatte ja auch Angst, ziemlich sogar. Aber noch viel mehr hatte ich Angst, es irgendwann zu bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Und, ich muss sagen, auch wenn immer noch alles ungewiss ist, es fühlt sich trotzdem gut an. Wenn man nicht mehr viel hat, fühlt man sich freier. Und leichter.»

«Hauptsache, du bist glücklich, Karla. Mehr will ich nicht. Und du weißt, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. Und auch hier wohnen kannst.»

«Das weiß ich doch, aber ich komme schon klar. Und wenn es gar nicht mehr geht, verspreche ich, dass ihr mir helfen dürft. Aber erst mal will ich es allein schaffen.»

Am Nachmittag besuchte ich Merle. Ich freute mich darauf, sie auch endlich wiederzusehen. Ich hatte ihr so viel zu erzählen, auch wenn sie das meiste schon aus meinen E-Mails und unseren Telefonaten wusste.

Schon von Weitem konnte man die einladenden Lichter erkennen, die den Türrahmen ihres kleinen Ladens zierten. Bevor ich reinging, bestaunte ich das Schaufenster, das mit weißer Fensterfarbe bemalt worden war. Es zeigte einen Schlitten, voll bepackt mit Geschenken, der von vier Rentieren gezogen wurde. In den Fensterecken hingen Tannenzweige, die mit kleinen Wattebäuschchen beklebt waren. Und in der Auslage lag, genau mittig, mein Buch. Dahinter ein üppiger Adventskranz mit dicken roten Kerzen und einer handgeschriebenen Karte, die daran lehnte: Ein wunderbares Buch einer wunderbaren Autorin aus Berlin-Brandenburg. Als Weihnachtsgeschenk wärmstens zu empfehlen.

Ich hielt kurz die Luft an, es hatte einen besseren Platz als die aktuellen Bestseller, die drumherum angeordnet waren. War das wirklich real?

Das kleine Türglöckchen bimmelte, als ich eintrat, und Merle, die hinten am Kassentresen gut zu tun hatte, schaute kurz auf und winkte mir zu. Der Laden war gut gefüllt. Manche Kunden blieben vor dem Poster stehen, auf dem mein Gesicht prangte, und nahmen kurz darauf mein Buch vom Stapel, der daneben auf einem Tisch lag. Manche legten es wieder zurück, doch einige nahmen es mit. Kurz überlegte ich, mich zu verstecken. Was, wenn sie mich erkannten? Ein neuartiges Gefühl überkam mich, wie ein angenehmes Unwohlsein, gemischt mit Freude und Ungläubigkeit. Da lag mein Buch und Leute kauften es!

Möglichst unauffällig ging ich durch die Reihen und tat, als würde ich ein bisschen stöbern, doch in Wahrheit beobachtete ich weiter die Leute, die um den kleinen Tisch mit meinen Büchern standen.

Nach einer Weile war ein größerer Schwung wieder aus dem Laden verschwunden und ich ging rüber zu Merle, die jetzt ein paar Minuten Zeit hatte.

«Karla, Kind, komm her», sagte sie und drückte mich an sich. «Ich habe es immer gewusst, dein Buch wird eines Tages in meinem Laden liegen.»

«Danke, Merle, und danke, dass du mich hier so grandios präsentierst. Bist du sicher, dass du nicht lieber die Bestseller mehr ins Licht rücken willst? Die Leute fragen doch bestimmt danach, oder?»

«Eben, sie fragen danach, ich brauche sie nicht extra präsentieren. Es gibt viel mehr Bücher, die genauso gut sind. Die müssen präsentiert werden. So wie deins. Und weißt du was? Ich habe schon zwanzig deiner Bücher verkauft. In fünf Tagen, Karla.»

«Zwanzig? Oh, das ist ja fantastisch. Aber ohne deine Werbung ...»

«Ach was, für gute Dinge muss man Werbung machen, sonst sieht man sie doch nicht.»

