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Eine breite Straße, eher eine Schotterpiste – gesäumt von zwei- bis dreistöckigen Häusern mit Flachdächern. Ihre braunen, schmucklosen Fassaden weisen deutliche Einschusslöcher auf. Maschinengewehre und Granaten haben ihre Spuren hinterlassen.
Über ihm ein strahlend blauer Himmel. Ein Blau so klar, dass es in seinen Augen schmerzt. Er kennt sich hier aus, war hier schon oft. Doch diesmal ist es anders. Eine gespenstische, unwirkliche Ruhe liegt auf dem Ort. Keine Menschenseele ist weit und breit zu sehen.
Er geht vorsichtig weiter, und obwohl es jetzt früh am Morgen kühl, fast kalt ist, schwitzt er unter seinem Helm.
Das Sturmgewehr in seinen Händen wiegt schwer. Sein Zeigefinger liegt vorschriftsmäßig außerhalb des Abzugs.
Er erreicht eine Ecke, umrundet sie, wobei er ständig schussbereit ist. Jede Faser seines Körpers ist angespannt. Er wartet auf den winzigsten Hinweis eines Hinterhalts, doch nichts geschieht. Da ist nur diese unheilvolle
Stille.
Mit einem Mal kommt Wind auf. Flüsternd, leise jaulend streicht er durch die Ruinen und wirbelt trockenen Staub zu kleinen Fontänen vor sich her.
In einigen hundert Metern Abstand steht ein Schuppen. Auch er ist ihm von seinen täglichen Patrouillen vertraut. Er kneift die Augen zusammen, verwünscht sich dafür, dass er seine Sonnenbrille im Jeep vergessen hat.
Der Verschlag ist aus alten Brettern schlampig zusammengezimmert, rostiges Wellblech dient als Dach. Irgendetwas befindet sich davor. Eine Person mit grüner Jacke. Sie lehnt an der Tür. Bewegungslos, den Kopf gesenkt.
Er atmet tief durch, legt den Finger auf den Abzug und geht weiter. Näher heran, um zu sehen, was los ist.
Der Mann an der Tür sieht langsam auf, blickt ihm entgegen. Er kennt diesen Mann. Doch das darf nicht sein! Das ist unmöglich! Das hätte nie passieren dürfen…
Alex schreckte hoch.
Schwer atmend strich er sich über die feuchte Stirn. Die letzte Szene seines Traums hing flüchtig auf dem Moment des Aufwachens, bis sie von dem ernüchternden Gedanken ersetzt wurde, dass er mit Suzanne Carstens sprechen musste.
Er dachte für einen Augenblick nach. Wenn er etwas über die Damenwelt an sich wusste, dann, dass es Frauen des Öfteren schwerer fiel, zeitig aus den Federn zu kommen. Und das galt umso mehr für abgehobene Geisteswissenschaftlerinnen wie die neue Kriminalpsychologin.
Er musste sich beeilen. Es gab eine Person, die Dr. Wolfs Entscheidung betreffend der Vernehmungsfähigkeit seiner Zeugin rückgängig machen konnte. Er griff sich das Telefon vom Nachttisch und tippte Strobelsohns Nummer an.
Dreißig Minuten später wurde ihm der Zutritt in die Station des Krankenhauses gewährt, auf der Suzanne Carstens lag. Unbehelligt schritt Alex durch die Flure des vierten Stocks.
Er fand einen hilfsbereiten Pfleger, der ihn zu dem Zimmer mit der Aufschrift Nur für Personal
brachte. Voller
Ungeduld blieb Alex im Gang zurück, während der junge Mann im Inneren des Pausenraums verschwand.
Alex wartete, und seine Unruhe wuchs. Er hatte nur ein kleines Zeitfenster für die erfolgreiche Umsetzung seines Plans.
Endlich öffnete sich die Tür, und Dr. Hubmann trat heraus, um mit ihm zu sprechen.
