10
Alex fädelte sich in den Verkehr ein und dachte dabei an zwei Frauen. Die eine wollte überhaupt nicht mit ihm reden, und tat es die andere, war er sich nicht sicher, ob ihm gefiel, was sie sagte. Er war derartig in seine Gedanken versunken, dass er die Abzweigung nach Deelböge verpasste und den Anweisungen seines Navis folgen musste, das ihn durch den Verkehr auf die B 433 lotste. Unzufrieden mit sich selbst verzog er den Mund. Was war heute nur los mit ihm? Er war sonst nie unkonzentriert.
Er gelangte zum LKA, parkte vor dem neuen Gebäude und machte sich auf den Weg durch die Sicherheitstür und über das rückwärtige Treppenhaus.
Henrik Breiter saß vor Strobelsohns Schreibtisch, als Alex nach kurzem Klopfen eintrat. Er erhob sich und brachte dem Oberstaatsanwalt einen der Stühle, die an der hinteren Wand standen.
Alex nahm ihn dem jungen Polizisten ab und stellte ihn neben dessen Stuhl. Sie beide setzten sich
.
Strobelsohn, der in seinem Drehsessel thronte, schnitt eine Grimasse. »Im Krankenhaus ist es für uns nicht gerade optimal gelaufen. Konnten Sie Frau Dr. Wolf beschwichtigen?«
Alex seufzte leise. »Nicht wirklich. Ich habe noch nicht einmal zugegeben, dass es zu früh für eine Befragung der Zeugin war, und habe lediglich angekündigt, dass wir morgen eine Frau schicken werden. Vielleicht war das falsch. Was hätten Sie an meiner Stelle getan?«
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Herr Gutenberg, ich glaube nicht, dass das Mädchen mit irgendjemandem sprechen wird«, sagte Strobelsohn offen heraus. »Von daher … Ich weiß nicht, was ich vorgeschlagen hätte. Eventuell Hypnose?«
Henrik sprang beinahe von seinem Stuhl. »Könnte sein, sie fängt an zu reden, sobald wir ihren Freund verhaftet haben.«
»Ach?« Alex zog eine Augenbraue hoch. »Was haben wir gegen ihn in der Hand?«
Mit einer dramatischen Geste öffnete Henrik die Akte, die vor ihm lag. »Zuallererst befinden sich nicht nur Blutflecke auf Westphals Jacke, die laut ihm von seinem Versuch herrühren sollen, Suzanne Carstens zu bewegen. Vielmehr sind dort auch Spuren von Björn Carstens’ Blut. Diese Spritzer sind nicht verschmiert. Außerdem hatte er Big Karl Martens Blut an sich sowie das von Dr. Schilling, dem Gynäkologen – Letzteres auf seinem Hosenbein und Schuh.«
Henrik bemühte sich wirklich sehr.
»Vielen Dank, Herr Breiter«, sagte Alex mit einem anerkennenden Nicken.
Strobelsohn räusperte sich. »Die Spritzer könnten darauf hindeuten, dass er bei der Tat anwesend war. Sie könnten aber genauso gut entstanden sein, als er Suzanne Carstens den blutdurchtränkten Skalp abgenommen hat. Beides ist möglich. Was das Blut an der Hose und am Schuh angeht – das stammt vermutlich tatsächlich davon, dass er sich neben Frau Carstens gesetzt hat. Und Big Karls Blut – vielleicht hat er einen Gegenstand gestreift, der blutig war.«
»Alles vage«, stellte Alex fest. »Das beweist gar nichts.
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»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, hatte ich bei Westphals Verhör das Gefühl, dass er uns etwas verschweigt«, warf Strobelsohn ein.
»Sie wollen einen Haftbefehl beantragen, um Westphal dadurch zum Reden zu bringen?«, vergewisserte sich Alex.
Strobelsohn nickte. »Wir haben nicht allzu viele Optionen.«
Alex dachte nach. »Gut. Lassen Sie es uns versuchen. Mit ein wenig Glück wird der Haftrichter mitspielen … Was haben wir außerdem?«
Henrik blätterte durch die Akte. »Suzanne Carstens hatte das Blut von zwei Opfern aus dem vorderen Raum an sich – von ihrem Großvater und von Big Karl – und war vermutlich zum Tatzeitpunkt vor Ort … Wie wir angenommen haben, befand sich das Blut des Frauenarztes überall auf Big Karls linker Hand. Und Big Karls Fingerabdrücke sind auf dem Messer, mit dem er aller Wahrscheinlichkeit nach die Kehle des Arztes aufgeschlitzt hat. Ich werde trotzdem erneut nachfragen lassen, aber ich gehe davon aus, wir können das als Beweis werten, dass der Zuhälter tatsächlich Linkshänder war.« Henrik las die nächste Seite. »Unsere Vermutung, dass Big Karl stand, als er erschossen wurde, hat sich ebenfalls bewahrheitet. Die Pistole haben wir noch immer nicht gefunden.«
»Bleibt der Säbel, mit dem Björn Carstens getötet wurde«, sagte Alex. »Haben die Forensiker an dem Entermesser neben dem Blut weitere Spuren entdeckt?«
»Leider nein.«
»Nicht einmal einen Fingerabdruck?«, vergewisserte sich Alex.