Da hatte sie vollkommen recht, aber ein gewisser Selbstzweifel nagte noch an mir. Vielleicht würde das für immer so bleiben und vielleicht war das okay so.

«Wenn das so weitergeht, musst du nachliefern, du hast doch noch welche, oder?»

«Ja, gut dreihundert liegen noch in Frankreich, aber warten wir erst mal ab.»

«Ich gebe dir rechtzeitig Bescheid, die Tage zwischen den Feiertagen werden noch mal heftig. Wenn alle kommen, um ihre Gutscheine einzulösen oder ihr Weihnachtsgeld ausgeben. Aber jetzt erzähl erst mal, wie waren die letzten Monate und ... wirst du wieder zurückgehen?»

Ich erzählte und erzählte. Zwischendurch mussten wir Pausen einlegen, weil neue Kunden hereinkamen. Doch die Frage, ob ich nach Frankreich zurückginge, konnte ich ihr nicht beantworten. Selbst wenn ich alle gedruckten Exemplare verkauft bekäme und neue nachdrucken ließe, würde ich noch lange nicht davon leben können. Ein Plan B musste her.

Am nächsten Tag besuchte ich mit meiner Mutter den Weihnachtsmarkt in Spandau. Ich nahm zehn meiner Bücher für Irene zum Verkauf mit, die restlichen zwei brauchte ich noch.

Das Berliner Winterwetter hielt sich und es war kalt genug, um Lust auf einen heißen Kakao und einen Crêpe mit Marzipan zu haben. Der Markt war weihnachtlich-gemütlich geschmückt. Die roten Holzhäuschen, in denen sich die Stände befanden, waren von Lichterketten umrahmt, in den Bäumen funkelten goldene Sterne. Es gab viel kleineres Handwerk wie selbst gemachten Schmuck, Kerzen, gestrickte Wollsocken, Schals und kleine Weihnachtsmännchen aus Filz. Ein süßer Duft nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln lag in der Luft.

Wir gaben meine Bücher bei Irene ab und sie drapierte sie um ihre Eierlikörfläschchen – ein eher skurriles Gesamtbild. Auf Irenes Bitte hin signierte ich noch jedes meiner Bücher. Aufgeregt war ich nicht, wer kaufte schon Bücher einer unbekannten Autorin auf einem Weihnachtsmarkt? Dort erwartete man doch ganz andere Dinge. Doch wahrscheinlich war es genau das. Je dunkler es wurde, desto mehr Menschen schoben sich durch die Gänge zwischen den Ständen und blieben interessiert bei Irene hängen. Innerhalb kürzester Zeit waren meine Bücher verkauft. Ich gab mich weiterhin als «Unbeteiligte», doch spätestens, wenn die Käufer zu Hause bei mehr Licht genauer ins Buch schauten und mein Bild im Klappeinband sahen, würde es ihnen dämmern.

«Mensch, Karla, da hättste mehr mitbringen müssen, eigentlich hättste gleich deinen eigenen Stand uffmachen können.» Irene lachte und genehmigte sich noch ein Pinnchen ihres Likörs. «Uff dich! Dit wird jut, dit spür ick.»

Ich realisierte es immer noch nicht. Leute kauften tatsächlich mein Buch. Und lasen es mit großer Wahrscheinlichkeit auch.

Vogel

«Karla Janssen?», sagte ich leicht nervös in mein Handy, als ich dranging. Die MAZ hatte wie angekündigt um fünfzehn Uhr angerufen, um mit mir das Interview zu führen. Ich hatte ihnen vorab mein Buchexposé zugeschickt, damit sie sich schon mal einlesen konnten.

«Karla, hier ist Dennis von der MAZ. Schön, dass das geklappt hat, und erst einmal Glückwunsch zum ersten eigenen Buch!»

«Danke, ja, ich freue mich auch.»

«Ich habe das Exposé gelesen, natürlich, um mich auf unser Interview vorzubereiten, aber auch, weil es mich wirklich interessiert hat, auch wenn ich wahrscheinlich nicht deine typische Zielgruppe bin. Aber dein Thema, dass das Leben manchmal anders läuft, als wie wir es uns mit zwanzig vorgestellt haben, betrifft ja auch Männer. Zumindest einige von uns.» Er lachte.