»Gutenberg, Oberstaatsanwalt«, begann Alex, »ist Suzanne Carstens unter Ihrer Obhut?«
»Zuerst einmal guten Tag«, erwiderte Dr. Hubmann verhalten. »Ich bin für Frau Carstens’ körperliches Wohlbefinden verantwortlich, falls es das ist, was Sie wissen wollten.«
»Prima. Dann sind Sie genau der Mann, mit dem ich reden muss.« Alex bemühte sich um ein freundliches Lächeln, was ihm aufgrund seiner inneren Anspannung nicht leichtfiel. »Wie Ihnen vermutlich bekannt ist, ist Frau Carstens die einzige Zeugin in einem vierfachen Mordfall, und ich muss mit ihr unverzüglich reden. Der für die Ermittlung zuständige Beamte, Herr Oberkommissar Strobelsohn, wird jede Minute zu uns stoßen. Er geht davon aus, dass er eine vorläufige Aussage von Ihrer Patientin erhalten wird.« Alex sah den Arzt direkt an. »Ich hoffe, Sie verstehen die Dringlichkeit der Lage, und ich bedanke mich bereits jetzt für Ihre Unterstützung.«
Der Arzt wich weder Alex’ Blick aus noch schien er sonderlich beeindruckt zu sein. »Herr Gutenberg, ja?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Ich glaube nicht, dass Sie sehr weit mit unserer Patientin kommen werden, selbst wenn es von ihrem rein körperlichen Zustand her betrachtet keine Gründe gibt, die gegen eine Befragung sprechen. Sie steht unter starken Medikamenten. Und im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung wirken Frau Carstens’ Sedativa nicht wie eine Art Wahrheitsdroge.« Er steckte die Hände in die Taschen seines Kittels. »Frau Dr. Wolf vom LKA hat darum gebeten, dass die Patientin nicht gestört wird. Ich hoffe, Sie haben Verständnis, dass ich meiner Kollegin das letzte Wort überlassen möchte.«
Alex blieb länger still, als er es normalerweise getan hätte. »Ihre professionelle Sorgfalt und Ihre kollegiale
Unterstützung sind anerkennenswert«, sagte er in einem freundlichen Ton, »aber Frau Dr. Wolf hat ihre Bitte gestern Nachmittag geäußert. Ich bin mir sicher, Frau Carstens ist inzwischen fähig, eine kurze Aussage zu machen.« Er trat einen Schritt näher an Dr. Hubmann heran und gab seiner Stimme eine leicht verschwörerische Note. »Da draußen laufen mordende Irre frei herum. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu warten, dass die Kriminalpsychologin des LKA vorbeikommt und eine neue Einschätzung abgibt. Wer weiß, wie viele Fälle Frau Dr. Wolf derzeit bearbeiten muss. Sie können sicher nachvollziehen, welch ausschlaggebende Rolle der Zeitfaktor hier spielt.«
Dr. Hubmann nickte. »Herr Gutenberg, ich bin davon überzeugt, dass Ihr Anliegen wichtig ist. Doch meine Arbeit unterscheidet sich von Ihrer in vielerlei Hinsicht, insbesondere was meinen Eid betrifft, den Patienten nicht zu schaden.« Er sah auf seine Uhr. »Und viele von ihnen warten auf mich. Wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden? Die endgültige Entscheidung liegt bei Dr. Wolf. Ich rate Ihnen, das direkt mit ihr zu besprechen. Sie trinkt gerade eine Tasse Kaffee im Pausenraum.« Er streckte die Hand aus, um sich von Alex zu verabschieden.
Alex ignorierte die Geste. »Frau Dr. Wolf ist im Pausenraum?«
Der Arzt ließ seinen Arm sinken. »Ja. Sie war bereits bei Frau Carstens, als ich heute Morgen meinen Dienst angetreten habe.«
Verdammt
, dachte Alex. Es ist alles umsonst gewesen
. Das frühe Aufstehen, die überstürzte Fahrt ins Krankenhaus, der Versuch, Dr. Hubmann auf seine Seite zu ziehen. Die Psychologin musste seine Gedanken erraten haben. Sie war ihm zuvorgekommen.
