3
Der Aufzug hielt mit einem Ruck. Das obligatorische Ping
erklang.
Ich stieg aus.
Eine normale Klinik. Graues Linoleum am Boden. In der Luft der Geruch nach Antiseptikum. Künstliches Licht.
Ich orientierte mich, blickte mich um und fand auf der rechten Seite das Stationsschild, das ich suchte: B4, Akutneurologie
.
Eine Krankenschwester tauchte aus einem der Nebengänge auf. Sie trug ein Tablett mit Blutproben und hastete nahezu lautlos an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten. Ich folgte ihr, verlangsamte absichtlich meine Geschwindigkeit und wartete, bis sie die milchige Stationstür mit einer Schlüsselkarte aufsperrte. Sie trat hindurch, und ich ging ihr hinterher. Die Absätze meiner Pumps klapperten laut über den Boden.
Der Flur war seitlich vollgestellt mit leeren abgezogenen Krankenbetten, den üblichen Rollwagen mit Wasserflaschen, Gläsern und Handtüchern. Pflegekräfte eilten umher. Durch eine der offenen Türen zu meiner Linken konnte ich sehen, wie eine Patientin von einer Schwester versorgt wurde
.
Ich erreichte das Stationszimmer und wollte daran vorbei.
Ein älterer Mann mit weißen Baumwollhosen und T-Shirt bekleidet, sprang heraus und stellte sich mir in den Weg. »Hallo? Wo möchten Sie hin?«
Gezwungenermaßen hielt ich an.
»Das ist keine frei zugängliche Station. Sie haben sich verlaufen.« Er deutete Richtung Eingang. »Sie müssen wieder zurück.«
»Nein«, sagte ich. »B4. Das ist doch hier. Ich bin genau richtig.«
»Aber der Zutritt ist für Unbefugte verboten.«
»Mir nicht.« Ich drehte meine Handtasche um, die ich über der Schulter trug, sodass die daran befestigte Legitimationskarte sichtbar wurde.
Der Pfleger beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und las, was darauf geschrieben stand. Dann richtete er sich auf und lächelte entschuldigend. »Das konnte ich ja nicht wissen.«
»Ist Ihr Job, für Ordnung zu sorgen«, erwiderte ich. »Ich suche eine Patientin. Frau Suzanne Carstens. Muss vor knapp einer Stunde eingewiesen worden sein.«
»Carstens?«, sagte er. »Zimmer Vierhunderteinundzwanzig. Ich kann Sie hinbringen.«
»Danke, nicht nötig. Das finde ich selbst.«
Ich ließ ihn stehen und ging weiter.
An den Wänden hingen jetzt gerahmte Kopien von Monet und Degas. Offenbar sollten sie eine Art von Normalität an diesen Ort bringen. Der Arzneigeruch kam mir stärker vor.
Ich nahm eine falsche Abzweigung, kehrte um, erreichte den richtigen Flur und sah schon von Weitem einen uniformierten Polizisten neben einem Zimmer stehen. Er hatte nichts zu tun. Umso kritischer musterte er mich beim Näherkommen. Er hob sogar die Hand, um mich aufzuhalten, als ich mich kurz vor ihm befand.
Wieder zeigte ich meine Legitimation
.
Er sagte nichts, nickte nur und machte einen Schritt zur Seite, um mich passieren zu lassen.
Ohne zu klopfen, trat ich ein.
Auf einem Krankenbett mit hochgestelltem Kopfteil lag eine junge Frau. Ihr Gesicht wies Hämatome auf. Ihre bandagierten Arme ruhten kraftlos auf dem weißen Bezug. Am Handrücken waren Infusionsschläuche befestigt.
Ein Arzt und eine Schwester kümmerten sich um sie. Als sie mich bemerkten, hielten sie inne und sahen auf.
»Sie wünschen?«, fragte der Arzt.
Ein drittes Mal zeigte ich meine Karte. Doch diesmal nahm sie der Arzt von meiner Tasche herunter und studierte sie peinlichst genau.
Ich ließ ihm Zeit und wartete, bis er sie mir wieder aushändigte. Unterdessen betrachtete ich das Opfer eingehender. Die junge Frau schlief nicht. Sie hatte die Augen halb geöffnet, ihre Pupillen waren erweitert. Apathisch starrte sie ins Leere.