«Ja, das stimmt natürlich. Das freut mich, dass du es so siehst.» Ich drückte das Handy fester ans Ohr und lief im Zimmer hin und her. Hoffentlich gab ich vernünftige Antworten von mir.

«Ich schlage vor, wir hangeln uns einfach an den Fragen entlang, die ich vorbereitet habe, und morgen bekommst du den Artikel zugeschickt, um ihn abzusegnen.»

«Das klingt nach einem Plan.»

Das Interview dauerte über eine Stunde. Meine Aufregung hatte sich schon nach den ersten fünf Minuten gelegt. Dennis’ Fragen zielten zum einen auf den Inhalt des Buches ab, vor allem aber auch auf meine Geschichte. «Hinter jeder Geschichte steckt ein Mensch, der sie geschrieben hat und irgendwo auch Teil dieser Geschichte ist», sagte er am Ende, «und das ist es, was die Menschen da draußen interessiert. Sie wollen sich wiederfinden, in der Geschichte und in der Autorin.»

Wie versprochen bekam ich den Artikel am nächsten Tag zu lesen. Er gab genau das wieder, was mir wichtig war. Ich fühlte mich absolut verstanden. Vielleicht war es besser, einen richtig guten Text über sich auf Seite fünf einer kleinen Lokalzeitung in Brandenburg zu haben, statt als unsichtbarer Vierzeiler in den großen Berlinmagazinen unterzugehen. Vielleicht wurde man dort sogar gesehen, wenn man Glück hatte, doch spätestens am nächsten Tag wäre man schon wieder vergessen.

Der Artikel sollte in zwei Tagen erscheinen, zehn Tage vor Weihnachten, die Geschenkekaufen-Hochzeit.

In der Zwischenzeit beschäftigte ich mich mit der Frage, womit ich mir meinen Unterhalt verdienen könnte, bis ich mit dem Schreiben auf einen grünen Zweig kam. Dass ich das kam, daran glaubte ich und daran ließ sich nichts mehr rütteln. Doch ich war realistisch genug, mir einzugestehen, dass als Überbrückung ein Brotjob nötig war – denn im Prinzip war ich pleite. Doch im Gegensatz zu noch vor ein paar Monaten ängstigte mich das nicht mehr. Was brauchte ich schon? Gut, der Flug nach Kanada zu Lotta und mein weiterer Provence-Aufenthalt mussten irgendwie bezahlt werden, aber jetzt, wo ich finanziell unten am Boden angekommen war, konnte es theoretisch nur noch bergauf gehen. Ich hatte keine Angst mehr, irgendetwas zu verlieren, das von materieller Natur war, und das war so befreiend.

Vogel

«Karla», ertönte es schrill über die voll besetzten Tische hinweg. Kati und ich hatten uns in einem neuen und laut ihr «hippen» Café in Kreuzberg verabredet. Ich war schon etwas früher dagewesen und hatte einen Platz in einer der hinteren Ecken ergattert. Das Café war voll, die Leute drängelten sich um den Verkaufstresen, die Schlange reichte bis nach draußen vor die Tür. Ich fragte mich, ob der Kaffee hier besser schmeckte als anderswo und woran es lag, dass manche Cafés scheinbar hipper waren als andere.

«Karla», wiederholte sie strahlend, als sie sich zwischen den eng stehenden Tischen hindurchgeschlängelt hatte und sich endlich zu mir in die Ecke quetschen konnte. «So schön, dich zu sehen.» Sie erdrückte mich fast mit ihrer Umarmung.

