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Alex trat aus dem Polizeigebäude und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Dadurch gelang es ihm, den Pulk von Reportern unbemerkt zu passieren, der sich um den publicitygeilen Leiter des LKA, Harald Bolsen, gruppiert hatte.
Bolsen war gerade dabei, den Anwesenden das Übliche zu versichern: dass die Täter ihrer gerechten Strafe zugeführt würden. Dass es zu früh für Einzelheiten sei, doch dass der Mordfall höchste Priorität genieße.
Alex ließ die Menge hinter sich, kletterte in den Wagen und fuhr über den Ring zu seinem Arbeitsplatz.
Er bog in den Gorch-Fock-Wall ein. Bereits von Weitem konnte er die dunklen Zinnen des Gebäudes sehen, in dem die Staatsanwaltschaft untergebracht war. Kurz darauf wurde die ihm vertraute, rotbraune Fassade des imposanten, fünfstöckigen Komplexes selbst sichtbar, der aus dem Ende des vorletzten Jahrhunderts stammte.
Er hatte Glück. Weil Sonntag war, fand er einen Parkplatz nahezu direkt vor dem Eingang. Er stellte den Motor ab und nahm eilig die Stufen zu seinem Bü
ro. Sobald er die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hatte, hängte er den Mantel auf den Kleiderständer, lockerte die Krawatte und machte es sich bequem.
Er fuhr den Computer hoch und klickte auf die Regionalnachrichten. Es überraschte ihn nicht, dass der erste Bericht über die Mordfälle bereits online war. Die Überschrift Keine Verdächtigen
sprang ihm von der Seite entgegen, während er ein neues Browserfenster öffnete und Björn Carstens
schrieb. Er wartete einen Moment, bevor er die Returntaste betätigte, die Eingabe zurücksetzte und stattdessen Evelin Wolf
tippte.
Er wählte ein aktuelles Foto von ihr aus und wurde aufgefordert, sich bei Facebook einzuloggen. Er hasste es, dass er aus beruflichen Gründen um einen eigenen Account nicht herumkam, aber zumindest ermöglichte ihm dieser Umstand, einen Blick auf ihre Seite zu werfen.
Doch auch nachdem er sein Passwort eingegeben hatte, sah er nur wenig: Diese Dr. Wolf war Single – so viel hatte er bereits selbst herausgefunden. Geboren in Hamburg – wie er. Und als Wohnort hatte sie Wiesbaden angegeben. Letzteres war eindeutig veraltet.
Er kehrte zu Google zurück und suchte nach Artikeln. Er brauchte nicht lange, bevor er einen regionalen Blog fand, der offenbar die gleiche Pressemeldung erhalten hatte wie er vor ein paar Tagen von seiner Dienststelle: Dr. Wolf konnte auf eine achtjährige Erfahrung als Kriminalpsychologin beim LKA Wiesbaden zurückblicken. Sie hatte während ihrer Tätigkeit promoviert. Der Titel ihrer Dissertation lautete: Die Dynamik von Beziehungstaten – von der Liebe zum Mord.
Darüber hinaus hatte sie einen Abschluss als Psychotherapeutin vorzuweisen. Alex wusste, dass diese Ausbildung Geld verschlang. Sponsored by daddy
– die Psychologin musste aus einer gut situierten Familie stammen.
Doch all das half ihm nicht wirklich. Wenn er echte Informationen haben wollte, musste er tiefer graben.
Alex lehnte sich auf dem Stuhl zurück und suchte in seinem Sakko nach dem Handy. Er zog es heraus, öffnete seine
Kontakte und hielt inne, bevor er das Telefon auf den Schreibtisch legte.
Er wartete drei volle Minuten, dann ergriff er das Handy erneut und tippte die eingespeicherte Nummer seines Trinkgenossen aus Hochschulzeiten an, der ebenfalls in Wiesbaden arbeitete.
»Hallo, Arne, hier Alex. Wie geht’s? Hast du Zeit oder störe ich?«
»Mir geht’s immer prima, wenn ich dich an der Strippe habe, Alex. Was gibt’s?« Arne klang gut gelaunt.
»Nun, ich habe einen Fall, der viel Wirbel in der Öffentlichkeit verursachen wird. Und ich muss an die Zeugin herankommen. Das Problem dabei ist, dass die Zeugin einen Wachhund hat – eine Psychologin, die mich nicht zu ihr vorlässt. Die Seelenklempnerin ist eine von euren Leuten, und ich habe mich gefragt, ob du nicht helfen könntest, indem du mir erzählst, wie sie so tickt.«
»Lass mich raten, du sprichst von Dr. Evelin Wolf«, sagte Arne. »Vergiss es, sie erstickt jeden Versuch im Keim, ihren Panzer zu durchbrechen. Sie war Ewigkeiten mit irgendeinem Loser zusammen, so ein Salonlöwen-Verschnitt. Keiner wusste, was sie in ihm sah. Nach dieser Beziehung schien sie nicht mehr an den vielen, vielen
Männern interessiert zu sein, die versucht haben, sie zu knacken. Ich meine, sie sieht ja alles andere als schlecht aus.«
Alex runzelte die Stirn. »Ich habe von ihr gesprochen, aber in Bezug auf das Berufliche. Wie kann ich sie dazu bringen, dass sie die Zeugin zur Befragung freigibt?«
»Oh. Sie würde die Justiz niemals behindern. Doch sie ist kein Sensibelchen. Sie wird dir deine Zeugin geben, aber erst, wenn die Zeugin so weit ist.« Arne lachte. »Sie ist dir ähnlich, sie verbiegt Recht und Gesetz nicht. Und sie lässt sich von niemandem sagen, wie sie ihren Job zu machen hat. Ich nehme an, das ist der Grund, warum sie so erfolgreich ist. Und du auch! Herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung!
«
»Vielen Dank«, sagte Alex. »Die Infos helfen mir weiter. Ich melde mich bald wieder bei dir.«
»Dir ging’s bei dem Anruf nur darum? Um den Fall?« Arne war die Enttäuschung deutlich anzuhören.
»Ich wollte außerdem wissen, wie es dir geht«, beeilte sich Alex, zu erwidern.
»Okay«, meinte Arne zurückhaltend. »Ich besuche dich das nächste Mal, wenn ich in Hamburg bin, und dann werden wir endlich
einen trinken gehen, wie wir es früher getan haben.«