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Sobald ich mit meinem Audi die Tiefgarage verließ, schien mir die Sonne direkt ins Gesicht. Ich klappte die Blende hinunter. Das Wetter war für Mitte März außergewöhnlich. Kurz entschlossen betätigte ich einen Knopf am Armaturenbrett, und das Verdeck des Cabrios faltete sich automatisch ein.
Der leichte Fahrtwind, der mein Gesicht erreichte, war frisch und kühl – fast schon kalt. Ein weiterer Griff von mir, und die Nackenheizung begann mich zu wärmen. Angenehm.
Zunächst fuhr ich Richtung Bahrenfeld zu meinem Elternhaus. Wobei der Begriff eigentlich nicht mehr passte. Meine Mutter war schon lange tot. Meine Schwester lebte mit ihrer Familie in London. Und was meinen Vater betraf … Er wohnte seit Jahren in einer Seniorenresidenz.
Das große Haus, in dem ich aufgewachsen war, stand seit dem Umzug meiner Schwester nach Großbritannien leer. Ich hatte meine Sachen aus Wiesbaden von einer Spedition dorthin bringen lassen, und sie warteten nun in zahlreichen Pappkartons darauf, dass ich sie auspackte .
Ich überlegte kurz. Nein, dazu hatte ich jetzt überhaupt keine Lust. Nicht an diesem wunderschönen Tag.
Ich ordnete mich an der nächsten Ampel links ein und bog ab. Ich lenkte mit beiden Händen und ließ mich vom Verkehr mittreiben.
Ich dachte an Suzanne Carstens. Wie sie im Krankenbett gelegen hatte. An die Blutergüsse in ihrem Gesicht. An ihre Arme auf der weißen Zudecke – unbeweglich, wie Fremdkörper, die nicht zu ihr gehörten –, dick bandagiert, die obligatorische Infusion im Handrücken.
Warum hatte Dr. Hubmann geglaubt, Suzanne hätte Glück gehabt zu überleben? Sicher gab es Verletzungen. Aber keine der Wunden war lebensbedrohlich. Woher also stammte das Gefühl des behandelnden Arztes? Von dem Wissen, was im Haus passiert war? Ich schüttelte den Kopf. Die Erklärung schien naheliegend, jedoch überzeugte sie mich nicht. Was dann?
Ich erinnerte mich daran, wie ich versucht hatte, mit Suzanne Carstens Kontakt aufzunehmen. Auf ihren Nachnamen hatte sie nicht reagiert. Sehr wohl aber auf ihren Vornamen. Die Reaktion war deutlich ausgefallen und unzweifelhaft negativ. Außerdem, für eine stark Sedierte, extrem heftig.
Vielleicht hatte dieses Beinahe-Sterben, das Dr. Hubmann in Suzannes Nähe empfunden hatte, nichts mit den Vorfällen von letzter Nacht zu tun, sondern mit Geschehnissen, die weiter zurücklagen. Vermutlich mit Erlebnissen aus ihrer Kindheit.
Und ich selbst? Was hatte ich gefühlt, als ich mit meiner Hand über Suzannes Stirn gestrichen hatte? Ich horchte in mich hinein, ließ mir Zeit.
Verzweiflung? Nein. Eine erschütternde Hilflosigkeit. Das hatte ich empfunden, bis … ich runzelte die Stirn und atmete hörbar aus … bis dieser Gutenberg hereingeplatzt war.
Ich versuchte, mich zusammenzureißen und mit meinem Fokus bei Suzanne zu bleiben. Aber es gelang mir nicht. Dieser arrogante Herr Oberstaatsanwalt drängte sich rücksichtslos in den Vordergrund. Schon wieder. Wut stieg in mir auf.
Doch sosehr ich mich bemühte, das Bild von Suzanne Carstens verblasste vor meinem inneren Auge. Dafür wurde Gutenberg umso präsenter.
Er hatte nur wenige Minuten gebraucht, um meine Achillesferse zu finden. Natürlich hatte er recht gehabt. Meine Beziehung zu Jens in Wiesbaden war gescheitert. Deswegen hatte ich dort alles hinter mir gelassen. Mein bisheriges Leben, meine Freunde, meine Arbeit beim LKA. Deshalb der Neuanfang in Hamburg.
Mit seiner Bemerkung hatte mich Gutenberg verletzt. Und doch, obwohl ihm nicht entgangen sein konnte, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte, war er nicht weiter darauf herumgeritten. Sollte dieser Gutenberg doch so etwas wie Anstand besitzen?
Womöglich war seine Coolness nur eine Maske, hinter der er einen empfindsamen, gefühlvollen Menschen versteckte … Ich schnalzte missbilligend mit der Zunge. Von wegen sensibler Mann! Von wegen harte Schale, weicher Kern! Mit genau den gleichen Überlegungen war ich Jens auf den Leim gegangen. Das würde mir nicht noch einmal passieren. Bestimmt nicht.
Ich bremste und manövrierte den S 3 in eine Parklücke. Ich fuhr das Verdeck hoch, schaltete den Motor ab und stieg aus.
Rechter Hand befand sich eine schier endlose Zeile alter Jugendstilbauten. Ich aber sah in die andere Richtung. Über den Grünstreifen hinweg, über die Straße, und dahinter konnte ich das bleigraue Band der Alster erkennen. Die Bäume an ihrem Ufer waren zu dieser Jahreszeit kahl, dunkle Silhouetten gegen den blauen Himmel.