«Das finde ich auch, Kati.» Ich erwiderte ihre Umarmung, und als wir losließen, betrachteten wir uns kurz, bevor wir uns noch einmal umarmten. Es war ein seltsames Gefühl, jetzt mit ihr hier an einem Tisch zu sitzen, es brachte so viele Erinnerungen hoch. Erinnerungen an ein Leben, das es nicht mehr gab. Und wie es viele Erinnerungen so an sich haben, betrachtet man sie mit ein wenig Wehmut. Ein Mensch sollte viele kleine Leben in seinem großen Leben haben. Mit jeder Veränderung beginnt ein neues, ein neuer Abschnitt. Und am Ende schaut man auf diese vielen Abschnitte zurück, die ein Ganzes ergeben haben.

«Erzähl, wie geht es dir hier in Berlin, was machen die Verkäufe und wann gehst du nach Frankreich zurück?» Erwartungsvoll schaute sie mich an.

«Also, ich fange mal vorne an, es geht mir sehr gut, ich habe eine schöne Zeit bei meinen Eltern. Wir kochen jeden Abend zusammen, spielen Spiele, schauen Filme, ein bisschen so wie früher, als ich Kind war. Und natürlich nicht zu vergessen, die weltbesten Marmeladen-Zimtplätzchen, die meine Mutter jeden dritten Tag backt, weil mein Vater und ich sie so schnell verschlingen.»

«Da hättest du mir ruhig ein paar von mitbringen können.»

«Waren leider schon wieder alle. Beim nächsten Mal dann.» Ich lächelte.

Da kam ein Kellner und wir bestellten jeder einen großen Milchcafé.

«Na ja, und meine Bücher verkaufen sich einerseits gut, auf dem Weihnachtsmarkt waren sie innerhalb einer Stunde weg, stell dir vor. Und Merle ist schon besorgt, dass die hundert Stück, die sie hat, auch bald verkauft sind. Ich denke sogar, ich werde Claudia bitten müssen, mir welche nachzuschicken. Habe sie alle im Haus gelagert. Andererseits läuft es bei Claudia im Laden nicht so gut, die deutschen Touristen bleiben dieses Jahr irgendwie aus und die Franzosen kaufen es natürlich nicht.» Claudia hatte mich am Vormittag angerufen und berichtet, dass sie erst zwei Bücher verkauft hätte. An zwei deutsche Stammkundinnen, die häufig den Winter in der Gegend verbrachten.

«Aber das ist doch gar nicht so schlecht. Wird bestimmt noch mehr. Was ist denn mit den beiden Reisebloggern, die dein Auto gekauft haben?»

«Die posten eifrig, aber erreichen eben hauptsächlich Franzosen. Vielleicht sollte ich ernsthaft überlegen, es übersetzen zu lassen.»

«Würde zumindest passen ... deutsche Autorin in Frankreich.»

«Ob ich zurück in die Provence gehe, steht noch in den Sternen.»

«Karla, du musst!» Theatralisch zog sie ihre Augenbrauen nach oben und rüttelte leicht an meinen Schultern. «Du bist doch mein Vorbild! Meine Inspiration!»

«Ja genau, wie läuft es denn mit deiner Karriere, Frau Illustratorin?»

Entspannt lehnte sie sich zurück, ein zufriedenes Lächeln zeigte sich um ihren Mund. «Gut, wirklich. Mache jetzt nur noch dreißig Stunden im Konzern. War ein Kampf, aber am Ende hat mein Chef es eingesehen.»

«War bestimmt nicht leicht für dich, das zu entscheiden.»

«Nein, aber es hat sich gelohnt. Die Illu-Aufträge machen so viel mehr Spaß. Und es kommt auch immer wieder mal was. Es erfüllt mich.»

«Und ist das nicht das Wichtigste?»

«Ja, und stell dir vor, was ich alles spare, seit ich mich nicht mehr mit Luxusartikeln belohne.» Sie kicherte.

Der Kellner brachte unsere Milchcafés und ein kleines Schälchen mit Plätzchen in Herzform.

«Die sollen vegan sein und zuckerfrei», sagte Kati. Genussvoll tauchte sie eins in den Milchschaum und steckte es sich in den Mund. Ich probierte den Kaffee, er war wirklich außergewöhnlich gut.

