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Der Raum war vollgepackt mit Büchern. Lederne Sessel waren darin verteilt, ausgestattet mit jeweils einer eigenen Stehlampe im Art-déco-Stil.
Sobald Alex eintrat, sah der Polizeiarzt auf. Er war gerade damit beschäftigt, die Wunden einer mittelgroßen blonden Frau zu versorgen. Sie saß auf einem der Lesesessel, ihre Beine ruhten auf einem Hocker. Zusätzlich hatte ihr jemand Sofakissen unter die Füße geschoben. Ihre Augen waren blaugeschlagen.
Alex bemerkte, dass sie den Fragen des Arztes nicht folgte; apathisch starrte sie vor sich hin, als ob sie nicht einmal dann reagieren würde, wenn ihr der Doktor mit einem hellen Licht direkt ins Gesicht leuchtete.
Oberkommissar Strobelsohn, Henriks Vorgesetzter, stand am gegenüberliegenden Ende des Zimmers – wie immer wirkte der Hüne mittleren Alters griesgrämig. Er nickte Alex zur Begrüßung kurz zu, bevor er sich erneut dem jungen Mann im Trainingsanzug widmete, mit dem er bis eben gesprochen hatte. Der junge Mann machte auf Alex einen blassen und extrem schockierten Eindruck. Kein Wunder nach dem, was er im Kellergeschoss gesehen hatte.
Henrik, der sich inzwischen zu Alex gesellt hatte, folgte dessen Blick. Er beugte sich zu Alex und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist der Mann, der den Notruf gewählt hat. Laut seinen Angaben hat er die junge Frau in diesem verwirrten Zustand vorgefunden. Er heißt Peter Westphal; er ist hierhergekommen, um sie abzuholen. Ihr Name ist Suzanne Carstens. Der Tote mit dem Säbel im Bauch ist ihr Großvater.«
Alex horchte auf. »Was haben Sie gesagt? Carstens?«
»Ja. Björn Carstens. Er soll irgend so ein hohes Tier gewesen sein. Kennen Sie ihn?«
Alex zögerte nahezu unmerklich. »Nicht persönlich. Er war der Vorsitzende der Internationalen Handelskammer, als ich Anwärter bei der Kripo war. Wenn ich mich recht entsinne, hat er seine Karriere als Diplomat begonnen, hat sich früh pensionieren lassen, um dann ein Vermögen im Schifffahrtsgeschäft anzuhäufen. Was er mit Big Karl zu schaffen hatte, ist die große Frage, nehme ich mal an – gleich nach: Wer verpasste Carstens sein neues Piercing
Alex verließ Henriks Seite und ging zum Arzt hinüber. Von dort aus musterte er Peter Westphal unauffällig, der verglichen mit Strobelsohn zwergwüchsig erschien. Westphal war ungefähr eins achtzig, hatte kurzes blondes Haar und hielt den Kopf gesenkt.
Plötzlich blickte er auf und sah Alex direkt an.
Alex lächelte unverfänglich und trat zu den beiden Männern. Er streckte den Arm aus. »Entschuldigen Sie bitte. Sie sind Peter Westphal?«
»Ja«, sagte Westphal.
Sie schüttelten sich die Hände, und Alex bemerkte, dass Westphal einen ungewöhnlich festen Händedruck hatte. Und noch etwas anderes fiel ihm auf: Peter Westphal hatte Blutflecke auf der Jacke sowie auf der Trainingshose .
»Ich glaube, ich muss mich vorstellen«, sagte Alex. »Mein Name ist Gutenberg. Ich bin Staatsanwalt. Sie waren derjenige, der die Polizei heute Morgen verständigt hat?«
»Ja«, wiederholte Westphal leicht verunsichert.
Alex nickte beruhigend. »Um welche Zeit sind Sie auf dem Grundstück eingetroffen?«
»Ich denke gegen sechs oder sechs Uhr fünfzehn.«
»Was wollten Sie hier so früh an einem Sonntag?«
»Ich hatte mich mit Suzanne verabredet.«
»Eine Verabredung morgens um sechs?«, vergewisserte sich Alex mit gerunzelter Stirn.
Peter Westphal schloss die Augen für eine Sekunde. »Wir hatten vor, joggen zu gehen.«
»Wer hat Sie reingelassen?«
»Ich selbst, nachdem mir niemand aufgemacht hat.« Diesmal hielt Westphal Alex’ Blick stand.
