12
Gutenberg hielt mir doch tatsächlich die Tür auf, als wir das Poseidon betraten. Er folgte mir, blieb aber nach wenigen Schritten wie angewurzelt stehen.
Das Lokal hatte manchmal diese überwältigende Wirkung auf Gäste, die es noch nicht kannten. Die große Bar war mit weißen, reich verzierten Säulen versehen. Sie trugen einen überdimensionalen Mauervorsprung, wie man ihn bei antiken Tempeln sieht. Die kunstvoll bemalten, hellen Wände erweckten den Eindruck, aus massivem Marmor gefertigt zu sein. Und in zahlreichen Nischen standen altgriechische Statuen unterschiedlicher Größe.
Im Gastraum befanden sich nicht übermäßig viele Tische. Von früher wusste ich, dass es genau zweiundzwanzig waren. Auf allen lagen blau-weiß karierte Tischtücher und weiße Überdecken. Jetzt, um die Mittagszeit, war Georgios’ Restaurant nahezu voll. Ein bunt gemischtes Publikum hatte sich eingefunden: Männer und Frauen in Businesskleidung, leger angezogene Gäste, dazwischen Studenten, ein, zwei Familien. Es herrschte die mir so vertraute Geräuschkulisse – ein Mix aus gedämpften Stimmen, Lachen, dem Klirren von Glas und Porzellan sowie leiser Hintergrundmusik mit den typischen Bouzouki-Klängen. Und nicht zu vergessen: der Duft. Dieser wundervolle Duft nach gutem Essen.
Mein Magen knurrte.
Gerade wurde ein Tisch für vier Personen in einer Ecke frei. Ich drehte mich zu Gutenberg um und machte ihn mit einer Geste meiner Hand darauf aufmerksam. Er bemühte sich um ein Lächeln, sein Versuch fiel jedoch recht verkrampft aus.
An unserem Platz angelangt, half er mir wie vorhin aus dem Mantel und brachte ihn zur Garderobe. Jetzt wollte ich es wissen. Ich wartete auf seine Rückkehr, und Gutenberg zog mir wie selbstverständlich den Stuhl heran, blieb stehen, bis ich saß, und wählte für sich den gegenüberliegenden aus.
Wie aus dem Nichts erschien Georgios neben uns in seinem weißen Hemd mit der dunklen Weste darüber. Er hielt zwei Speisekarten in der Hand. Und er strahlte.
»Evi, meine Liebe. Was soll ich euch zu trinken bringen?«, sagte er, während er Gutenberg eindringlich musterte.
»Mir wie immer«, erwiderte ich. »Und der Herr Staatsanwalt möchte?« Ich sah Gutenberg auffordernd an.
Dessen Lider flackerten leicht irritiert. Dann meinte er: »Ein alkoholfreies Bier bitte.«
Georgios’ Lächeln wurde breiter. Er wandte sich an Gutenberg. »Möchten Sie die Karte, oder darf ich Ihnen etwas vorschlagen?«
Gutenberg bedachte mich mit einem fragenden Blick.
Bevor ich antworten konnte, sagte Georgios. »Ich empfehle Ihnen Garnelen Saganaki als Vorspeise. Als Hauptgang serviere ich Goldbrasse nach griechischer Art und zum Nachtisch Joghurt mit Honig und Pistazien.«
Gutenbergs Lider zuckten wieder. »Ist Ihnen das recht, Frau Dr. Wolf?«
»Ja«, sagte ich. »Wunderbar.«
»Eine gute Wahl«, bestätigte Georgios. »Die Kellnerin wird Ihnen alles bringen.« Er strahlte noch einmal in meine Richtung und ließ uns allein.
Gutenberg räusperte sich. »Ein Verwandter von Ihnen?«
»Besser«, sagte ich. »Ein Freund.«
Er nickte, als würde er verstehen, was ich meinte.
Die Kellnerin kam mit unseren Getränken – für mich ein großes, stilles Wasser ohne Zitrone und für Gutenberg das alkoholfreie Bier.
Wir prosteten uns zu und tranken.
Gutenberg stellte sein Glas ab. »Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, beabsichtigen Sie, Frau Carstens zu therapieren.«
Kein Smalltalk, er kam gleich zur Sache.