«Habe sogar ordentlich ausgemistet», erzählte sie weiter, «und alles ins Sozialkaufhaus gebracht. Und Jakob ist auch froh, jetzt eine zufriedenere und ausgeglichenere Frau zu haben.» Sie lächelte und rührte in ihrem Kaffee.

«Das klingt wundervoll. Man merkt dir an, dass es dir viel besser geht.»

«Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier und könnte dir das erzählen. Danke für den Tritt in den Allerwertesten.»

«Gern gemacht.» Ich grinste. «Und übrigens, ich habe noch was für dich», sagte ich und zog eins meiner Bücher aus meinem Rucksack, das ich für Kati vorbereitet hatte.

Behutsam nahm sie das Buch und strich über das Cover.

«Es ist ein großartiges Gefühl, wenn man etwas aus Leidenschaft erschaffen hat, auf das man stolz sein kann, oder?», fragte ich und legte meine Hand für einen Moment auf ihre.

«Ja, das ist es.» Kati schaute auf, ihre Augen glitzerten leicht. «Danke, dass ich das machen durfte.»

«Wir haben uns doch gegenseitig geholfen.»

Nach dem Café-Besuch schlenderten wir am Landwehrkanal entlang und plauderten über alte Zeiten, die so alt gar nicht waren. Und die Erinnerungen taten nicht mehr weh. Sie waren einfach ein Teil meines Lebens, der nun vorbei war. Ich konnte also nach Berlin zurückkehren, ohne deprimiert zu sein.

Schließlich begleitete ich Kati noch nach Hause – ich wollte noch etwas erledigen.

«Bist du dir sicher, dass du klarkommst?», fragte Kati. Sie stand unschlüssig vor ihrer Haustür und sah mich stirnrunzelnd an.

«Ja, ich komme klar, habe nur eine Sache, die ich noch tun will, und dann bin ich auch schon weg.»

«Okay. Na dann, wir hören uns und sehen uns hoffentlich auch noch mal.»

«Sehr gern, mach’s gut, Kati.»

Wir umarmten uns und dann verschwand sie im Haus.

Langsam ging ich rüber zum Nachbargebäude, schaute nach oben zur obersten Etage. Am Hauseingang betrachtete ich die Klingelschilder, mein Name stand noch immer neben Marcs. Hatte er es extra so gelassen oder nur nicht dran gedacht?

Ich kramte meinen Schlüssel aus dem Rucksack und schloss die Haustür auf. Es war vier Uhr nachmittags an einem Donnerstag, Marc würde noch lange im Büro sein. Im Hausflur roch es immer noch nach neuem Haus. Die Wände strahlten in sterilem Weiß. Ich nahm die Treppen und stieg langsam und Stufe für Stufe nach oben. Ich genoss es, es waren die letzten Schritte in diesem Haus. So oft weiß man nicht, wann man jemanden zum letzten Mal sieht, etwas zum letzten Mal macht, doch hier und jetzt wusste ich es.

Oben vor der Wohnungstür zögerte ich einen Moment, sollte ich reingehen? Doch ich ließ es bleiben. Zog stattdessen das letzte Exemplar meines Buches heraus, das ich mitgenommen hatte, eingewickelt in weißes Papier, und legte es vor die Tür. Obendrauf ein Umschlag – drinnen waren ein Zettel und meine Schlüssel.

Ein letztes Mal setzte ich mich unten auf die kleine Bank im Innenhof und betrachtete die Wiese und den kleinen zugefrorenen Teich. Langsam und erst kaum sichtbar fielen die ersten Schneeflocken in diesem Jahr. Behutsam setzten sie sich auf das Gras, als würden sie zuerst schauen wollen, ob die Erde bereit war. Dann sammelten sie sich als feiner weißer Flaum und bildeten die erste Schicht. Ich stand auf und sah ein letztes Mal nach oben zu Marcs Fenster, zu seiner Wohnung, seinem Zuhause. Dann ging ich langsam vom Hof und schaute mich nicht mehr um. Ab dem Moment war es nur noch eine Erinnerung. Ein Bild in meinem Kopf.

