11
Ich saß auf einem Besucherstuhl in einem breiten, gefliesten Gang und wartete. Entlang des unteren Drittels der Wände befanden sich ebenfalls Kacheln. Der Rest samt der gewölbten hohen Decke war mit weißer, leicht angegilbter Leimfarbe gestrichen. Denkmalschutz.
Es herrschte Ruhe. Nur vereinzelt drang das gedämpfte Klingeln eines Telefons oder das Murmeln von Stimmen durch die geschlossenen Türen der zahlreichen Büros bis zu mir. Im Vergleich dazu tobte im LKA buchstäblich das Leben. Ständig war jemand auf den Fluren oder in den Treppenhäusern unterwegs, man unterhielt sich mit Kollegen, Besucher kamen und gingen. Aber hier, bei der Hamburger Staatsanwaltschaft: eine Oase der Stille.
Ich setzte mich auf meinem Stuhl zurecht.
Warten muss gelernt sein. Sobald man es beherrscht, ist es sehr entspannend. Es hilft, sich auf das zu konzentrieren, was gleich geschehen wird, und bringt einem jede Menge Gelassenheit und Zuversicht.
Nach weiteren zehn Minuten vernahm ich Schritte, und zugleich bog ein großer, dunkelhaariger Mann in einem eleganten Anzug um die Ecke. Zielgerichtet kam er auf mich zu. Dann zeigte mir seine Körperhaltung, dass er mich erkannt hatte. Für einen winzigen, verräterischen Moment gerieten seine Bewegungen aus dem Rhythmus. Wirklich kurz, und man konnte es nur wahrnehmen, wenn man sich bewusst darauf konzentrierte.
Einen Lidschlag später hatte sich Gutenberg wieder gefangen.
Urplötzlich fühlte ich mich seltsam unwohl. Ich musste mich dazu zwingen, still sitzen zu bleiben, ohne meinen Blick von ihm zu wenden.
Direkt vor mir blieb er stehen und sah auf mich herunter. »Frau Dr. Wolf?«
Die Unruhe in mir wurde stärker. Betont langsam erhob ich mich.
»Herr Gutenberg«, sagte ich.
Wir standen uns gegenüber – nah, wie am Vortag auf dem Flur des Krankenhauses. Und wir schwiegen.
Eigentlich wollte ich, dass er als Erster anfing zu sprechen. Er gewann.
»Unsere Unterhaltung heute Morgen in der Klinik ist unterbrochen worden«, sagte ich, während mich seine dunklen Augen musterten. Sie blitzten sogar für einen Sekundenbruchteil auf.
»Dann holen wir das am besten in meinem Büro nach«, sagte er.
Er gab mir keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Stattdessen wandte er sich der Tür neben mir zu, öffnete sie und bat mich mit einer stummen Geste, einzutreten.
Wir durchquerten sein Sekretariat, in dem eine Frau am PC arbeitete. Wieder hielt er mir eine Tür auf, und wir waren in seinem Zimmer.
Ich blickte mich um. Hellgraue, schmucklose Aktenschränke, hellgraue Regale voller juristischer Bücher, ein hellgrauer Schreibtisch mit passendem Chefsessel. Eine hellgraue Besprechungsecke mit vier Stühlen. Die waren zur Abwechslung schwarz. Eine ebenfalls hellgraue Kommode, auf der zwei Fotos standen: eine Gruppe Soldaten und eine Gruppe Polizisten. Beide Bilder schienen schon etwas älter zu sein.
Er streckte eine Hand nach mir aus, und ich wusste anfangs nicht, was er von mir wollte. Dann half er mir wie selbstverständlich aus dem Mantel. Das war absolut altmodisch, auf der anderen Seite unerwartet zuvorkommend. Vermutlich gefiel es mir deshalb.
Er brachte meinen Mantel zum Garderobenständer, schlüpfte aus seinem eigenen und hängte ihn daneben. Er sah mich an und wies auf den Besprechungstisch.
»Bitte, setzen Sie sich doch.«
Ich nahm Platz und er wählte den gegenüberliegenden Stuhl.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er.
»Nein, danke«, lehnte ich ab.
Stille breitete sich zwischen uns aus. Und diesmal war ich fest entschlossen, ihm die Initiative zu überlassen.