Alex atmete tief durch und schluckte den Ärger hinunter. Es würde gar nichts bringen, die Nerven zu verlieren. Diese Genugtuung wollte er Frau Doktor
auf gar keinen Fall geben.
»Wenn das so ist, schlage ich vor, wir gehen jetzt beide da hinein«, Alex deutete auf das Zimmer, »und klären das
weitere Vorgehen gemeinsam mit unserer
Kollegin.« Seine Stimme klang ruhig und beherrscht, als wäre nichts geschehen.
Dr. Hubmann zögerte. Unentschlossen schaute er zur Tür. Schließlich machte er sie auf und hielt sie für Alex, der an ihm vorbeiging und den Raum als Erster betrat. Der Mediziner folgte ihm.
Dr. Wolf saß allein an einem runden Tisch. Vor ihr befand sich eine halb getrunkene Tasse Kaffee und daneben ein weiterer voller Becher. Sie erhob sich nicht, sondern blickte Alex und dem Arzt entgegen.
Alex setzte sich zu ihr. Dr. Hubmann blieb stehen.
»Ich wusste nicht, wie Sie Ihren Kaffee mögen. Also habe ich ihn schwarz gelassen«, sagte sie.
Alex schob den Becher beiseite und sah sie an. »Dr. Hubmann hat mir erklärt, es gäbe rein unter Berücksichtigung von Frau Carstens’ körperlicher Verfassung keine Gründe, warum ich ihr nicht ein paar Fragen stellen könnte.«
»Und dass meine geschätzte Kollegin vom LKA das letzte Wort in der Angelegenheit hat«, fügte der Arzt sofort an.
»Gut. Das stimmt. Das haben Sie auch gesagt«, gestand Alex ein, ohne seinen Blick von der Psychologin zu nehmen. »Was meinen Sie, Frau Dr. Wolf? Das Ganze ist vor mehr als vierundzwanzig Stunden passiert. Wir haben die Mörder frei herumlaufen. Sie können mir einige Worte mit ihr nicht verwehren, nur weil sie ein paar Schlaftabletten genommen hat.«
Dr. Hubmann schaute auf den Boden, als ob er sich wünschen würde, woanders zu sein. Und Alex wappnete sich innerlich gegen den Redeschwall zur Stichhaltigkeit von Beweisen und was auch immer, der gleich über ihn hereinbrechen würde.
Aber zu seiner großen Überraschung sagte sie: »Lassen Sie es uns versuchen.«
»Uns
?«, wiederholte Alex, völlig aus dem Konzept gebracht.
»Ja. Ich komme mit«, erwiderte Dr. Wolf knapp.
Alex gefiel diese Idee überhaupt nicht, aber weil er seinen Willen bekam, entschied er sich gegen eine weitere Diskussion
.
Zu dritt machten Sie sich schweigend auf den Weg zu Suzannes Krankenzimmer. Dort stand eine Polizeibeamtin Wache, und neben ihr, ein Aufnahmegerät in der Hand, wartete Strobelsohn. Mit einem betont geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck grüßte er in die Runde.
»Ich denke, Sie kommen allein zurecht«, sagte Dr. Hubmann. »Ich muss weitermachen. Meine Visite wartet.« Er drehte sich um und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
Strobelsohn nickte der Polizistin zu, die ihnen daraufhin die Tür öffnete. Zu dritt traten sie ein.
Wie am Vortag lag Suzanne Carstens bewegungslos im Bett. Sie starrte vor sich hin und schien die Anwesenheit von Alex, Dr. Wolf und Strobelsohn nicht wahrzunehmen.
Alex kam näher und streckte seine Hand aus. »Guten Tag, ich bin Oberstaatsanwalt Gutenberg.«
Suzanne Carstens regte sich nicht.
Die Psychologin schob sich an Alex vorbei, stellte sich dicht an Suzanne Carstens’ Bett und strich ihr über die Schulter, ohne ein Wort zu sagen.