Vogel

«Brandenburger Neuautorin berührt mit Debütroman» stand groß und dick auf der Titelseite der MAZ. Mein Vater hatte die Zeitung auf dem Frühstückstisch ausgebreitet, an dem wir gerade saßen, und hatte Tränen in den Augen, die er schnell wieder wegblinzelte.

«Oh, wie fantastisch!», rief meine Mutter, lachte und klatschte mehrfach in die Hände. Ich hatte sie selten so ausgelassen gesehen.

Ich saß nur da und bekam mein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Das Foto von mir und meinem Roman, das fast die halbe Seite einnahm und das ich Dennis per E-Mail geschickt hatte, zeigte eine fröhlich grinsende Karla. Und ich grinste fröhlich zurück.

«Na, da werden sie Merle aber die Bude einrennen», sagte mein Vater und zeigte auf das Info-Kästchen unter dem Artikel, in dem ihr Buchladen angepriesen wurde. Denn nur dort konnte man «den großartigen Roman, der den Leser über das Leben sinnieren lässt» erwerben – lautete Dennis’ Abschlusssatz.

Es war Samstag, heute hatten die Menschen Zeit für Weihnachtseinkäufe.

Vogel

«Karla, du musst mir neue Bücher bringen! Seit dem Artikel vor drei Tagen werde ich der Kunden hier nicht mehr Herr. Selbst bis nach Berlin hat es sich herumgesprochen! Ich habe nur noch zehn Bücher, per Onlinebestellung gebe ich gar nichts mehr raus.» Merle holte kaum Luft beim Sprechen. Und sie sprach so laut. Ich musste mein Handy etwas vom Ohr weghalten. Doch war es doch genau das, was wir uns erhofft hatten. Sie rüttelte mich wach. Die ganze Zeit hatte ich irgendwie gemacht und irgendwie doch noch gezweifelt. Für Zweifel war jetzt keine Zeit mehr.

«Was?! Das kann ich gar nicht glauben ... ich ... ich rufe Claudia an, sie kann mir die Bücher per Expresslieferung schicken. Am besten direkt zu dir in den Laden. Wenn sie es heute noch schafft, sind die Bücher übermorgen da.»

«Schick mir alle, die du hast, Karla!»

«Claudia, wie gut, dass ich dich erreiche, es gibt tolle Neuigkeiten, mein Roman wird gekauft! Es ist ein Artikel über mich in der MAZ erschienen, und jetzt braucht Merle Nachschub, die Leute bestürmen nahezu ihren Laden. Stell dir vor, es gab auch schon die ersten Rezensionen, sie stehen auf Merles Website, und sie sind gut.» Jetzt war ich diejenige, die kaum Luft holte. «Also, weshalb ich anrufe, du musst uns dringend Bücher schicken, am besten heute noch ... Claudia, die lesen mein Buch!»

Die Wörter hatten es eilig, ich hatte es eilig. Ein Wasserfall an Energie. Ich lief die ganze Zeit in meinem Zimmer im Kreis, während ich telefonierte.

«O Karla, ich freue mich für dich, aber ...», sie hustete und war kaum zu hören, so leise sprach sie, «mich hat es total erwischt. Ich wollte dich schon anrufen. Liege seit gestern im Bett, den Laden musste ich schließen.» Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Krächzen.

«O nein, Claudia, ist denn jemand da, der dir hilft, Medikamente besorgt? Warst du beim Arzt?»

«Eine Freundin besucht mich, ich brauche nur Ruhe, schlafe den ganzen Tag. Ich könnte meine Freundin bitten, dir die Bücher zu schicken.»

«Nein, nein, kümmer du dich bitte nur um dich selbst und werd schnell wieder gesund! Ich finde schon eine Lösung.» Ich wollte nicht noch weitere Leute mit meinem Problem belasten, zur Not würde ich selbst nach Frankreich fahren.