»Sie können ruhig fortfahren«, sagte ich dem Arzt. »Ich bleibe einfach hier am Rand stehen und mache meine Arbeit, während Sie Ihre erledigen.«
Der Arzt, ein ungefähr fünfzigjähriger Mann, runzelte die Stirn. »Und Ihre Arbeit, die besteht worin genau?«
Ich lächelte unverbindlich. »Das haben Sie doch gelesen, Herr Kollege. Ich bin Frau Dr. Wolf, Kriminalpsychologin beim Hamburger LKA.«
Die Miene des Mediziners entspannte sich. »Möchten Sie sich setzen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Umstände.«
Der Arzt wandte sich von mir ab und widmete sich erneut der Patientin. Er kontrollierte eine der Infusionen. Die Krankenschwester zupfte unterdessen die Bettdecke zurecht. Dann richteten sich beide auf.
»Frau Schäfer«, wies der Arzt die Schwester an. »Sie kommen alle Stunde vorbei und wechseln die Flüssigkeitszufuhr so weit erforderlich. Ansonsten haben wir ihr ein starkes Sedativum
verabreicht. Mit etwas Glück wird die Patientin sogar schlafen. Komplikationen sind nicht zu erwarten, aber man weiß ja nie.«
Die Schwester nickte, und er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf mich.
»Wie gesagt, ich bleibe noch eine Weile«, beantwortete ich seine stumme Frage.
»Ja, dann …«, erwiderte er. »Ich sehe nach den anderen Patienten. Wenn Sie mich benötigen, die Schwesternstation kann mich immer erreichen.«
»Danke«, sagte ich und wartete, bis der Arzt und die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatten.
Ich war mit der Patientin allein. Suzanne Carstens lag weiterhin regungslos im Bett.
Wie alt war sie eigentlich? Fünfundzwanzig? Älter wohl kaum.
Ich trat zu ihr. Deutlich konnte ich erkennen, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ihr Atem röchelte leise. Was hatte sie alles durchmachen müssen? Was hatte sie erlebt?
Aus der Nähe betrachtet fiel mir auf, dass ihre Verletzungen schwerer waren, als ich zuerst angenommen hatte. Ihr Gesicht war grün und blau geschlagen. Offenbar hatte sie auch geblutet. Jetzt war das Schlimmste abgewaschen, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie vor wenigen Stunden ausgesehen haben musste.
Die Aufnahmen vom Tatort würde ich später intensiv studieren. Aber das waren lediglich Fotos. Hier vor mir befand sich das Opfer, ein realer Mensch, nicht ein Stück Papier, nichts Abstraktes.
»Frau Carstens?«, sprach ich sie an – weder laut noch aggressiv, aber entschlossen und mit Nachdruck. Manchmal reagieren Patienten in diesem Zustand darauf.
Die junge Frau rührte sich nicht.
Die Nennung des Familiennamens erweist sich bei traumatisierten Opfern gelegentlich als zu unpersönlich und weckt zu wenige Assoziationen. Ich versuchte es
erneut.
»Suzanne?«, sagte ich leise. »Aufwachen.«
Kindheitserinnerungen sind eine spannende Sache. Sie halten dem Vergleich mit raffiniertesten Arzneien mühelos stand und lösen oftmals sehr viel mehr aus. Und auch diesmal verfehlten meine Worte ihre Wirkung nicht. Aber anders, als ich es mir erhofft hatte. Die Patientin begann zu zittern, versuchte ihre Lider vollständig zu öffnen. Ihre Augen irrten hilflos umher. Sie stöhnte auf.
Entweder ein jäher Schmerz oder aber die Kindheitserinnerungen waren nicht so positiv, wie sie sein sollten. Ich tippte auf Letzteres.
Suzanne Carstens war unleugbar eine schöne Frau. Schmale, gefühlvolle Hände, ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht. Was nicht hundertprozentig dazu passte, war ihre leicht schiefe Nase.
Ich beugte mich vor, strich mit den Fingerspitzen über das Nasenbein. Eindeutig einmal gebrochen. Vor langer Zeit und gut verheilt. Vielleicht sogar aufwendig gerichtet.
Die junge Frau stöhnte wieder. Meine Berührung schien ihr unangenehm.