In den letzten Tagen hatte ich so viel zu tun gehabt, mir war gar nicht richtig bewusst geworden, dass ich wieder zu Hause war. Ich verriegelte den Audi mit der Fernbedienung und ging ein paar Schritte zu einem mehrstöckigen Eckhaus, in dessen Erdgeschoss ein griechisches Restaurant untergebracht war .
Poseidon – die gleiche alte Schrift auf dem länglichen Schild über den Fenstern, durch die Jahre etwas dunkler, verblichener. Aber immer noch übertrieben verschnörkelt und kitschig. Mir gefiel es.
Der schmale Gehsteig vor dem Lokal bot Platz für einige Tische. Einer war sogar frei. Ich setzte mich und drehte meinen Stuhl in Richtung der Sonne.
Die Promenade entlang des Flusses war gut besucht. Paare, Familien mit und ohne Kinderwagen schlenderten vorbei, dazwischen trabten Jogger. Die Bänke waren allesamt besetzt. Jeder genoss den Sonntag und das frühlingshafte Wetter auf seine eigene Art.
Über das Wasser schwebten die weißen Dreiecke kleiner Segler, begleitet von kreischenden Möwen. Ruderboote glitten pfeilschnell dahin und hinterließen eine dunkle Spur in den sanften Wellen. Schiffe waren nicht unbedingt meine Welt. Aber vom sicheren Land aus waren sie nett anzusehen.
Eine junge Kellnerin in schwarzem Rock und weißer Bluse erschien mit ihrem Blöckchen an meinem Tisch. »Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie.
Bevor ich antworten konnte, erklang eine Stimme: »Was ist denn hier los?«
Ein Mann Mitte sechzig stand im Eingang zum Restaurant. Eher klein, rundlich, mit einem beachtlichen Bauch, den die dunkle Weste, die er über seinem Hemd trug, nicht wirklich kaschieren konnte. Sein Haar war drahtig und fast weiß. Nicht mehr grau meliert, wie ich es in Erinnerung hatte.
Ich schaute ihn an, und er trat neben die Kellnerin.
Er stemmte die Hände in die Hüften, sein Gesicht ein einziger, empörter Tadel. »Unglaublich, dass du es wagst, dich hierherzusetzen, ohne zuerst zu mir zu kommen!«
Ich stand auf. »Georgios«, sagte ich, als wäre das eine Antwort auf seinen Vorwurf.
Er legte die Arme um mich und drückte mich an sich. Lange und fest.
Irgendwann löste er sich von mir, machte einen Schritt zurück und musterte mich gründlich. Dann sah er zu der jungen Bedienung, die gar nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte und sich mit beiden Händen an ihrem Blöckchen festhielt.
»Schauen Sie sie an«, sagte er zu der Kellnerin. Dabei deutete er auf mich. »Sie ist ganz abgemagert! Das geht überhaupt nicht! Sie bekommt den Grillteller nach Art des Hauses mit viel Bohnen und extra Zaziki … und dazu ein Mineralwasser, still und ohne Zitrone.«
Die Kellnerin blickte von ihm zu mir und wieder zurück.
»Und jetzt schnell!« Er machte eine scheuchende Bewegung.
Die junge Kellnerin lächelte verkrampft, drehte sich um und verschwand im Lokal.
»Ist doch eine gute Kraft, die du da hast«, sagte ich, während ich ihr nachsah.
»Sie bemüht sich«, sagte Georgios. »In ihrem Alter warst du wesentlich besser.«
»Du übertreibst maßlos.« Ich setzte mich, und Georgios nahm mir gegenüber Platz.
»Wie läuft dein Poseidon?«, fragte ich.
Georgios nickte zufrieden. »Gut. Sehr gut. Ich kann mich nicht beklagen.« Er stockte, zog eine Schulter hoch und fügte leise hinzu: »Victoria fehlt mir.«
»Deine Frau war ein außergewöhnlicher Mensch«, sagte ich.
»Manchmal fühle ich mich ein bisschen allein, obwohl viele Leute da sind.« Erneut hielt er inne. Ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Aber seitdem du mir geschrieben hast, dass du wieder in der Stadt bist und diesmal bleibst, bin ich zufrieden und glücklich.«
»Ja«, sagte ich bestimmt. »Diesmal bleibe ich.«
»Natürlich!« Georgios nickte mit Nachdruck. »Wiesbaden ist keine richtige Stadt. Da kann man überhaupt nicht gut leben.« Er beugte sich zu mir vor und tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Hamburg! Das ist eine Stadt! Ich habe nie verstanden, warum du von hier weggegangen bist. «
Ich musste grinsen. »Jetzt bin ich ja wieder zurück.«
Georgios deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Und du weißt, Evi, du hast hier ein Zuhause. Wann immer du es brauchst.«
Konnte das sein? Ich runzelte die Stirn. »Sag bloß, du hast meine kleine Zwei-Zimmer-Studentenbude unter dem Dach noch immer nicht neu vermietet.«
»Nun …« Georgios schaute mich schelmisch an. »Ich habe es sicher ein Dutzend Mal probiert. Aber niemand will sie nehmen!«
»Bestimmt«, meinte ich trocken. »Eine kleine Wohnung mit Blick auf die Alster, da findet man kaum einen Mieter.«
»Du hast es erfasst.« Georgios zwinkerte. »Und außerdem hat mir Victoria damals gesagt, wir sollen das Appartement leer lassen. Irgendwann kehrst du wieder zurück.«
»Ich wohne im Haus meiner Eltern.«
»Das ist in Ordnung. Aber für den Fall, dass du einmal einen Tapetenwechsel brauchst, etwas Richtiges zu essen haben willst, dann kommst du zu deinem alten Georgios.«