Etwas ratlos setzte ich mich aufs Bett und überlegte. Ich könnte das Auto meiner Eltern nehmen und selbst nach La Motte fahren, dreihundert Bücher würde ich darin schon unterbekommen. Aber das würde zu lange dauern und das aktuelle Schneechaos in vielen Teilen Deutschlands trug nicht dazu bei, dass diese Lösung als sinnvoll erschien. Es gab nur eine Möglichkeit. Und es war keine Zeit mehr für weitere Überlegungen.

Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer. Meine Hände zitterten und mein Herz klopfte so laut, dass ich es hören konnte.

«Karla.» In seiner Stimme lag eine Mischung aus Freude, Verwunderung und Skepsis.

«Salut , Olivier ... ich, äh, es tut mir leid, wenn ich störe, aber ... äh, ich habe da ein Problem und ... na ja, ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht helfen kannst.»

Direkt mit der Tür ins Haus, kein Raum für Small Talk oder unangenehme Pausen lassen. Es ging jetzt nur um mein Buch.

«Okay. Was für ein Problem?»

«Mit meinem Buch ... ich brauche Nachschub für Merles Laden. Du weißt, der kleine Buchladen in Brandenburg. Aber die Bücher sind im Haus und ich bin in Berlin und Claudia liegt krank im Bett und ich könnte auch selbst runterfahren, aber das würde zu lange dauern. Und hier liegt so viel Schnee und da dachte ich ...»

«... dass ich als Versanddienst einspringen könnte.»

«Nein, doch nicht so, ich meine ... ja schon ... ich ... Hilfst du mir?» Meine Hand am Hörer war schweißig geworden. Und mein Ohr tat weh, so fest presste ich das Handy daran.

«Natürlich helfe ich dir ... schön, dass du anrufst ...»

«Das ... das ist nicht der einzige Grund, warum ich anrufe ... vielleicht ... bin ich auch froh über diesen Grund ...» Was bitte sollte das werden? Ich stand nun am Fenster und blickte raus in den verschneiten Garten. Warum war das immer so schwer? Warum sagte man nicht einfach, was man sagen wollte?

«Was soll ich tun?»

«Du fährst zu Claudia, holst dir den Schlüssel zum Haus, lädst die dreihundert Bücher in dein Auto und bringst sie zur Post. Bitte alles per Express verschicken und direkt an Merle liefern lassen. Die Adresse schicke ich dir gleich.»

«Gut, geht klar. Ich fahre gleich hin und erledige das.»

«Olivier ... danke.»

Jetzt kam sie doch, die unangenehme Gesprächspause.

«Ich habe dein Buch gelesen ... es ist wirklich gut. Authentisch. So ist das Leben. C’est la vie. »

«Ja.»

«Ich könnte es bei uns mit auslegen, es kommen ja so einige deutsche Touristen vorbei.»

«Ja, das ist eine gute Idee. Ich überlege schon, es irgendwann übersetzen zu lassen. Mal sehen ... Vielleicht gibts Rabatt auf meinen Lieblingsrosé, wenn man mein Buch kauft.» Ich kicherte leise, es tat gut, mit ihm zu sprechen. Ich vermisste ihn.

«Du Marketingexpertin», Olivier lachte, «und tolle Autorin natürlich.»

Wieder Pause.

«Olivier ... es tut mir leid, dass ich mich einfach nicht mehr gemeldet habe. Ich ... es war mir plötzlich zu viel und als ich den Anruf von Alex gesehen habe ...»

«Dachte ich mir doch, dass du das gesehen hast. Und das tut mir leid, Karla. Ich wollte dir von dem Treffen erzählen, an dem Tag, als wir uns wiedersehen wollten.»

«Das war ziemlich blöd von mir.»

«Ich hätte es dir einfach schon am Telefon sagen sollen. Aber ich wollte es lieber persönlich tun.»

«Und ich habe ein Foto gesehen ... von dir und Alex auf dieser Gala ... im Internet ...»