Eine kleine, irritierte Falte erschien auf seiner Stirn. Sein Mundwinkel zuckte, und er sagte: »Frau Carstens ist meine wichtigste und einzige Zeugin. Sie muss die Täter gesehen haben. Ich brauche dringend ihre Aussage.«
Ich ließ mir mit meiner Erwiderung Zeit. Schließlich sagte ich: »Sie können weiter versuchen, Suzanne Carstens zu befragen. Entweder Sie machen es selbst, oder Sie schicken Herrn Strobelsohn. Meinetwegen beauftragen Sie auch eine junge oder ältere Beamtin. Das Ergebnis wird immer gleich ausfallen: Frau Carstens wird Ihnen nicht antworten.«
Er lehnte sich zurück, kippte den Stuhl auf die beiden hinteren Beine und verschränkte die Arme vor der Brust. »So?«
Ich nickte und beugte mich vor. »Frau Carstens zeigt alle Symptome einer posttraumatischen Angststörung. Das geht mit katatonischer Körperhaltung einher und bewirkt in den meisten Fällen eine retrograde Amnesie.«
Die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich. »Das bedeutet im Klartext: Sie kann sich an überhaupt nichts erinnern und ist für mich als Zeugin vollkommen wertlos?«
Er wollte weiterreden, doch ich unterbrach ihn, indem ich den Kopf schüttelte. »Ganz im Gegenteil. Alle Erlebnisse, alles, was sie gesehen hat, ist in jeder Einzelheit in ihr Gehirn quasi eingebrannt. Das Erlebte war aber so schrecklich, dass ihr Körper einen Schutzmechanismus aktiviert hat, der verhindert, dass sie es wieder abruft.«
Er setzte sich aufrecht hin und ließ seine Arme sinken. »Das ist das Gleiche.«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte ich bestimmt.
»Nein? Wie meinen Sie das?«
»Ich bin ausgebildete Psychotherapeutin. Ich könnte und würde mit ihr längerfristig arbeiten, wenn Sie das möchten und Frau Carstens zustimmt. Dann wird sie sich schrittweise öffnen.«
Jetzt beugte er sich ebenfalls vor. Er kam mir fast zu nah, aber ich wich keinen Millimeter zurück.
»Was verstehen Sie unter längerfristig
Ich hob die Augenbrauen. »Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate. Es wird so lange dauern, wie es dauert.«
»Sie machen mir Spaß.« Er brachte mehr Abstand zwischen uns.
»Das ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe«, sagte ich. »Und wenn Sie nicht wollen, dass ich mit Frau Carstens arbeite, nehmen Sie eben einen anderen Therapeuten. Das ist mir egal. Ich habe Ihnen jetzt den für mich erkennbaren Weg aufgezeigt, entscheiden müssen Sie.« Ich machte eine Pause. »Aber das sage ich Ihnen gleich: Sollten Sie mich damit beauftragen, Frau Carstens zu therapieren, bedeutet das, dass Sie mich in die laufenden Ermittlungen miteinbeziehen müssen. Ich brauche dann Kenntnis über jedes noch so unwichtig erscheinende Detail. «
Das passte ihm nicht. Deutlicher hätte es mir sein Gesichtsausdruck nicht zeigen können. Er kniff die Augen zusammen. Seine Lippen wurden schmal. »Und warum das?«
»Nicht, dass Sie das falsch verstehen. Ich werde Ihnen auf keinen Fall hineinreden. Aber Frau Carstens wird mich mit Bildern, Assoziationen und Metaphern konfrontieren. Und die kann ich nur dann dekodieren, wenn ich sie mit den Ergebnissen Ihrer Ermittlungen vergleichen kann.«
Abrupt stand er auf, wandte sich von mir ab und trat an eines der Fenster. Nachdem er rund eine Minute hinausgesehen hatte, drehte er sich mir wieder zu und kam an den Tisch zurück. Er setzte sich. »Okay. Nehmen wir mal an, ich stimme zu und halte Sie auf dem Laufenden. Kann ich mich dann darauf verlassen, dass Sie mich Ihrerseits stets informieren werden? Über alle Erkenntnisse, die Sie gewinnen?«
»Selbstverständlich«, bestätigte ich ernst. »Sonst ist das ja sinnlos.«
»Was Sie mir vorschlagen, ist absolut unüblich.«
Ich nickte. »Ist auch ein absolut unüblicher Fall. Und wenn es Sie beruhigt, ich habe das bereits öfter gemacht.«
»Beim LKA in Wiesbaden?«
Er hatte mich recherchiert – wie ich ihn.
Ich konnte mein Lächeln kaum unterdrücken. Und ich war mir sicher, dass er es registrierte.
»Genau«, sagte ich. »In Wiesbaden.«
»Wir sollten die Parameter unserer Kooperation konkreter besprechen«, meinte er.
Damit hatte er recht.
»Stimmt«, gestand ich unumwunden ein. »Das ist für uns alle wichtig und hilfreich – besonders auch für Herrn Strobelsohn und sein Team.«
Gutenberg sah auf seine Armbanduhr und räusperte sich. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Mittagessen einlade, und wir klären die Details? «
»Mittagessen?« Damit hatte ich nicht gerechnet, nachdem er vorhin im Pausenraum der Klinik meine Tasse Kaffee derartig entschieden abgelehnt hatte.
Er sah mich abwartend an.
»Kennen Sie das Poseidon an der Alster?«, fragte ich.
»Nein. Wo ist das?«
Diesmal hielt ich mein Lächeln nicht zurück. »Ich gebe Ihnen die Adresse. Ist nicht weit von hier. Zehn Minuten mit dem Auto.«
»Gut«, meinte er. »Dann treffen wir uns dort in einer halben Stunde.«