Suzanne reagierte nicht auf die Berührung.
Alex zog seinen Arm langsam zurück und versuchte es noch einmal. »Frau Carstens, Oberkommissar Strobelsohn und ich würden Ihnen gerne ein paar Fragen über die vorletzte Nacht stellen.«
Suzanne Carstens verdrehte die Augen, sie schaute in Dr. Wolfs ungefähre Richtung. Ihre Schultern begannen zu zittern. Die Psychologin streichelte sie weiter, aber das schien nicht zu helfen. Suzanne stöhnte, ihr Zittern verstärkte sich.
Strobelsohn kam nach vorn. Betont sanft sagte er: »Frau Carstens, bitte, wir haben nur ein oder zwei Fragen. Wissen Sie, wer für den Mord an Ihrem Großvater verantwortlich ist?«
Suzanne Carstens bäumte sich auf, es hatte Ähnlichkeit mit einem epileptischen Anfall. Ihr gesamter Körper bebte. Mit nach hinten gebogenem Hals starrte sie
auf Dr. Wolf.
Die Anzeigen auf einem der angeschlossenen Monitore kletterten in die Höhe und die Maschine piepste laut.
Dr. Hubmann kam ins Zimmer geeilt. »Meine Herren, ich denke, das reicht für heute.«
Dr. Wolf signalisierte Alex und Strobelsohn mit einer Kopfbewegung, dass sie gehen sollten. Sie hielt Suzanne Carstens’ Hand, während die beiden Männer den Raum verließen.
Sobald sie auf dem Gang standen, blickte Alex Strobelsohn an. »Es sieht nicht so aus, als ob wir heute irgendeine Aussage von ihr bekommen. Gehen Sie ruhig zurück in Ihre Dienststelle, und ich versuche, die Wogen hier ein wenig zu glätten. Wir brauchen die Leute auf unserer Seite.«
Strobelsohn schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie erlebt, dass eine Zeugin derartig reagiert. Sie muss in der Nacht Schreckliches durchgemacht haben.«
Alex nickte. »Ja. Aber das alles hilft uns nicht weiter, solange wir sie nicht dazu bewegen können, darüber zu sprechen.«
»Ich sehe Sie dann nachher in meinem Büro. Sicherlich werden uns die Laborergebnisse etwas geben, womit wir weitermachen können.« Mit diesen Worten wandte sich Strobelsohn ab und ließ Alex allein.
Während Alex an das bevorstehende Gespräch mit Dr. Wolf dachte, trat sie leise in den Flur.
»Und, sind Sie nun überzeugt?«, fragte sie dermaßen unaufdringlich, dass er völlig überrumpelt wurde.
»Ich sehe, dass sie noch nicht so weit ist, um mit mir oder mit Oberkommissar Strobelsohn zu reden. Wir werden morgen eine Beamtin schicken; Frau Carstens dürfte sich dann wohler fühlen.«
»Wenn Sie meinen, das hilft«, kam ihre knappe Erwiderung.
Alex merkte, dass sie mehr sagen wollte, doch sie schwieg. Das machte ihn zornig, aber er tat sein Bestes, es nicht zu zeigen. »Haben Sie eine andere Idee?«
Dr. Wolf schüttelte den Kopf.
Alex spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Das Handy in seiner Brusttasche begann zu vibrieren. Er kehrte ihr
den Rücken zu und nahm das Gespräch an. »Hallo, Herr Strobelsohn, haben Sie Neuigkeiten für mich? … Wirklich? … Okay. Ich komme Ihnen gleich nach.«
Alex steckte das Telefon in sein Jackett und drehte sich zurück zu ihr – so gefasst, wie es ihm möglich war.
»Die Laborergebnisse sind da?«, schlussfolgerte Dr. Wolf.
»Mhm«, murmelte er.
»Dann lassen Sie sich durch mich nicht länger aufhalten«, sagte sie.