«Da ist nichts, Karla. Schon lange nicht mehr. Sie war einfach die Organisatorin dieses Charity-Events, ich hatte das erst kurz vorher erfahren. Meine Termine in den zwei Wochen waren so eng getaktet, ich hatte gar keine Zeit, mich auf irgendwas vorzubereiten. Und dann stand sie da.»

«Und hat dich ein bisschen genutzt, um Werbung für ihre Agentur zu machen, und gemerkt, dass du vielleicht doch ein ganz guter Fang wärst.» O Gott, ich wollte mich nicht eifersüchtig anhören.

«Bin ich das etwa nicht?» Ich sah sein Lächeln bildlich vor mir. «Ja, du hast recht, doch noch an diesem Abend habe ich ihr deutlich gesagt, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie hat es akzeptiert und es war einfach nur ein netter Abend.»

Ich sagte nichts, ich hatte es die ganze Zeit gewusst, dass es eine vernünftige Erklärung gab. Es kam mir nur als Vorwand sehr gelegen, mich nicht auf Olivier einlassen zu müssen. Das wurde mir jetzt bewusst. Ich wollte erst mein Leben ordnen.

«Danke, dass du mir das erzählt hast, ich ... ich hätte auch nicht gedacht, dass du ... dass ihr ... aber ich wollte ...»

«Ich weiß, Karla.»

Als wir auflegten, war der Damm gebrochen und die Sehnsuchtswellen fluteten meinen Körper. Endlich waren sie durchgekommen.

Vogel

Die Tage bis Weihnachten zogen wie ein Film an mir vorbei. Merle stattete ihr kleines Lager mit weiteren dreihundert Büchern aus und ich half ihr, die Onlinebestellungen fertig zu machen und zu verschicken. Mittlerweile outete ich mich und signierte auf Wunsch meine Bücher, bevor sie die Buchhandlung verließen. Ich blieb von morgens bis abends im Laden, und wenn ich zwischendurch zu Hause war, schrieb ich bereits an meinem zweiten Buch, meiner Geschichte. Und ich fragte bei den Agenturen, mit denen ich früher zusammengearbeitet hatte, nach kleinen Textjobs, um wieder ein bisschen Einkommen zu haben. Den ein oder anderen Auftrag bekam ich.

Dann kamen die Feiertage, meine Eltern und ich machten es uns zu Hause gemütlich, aßen viel zu viel, machten lange Winterspaziergänge und tranken selbstgemachten Eierpunsch, bis uns schlecht wurde.

Mit Lotta traf ich mich per Videocall und staunte, wie groß mein süßes Patenkind in so wenigen Wochen schon geworden war. Außerdem stand mein Besuch in Kanada fest: Am dritten Januar würde es losgehen, drei Wochen waren geplant. Ich bekam es von meinen Eltern zu Weihnachten geschenkt. Und nach diesen drei Wochen würde die Entscheidung stehen. Musste sie.

Ich war auf dem Weg zu Merle, es war der dreißigste Dezember, das Schneechaos hatte sich über die Feiertage gelichtet und das perfekte Winterbild kam zum Vorschein: Eiskristalle an parkenden Autos, weißer Schnee, wohin man blickte, eine leuchtende Sonne am blauen Himmel.

Mein Handy klingelte. Claudia. Sie hatte ihre Grippe überstanden und stand schon seit zwei Tagen wieder im Laden.

«Karla, wie gut, dass ich dich erreiche, ich habe große Neuigkeiten! Elise, eine meiner Stammkundinnen aus Deutschland, die fast das ganze Jahr immer hier ist, jedenfalls, sie ist auch Verlagschefin, ehrlich gesagt wusste ich das gar nicht, sie macht immer so ein bisschen auf geheimnisvoll, egal, Karla, sie will dein Buch verlegen! Und zwar in Frankreich! Auch in Deutschland, aber hauptsächlich in Frankreich. Sie hat es gelesen und fand es wundervoll, trés formidable , wie sie sagte. Dein Stil erinnere sie an ‹Wasserkraft›, hast du doch auch gelesen, oder? Jedenfalls, du sollst sie anrufen.»