»Hab keine Angst«, sagte ich. »Du bist in Sicherheit.«
Ich legte ihr die Hand auf die Stirn und strich behutsam darüber. Das Stöhnen verstummte, der Atem beruhigte sich.
Die Tür wurde aufgerissen. Fast schlug sie gegen die Wand.
Ein Mann in einem teuer aussehenden Anzug stürzte herein. Er blieb abrupt stehen, als er mich sah. Seine Augen wanderten über mein Gesicht, meinen Körper, zu meiner Hand, zu der Patientin und wieder zurück. Er wartete darauf, dass ich damit aufhörte, das Opfer zu streicheln.
Ich tat es nicht.
Wir blickten uns an. Ein großer, eher schlanker Mann. Nahezu schwarze Haare. An den Seiten erste grau melierte Stellen, aber so kurz geschnitten, dass es kaum auffiel. Stechende, dunkle Augen. Bartschatten. Ausgeprägtes, energisches Kinn. Eindeutig willensstark. Von der Haltung her war er es
gewohnt, andere Leute herumzubossen. Ein Ex-Soldat in einem italienischen Maßanzug.
Viele Frauen würden so einen testosterongesteuerten Machotypen attraktiv finden. Bei mir kam er eindeutig an die falsche Adresse.
Ich bemerkte, dass er mich ebenso intensiv musterte wie ich ihn. Nahezu schamlos glitt sein Blick über mich. Vermutlich glaubte er, das sei sein gutes Recht.
Arrogantes Arschloch
, dachte ich.
»Wer sind Sie und was machen Sie mit meiner Zeugin?« Seine Stimme passte zu ihm. Melodisch und doch kalt. Und überaus geschäftsmäßig.
Bewusst ließ ich Zeit verstreichen, bevor ich antwortete: »Und wer sind Sie?«
»Ich
?«, kam es von ihm zurück.
Ich begann zu lächeln. »Genau Sie. Oder sehen Sie sonst noch jemanden im Raum, mit dem ich sprechen könnte?«
Einer seiner Mundwinkel zuckte kurz. »Sie halten sich für komisch?«
Darauf erwiderte ich nichts.
Er atmete hörbar ein: »Ach. Seelenklempnerin.«
Seine Worte klangen verächtlich.
»Ich bevorzuge den Titel Kriminalpsychologin
.«
Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Und warum kenne ich Sie dann als Oberstaatsanwalt nicht?«
»Ich habe meine Stelle in Hamburg erst vor wenigen Tagen angetreten.«
Wieder dieses leichte Zucken eines Mundwinkels. Sonst hatte er sich eisern unter Kontrolle. Das musste ich ihm lassen.
»Frau Dr. Wolf«, sagte er. »Ich habe Ihren Namen kürzlich in einer E-Mail gelesen.«
»Ja«, bestätigte ich. »Dr. Evelin Wolf. Und Sie sind demnach Herr Gutenberg.«
Das sollte ihm schmeicheln, tat es aber nicht.
»Ich sehe, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, stellte er stattdessen fest
.
»Sie aber nicht«, gab ich zurück. »Sonst würden Sie hier nicht so hereinplatzen.« Bevor er etwas antworten konnte, fügte ich hinzu: »Und jetzt verlassen Sie umgehend das Krankenzimmer.«
Diesmal hatte ich es geschafft. Das schluckte er nicht.
»Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass ich mich von Ihnen herumkommandieren lasse!« Er war wütend und wurde dabei lauter. Na bitte, kein Supermann!
Bevor ich meinen Triumph auskosten konnte, wurde die Patientin unruhig. Ich hatte sie die ganze Zeit weiter gestreichelt. Jetzt murmelte sie etwas Unverständliches und bewegte ihren Kopf hin und her.
»Wir sollten unser Gespräch woanders fortsetzen«, sagte ich mit Nachdruck.
Gutenberg setzte zu einer Erwiderung an, warf stattdessen aber einen langen Blick auf die verwundete, nahezu bewusstlose Frau.
»Dringend«, unterbrach ich seine Gedanken und deutete nach draußen.
Er machte auf dem Absatz kehrt, öffnete die Tür und hielt sie mir auf. Ich kam seiner Aufforderung nach und ging an ihm vorbei hinaus in den Flur. Er folgte mir.