Henrik schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Laut dem Laborbericht wurde der Griff abgewischt.«
»Erzählen Sie ihm vom Gift«, unterbrach ihn Strobelsohn.
»Ja, genau. Halten Sie sich fest!«, fuhr Henrik fort. »Sie waren alle auf Opiaten. Fentanyl 16 irgendwas pro Milliliter. Wobei Opiate meiner unmaßgeblichen Meinung nach nicht unbedingt zu einer Sexparty passen. Andererseits kann ich da nicht mitreden.
«
Alex schüttelte den Kopf. »Könnte sein, ihnen war gar nicht klar, was sie da einnehmen.«
»Jedenfalls bezweifle ich, dass sie bewusst tödliche Mengen von Nikotin konsumiert haben«, warf Henrik ein. »Fentanyl war nicht die einzige Substanz, die das Labor nachgewiesen hat. Alistair Grauel, der alte Kerl im Badezimmer – er starb an einer Herzattacke –, hatte die höchste Konzentration des Gemisches intus: Fentanyl und Nikotin.«
»Nikotin?«, wiederholte Alex ungläubig.
»Es braucht eine ganze Menge Nikotin, um einen Erwachsenen zu töten«, sinnierte Strobelsohn. »Wie schafft man es, dass jemand eine solch hohe Dosis unbemerkt zu sich nimmt?«
»Alkohol«, schlug Alex vor. »Waren die Drinks gepantscht?«
Henrik schüttelte den Kopf. »Es wurde nichts dergleichen gefunden. Die Männer hatten unterschiedliche Cocktails: zwei Long Island Iced Teas, einen Gin Tonic und einen Scotch. Allerdings gibt es keine Beweise, dass sie aus den Gläsern tatsächlich getrunken haben.«
»Nein?«, hakte Alex nach.
»Nein«, bestätigte Henrik.
»Hatten sie Alkohol in ihren Mägen?«
»Ja.« Diesmal nickte Henrik. »Alle. Aber es waren keine Lippenabdrücke auf den Gläsern vorhanden. Und die einzigen Fingerabdrücke auf Big Karls Glas stammten von dessen rechter Hand.« Henrik blickte Alex an. »Vielleicht wollte Björn Carstens alle Anwesenden vergiften? Oder Schilling, der Gynäkologe: Er hätte sich Nikotin beschaffen können.«
»Um es dann aus Versehen auch zu schlucken? Das bezweifle ich. Wie kann man an die erforderliche Dosis Nikotin kommen?« Alex überlegte eine Weile. »Wie wäre es mit E-Zigaretten? Können sie tödliche Mengen enthalten?«
»Komisch, dass Sie das fragen, Herr Gutenberg, denn das war mein erster Gedanke«, erwiderte Henrik. »Aber der Forensiker hat mir erläutert, dass das Liquid für die E-Zigaretten in Europa weniger als zwei Prozent Nikotin enthält. Er hat mir
irgendetwas davon erzählt, dass man in anderen Erdteilen pures Nikotin literweise erwerben kann oder dass selbst eine Zigarre genügend Nikotin freigibt, um einen Erwachsenen zu töten, wenn man sie in Wasser einweicht.«
»Also was haben wir? Vier Männer – ihnen wurden Drogen verabreicht, sie wurden vergiftet und dann ermordet. Wir können sie alle als Drahtzieher ausschließen. Jemand hat sich Zeit genommen, seine Spuren zu verwischen. Wenn es nicht unser unter einem ungünstigen Stern stehender Liebhaber war, sind die Mörder auf freiem Fuß. Doch bis Suzanne Carstens anfängt zu reden, haben wir keinen anderen Verdächtigen.« Alex wandte sich an Strobelsohn. »Wie schnell können Sie den Haftbefehl für Peter Westphal beschaffen?«
Strobelsohn öffnete den Mund zu einer Erwiderung. Im gleichen Moment ging die Tür auf und Polizeipräsident Harald Bolsen betrat das Zimmer. »Was höre ich da? Haftbefehl? Wir haben einen möglichen Täter bei den Carstens-Morden?«
»Guten Morgen, Herr Bolsen«, murmelte Strobelsohn überrascht. »Bislang haben wir nur den jungen Mann, der das Verbrechen gemeldet hat. Unsere Augenzeugin sagt noch immer kein Wort.«
»Ist sie tatsächlich nicht fähig zu reden, oder schweigt sie, um ihren geldhungrigen Liebhaber nicht zu belasten?«, entfuhr es Bolsen. »Ich muss in der Lage sein, den Menschen zu vermitteln, dass ihr Heim sicher ist. Sie beschaffen mir den Mörder, selbst wenn Sie ihn erfinden müssen!«
Bolsen machte Anstalten zu gehen. Dabei fiel sein Blick auf Alex. »Oh, hallo, Herr Gutenberg! Natürlich meinte ich das nicht wörtlich. Wir werden den wahren Täter finden und wir besorgen Ihnen die Beweise, die sie benötigen, um ihn zu überführen. Schönen Tag noch.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Büro seiner Untergebenen.