»Sie haben einen eigenen Schlüssel?«
»Nein.« Westphal schüttelte den Kopf. »Ich kenne Frau Carstens nicht so lange. Als niemand auf mein Klingeln reagiert hat, bin ich ums Haus herumgegangen und fand die Hintertür geöffnet vor.«
»Ist Ihnen dort irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen?«
»Nun, dass die Tür offen stand. Ich habe den rückwärtigen Eingang zuvor nie benutzt.«
Alex nickte erneut. »Sie traten ein, und dann … was ist passiert?«
»Zuerst habe ich nichts gesehen oder gehört. Nachdem ich oben in Suzis Zimmer nachgeschaut habe, bin ich durchs Haus gegangen. Ich dachte, ich hätte ein Geräusch vernommen. Also sah ich im Untergeschoss nach.«
»Und was haben Sie gefunden?«
Westphal holte tief Luft. »Suzi saß auf dem Boden, zwischen den Stühlen, mit den drei blutigen Leichen. Ihr Großvater war der Einzige, den ich erkannt habe. Ich kam näher, und da wurde mir bewusst, dass sie ein Stück seines Schädels in ihrem Schoß hielt. Sie hatte zahlreiche Wunden in ihrem Gesicht, die bereits verschorft waren.«
»Das alles zu erleben, muss ein großer Schock für Sie gewesen sein«, bemerkte Alex. »Die meisten Menschen wären nicht in der Lage, vernünftig zu denken. Aber Sie scheint es nicht weiter beeinträchtigt zu haben.«
Westphals verunsicherter Ausdruck kehrte zurück. »Ich kann das nicht beurteilen, es war wirklich extrem grauenhaft. Aber bedingt durch meinen Beruf bin ich daran gewöhnt, Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das hat sicher geholfen.«
»Was für eine Tätigkeit üben Sie aus?« Alex gab seiner Stimme einen interessierten Tonfall. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Ihre Arbeit ist mit körperlicher Anstrengung verbunden. Feuerwehrmann, Baugewerbe, etwas in der Art.«
»Nah dran. Ich bin Unterwasserschweißer«, sagte Westphal ein wenig gelöster.
»Das klingt spannend und gefährlich«, erwiderte Alex und betrachtete sein Gegenüber mit neuer Aufmerksamkeit.
Westphal versuchte zu lächeln. »Ich mag alles, was mit Wasser zu tun hat. Und ich mag es, allein zu arbeiten.«
Alex lächelte zurück. »Das kann ich verstehen.« Er wurde wieder ernst. »Heute Morgen waren Sie im Keller, Sie gingen zu Ihrer Freundin, und was taten Sie dann?«
»Ich streckte die Hand nach ihr aus, und als sie nicht reagierte, zog ich den Skalp von ihrem Schoß und legte ihn auf den Tisch. Ich habe ihn lediglich an ein paar Haaren angefasst. Ich weiß, das war falsch, aber ich wollte sie in den Arm nehmen.« Peter stockte. Seine Augen zogen sich zusammen. »Sie war nicht ansprechbar, also ließ ich sie kurz allein, um den Notruf zu wählen. Als ich zurückkam, saß sie noch immer da, und ich dachte mir, ich sollte besser nichts weiter verändern. Deshalb setzte ich mich neben sie und wartete auf die Polizei.«
Strobelsohn, der bis dahin geschwiegen hatte, räusperte sich: »Herr Gutenberg, ich habe Herrn Westphals Aussage aufgenommen. Aber ich muss ihn bitten, mit mir ins Prä sidium zu kommen, damit wir die Einzelheiten nochmals durchgehen können.«
Alex entging nicht, dass Strobelsohn das Wort Einzelheiten so unverfänglich wie möglich ausgesprochen hatte. Und weil er Strobelsohn kannte, wusste er, was sich hinter der harmlosen Formulierung verbarg: Strobelsohn hatte vor, Peter Westphal zu verhören, mit dem Ziel, eventuell vorhandene Ungereimtheiten in dessen Aussage aufzudecken.
»Ich würde lieber bei Suzanne bleiben«, erklärte Westphal.
Strobelsohn setzte zu einer Antwort an, doch Alex war schneller. »Ich kann Ihren Wunsch voll und ganz nachvollziehen, aber ich versichere Ihnen, dass Frau Carstens die bestmögliche Versorgung bekommen wird. Bis Ihre Freundin wieder vernehmungsfähig ist, sind Sie unser einziger Zeuge. Können Sie unser Dilemma verstehen?«
Westphal nickte widerstrebend.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, beeilte sich Strobelsohn, anzufügen. »Vielleicht fällt Ihnen etwas ein, woran Sie bislang nicht gedacht haben, und das uns hilft, diejenigen, die für dieses grausame Verbrechen verantwortlich sind, zu fassen.«
Strobelsohns beruhigende Worte schienen an Westphals Zögern nichts zu ändern. »Aber danach möchte ich sofort zu ihr gebracht werden.«
»Natürlich möchten Sie das«, bestätigte Alex. »Sobald die Ärzte Frau Carstens versorgt haben und alle Formalitäten erledigt sind. Und denken Sie sich nichts dabei, falls das Team von der Spurensicherung Ihre Kleidung untersuchen möchte oder einen Abdruck Ihrer Schuhsohlen haben will. Wir dürfen nicht das kleinste Detail vernachlässigen.«
Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, warf Alex Strobelsohn einen Blick zu. Dieser antwortete mit einem Nicken, und Alex ging zum Polizeiarzt zurück, der sich noch immer um eine Reaktion der apathischen Augenzeugin bemühte.
»Wann werde ich mit ihr sprechen können, Hamdy?«, erkundigte sich Alex.
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Deine Schätzung ist so gut wie meine. Diese Aussetzer können ein paar Stunden, Wochen oder sogar Monate dauern. Sie hat offenbar mehrere brutale Morde mitansehen müssen. Du solltest ihr einige Tage geben, bevor du sie befragst.«
»Diese Zeit haben wir nicht«, antwortete Alex.