Alex riss die Augen auf und nickte Strobelsohn zu. »Nun, ich nehme an, Sie haben jetzt Ihre Weisungen.
«
»Ich muss irgendeinen armen Unterwasserschweißer verhaften, während die wahren Mörder auf der Reeperbahn oder sonst wo die Sau rauslassen«, seufzte Strobelsohn.
»Ich kann Sie gut verstehen«, sagte Alex. »Ich bezweifle ebenfalls, dass der Junge die Morde begangen hat. Aber wie Sie schon sagten, weiß er mehr, als er uns verraten will. Lassen Sie ihn uns hierher zurückbringen. Er sollte nicht zu schwer zu finden sein. Hat er gestern nicht wiederholt den Wunsch geäußert, Suzanne Carstens besuchen zu dürfen?«
»Es tut mir leid, dass ich unterbrechen muss, Herr Gutenberg«, mischte sich Henrik in die Unterhaltung ein. »Ich habe auf einen geeigneten Zeitpunkt gewartet, um Sie zu informieren. Und dann kam unser Chef herein und ich hätte es fast vergessen.«
»Was denn?«, erwiderte Strobelsohn mürrischer, als es notwendig gewesen wäre.
Henriks Gesicht nahm einen schuldbewussten Ausdruck an. »Ich habe auch versäumt, es Ihnen gegenüber zu erwähnen, Herr Strobelsohn. Das Spurensicherungsteam hat einen Manschettenknopf in Björn Carstens’ rechter Hand gefunden. Vermutlich hat das nichts zu bedeuten, aber er trug zwei andere Manschettenknöpfe am Hemd und niemand sonst im Raum hatte welche.«
»Das wird immer seltsamer.« Alex runzelte die Stirn. »Aus den Gläsern wurde nicht getrunken, und der alte Carstens wechselt seine Manschettenknöpfe. War an den Knöpfen in seiner Hand irgendetwas Besonderes?«
»Nein, nur dass die Oberfläche ein wenig angelaufen ist. Das Set war nicht komplett«, antwortete Henrik.
»Nicht komplett?«
»Wir haben lediglich einen einzelnen Manschettenknopf. Er scheint aus Gold gefertigt zu sein. Mit einem Diamanten in der Mitte. Hier ist ein Foto. Schauen Sie selbst.«
Alex nahm die Mappe, die ihm Henrik entgegenstreckte, und sagte nach einem kurzen Blick auf das Bild: »Wir müssen Carstens’ Sachen durchsuchen. Irgendwo muss der
zweite Manschettenknopf sein. Und wir brauchen die Pistole. Sie beide sehen bitte zu, den Haftbefehl zu beschaffen, und ich werde klären, ob Peter Westphal eine Besuchserlaubnis von unserer freundlichen LKA-Psychologin erhalten hat.«
Strobelsohn reichte ihm die Hand über den Tisch. »Ich rufe Sie an, sobald ich den Haftbefehl habe. Und bis dahin wünsche ich Ihnen viel Glück bei der eisigen Seelenklempnerin.«
»Oh, sie ist gar nicht so eisig«, erwiderte Alex. »Sie macht nur ihren Job … Und Herr Strobelsohn, Sie und ich, wir haben Suzanne Carstens heute beide gesehen. Ich hoffe, sie überwindet ihr Trauma bald, oder es könnte sein, dass sie ihren Freund für das Verbrechen tatsächlich auf der Anklagebank sitzen sieht.«
Strobelsohn erhob sich, während Alex zur Tür ging. »Eisig hin oder her: Ich wünsche Ihnen trotzdem viel Glück.«