»Zunächst muss ich die Klientin aus ihrem katatonischen Zustand führen«, erläuterte ich. »Dann muss Frau Carstens der Therapie zustimmen und mich Ihnen und der Polizei gegenüber von der Schweigepflicht entbinden – soweit die Informationen, die ich von ihr erhalte, für den Fall relevant sind.« Ich machte eine Pause. »Anschließend beginnt die eigentliche Arbeit.«
Er runzelte die Stirn. »Wie soll das funktionieren?«
»Es wird alles andere als leicht werden. Förderlich wäre, wenn sie sich in einer halbwegs normalen Umgebung befindet und nicht in U-Haft.« Ich hielt erneut inne. »Halten Sie Frau Carstens für schuldig?«
Unsere Bedienung trat an den Tisch und brachte uns zwei Schälchen mit den überbackenen Garnelen.
Wir kosteten.
»Das ist gut«, meinte er sichtlich überrascht.
»Das Poseidon ist das beste griechische Restaurant weit und breit«, sagte ich. »Ein Geheimtipp.«
»Aha«, murmelte er und nahm sich den nächsten Bissen.
»Und? Halten Sie Frau Carstens für schuldig?«, wiederholte ich meine Frage.
Er kaute zu Ende und schluckte. »Ich glaube nicht, dass sie eine Einzeltäterin ist. Aber sie könnte etwas mit den Morden zu tun haben – zusammen mit ihrem Freund.«
»Peter Westphal? «
»Exakt. Aufgrund der Laborergebnisse, die die Kollegen von der Kripo heute erhalten haben, wurde für ihn ein Haftbefehl beantragt. Herr Strobelsohn, der zuständige Oberkommissar, ist im Moment beim Richter. Wir drücken da aufs Tempo.«
»Wegen der negativen Publicity, die der Fall mit sich bringt?«
»Auch«, sagte er. »Ist mir persönlich aber egal. Sobald wir den Haftbefehl haben, wird Herr Westphal festgenommen, wir werden ihn mit den Laborergebnissen konfrontieren und intensiv befragen.«
Wir aßen schweigend.
Ich legte das Besteck in meine leere Schale und tupfte mir mit einer Serviette über den Mund. »Glauben Sie, die beiden haben es getan?«
Gutenberg war ebenfalls mit seiner Vorspeise fertig. »Kann ich nicht abschätzen. Das Bild ist viel zu heterogen.« Er stockte. »Sie haben von mehreren Therapieabschnitten gesprochen. Kann man das alles etwas beschleunigen?«
»Kaum«, meinte ich. »Der jetzige Zustand von Frau Carstens ist durch einen Schock entstanden. Rein theoretisch könnte sie ein weiterer Schock wieder in die Realität zurückversetzen. Aber solch radikale Methoden sind zumindest zweifelhaft, das mache ich nicht. Ich kenne sanftere, besser geeignete Mittel und Wege, traumatisierten Klienten zu helfen. Die Anfangsphase ist die schwierigste.«
»Ich verstehe«, sagte er.
Diesmal wurde unsere Kellnerin von Georgios begleitet. Die junge Frau nahm das benutzte Geschirr und Georgios stellte zwei große Teller vor uns. »Bitte schön«, sagte er. »Goldbrasse nach griechischer Art mit Tomaten, Feta, Oliven und Rosmarin.«
Gutenberg neigte den Kopf als Zeichen seines Dankes.
Georgios blieb stehen.
»Staatsanwalt sind Sie?«, fragte er Gutenberg.
»Oberstaatsanwalt«, antwortete ich für ihn.
Georgios ließ sich dadurch nicht beirren. »Und nicht verheiratet«, stellte er ungerührt fest, während er auf Gutenbergs Ringfinger sah.
Das versprach, interessant zu werden. Ich legte das Besteck, das ich gerade ergriffen hatte, wieder auf den Tisch und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.
»Nein. Nicht verheiratet«, bestätigte Gutenberg.
Georgios beugte sich ein Stück nach unten. »Keine Kinder?«, meinte er in vertraulichem Tonfall.
Gutenberg zögerte unmerklich. »Keine Kinder.«
Georgios wandte sich an mich. »Hast du gehört, Evi?«
»Habe ich«, sagte ich.
Georgios öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, entschied sich aber anders und strich sich durch sein weißes Drahthaar. »Ich wünsche einen guten Appetit«, sagte er und ging.
Gutenberg lächelte. Richtig. Das erste Mal in meiner Gegenwart. Er hatte sympathische Lachfalten. »Ein geborener Verhörexperte, Ihr Freund.«
»Ist er. Und ein hervorragender Koch.«
Wir widmeten uns dem Fisch. Er zerging auf der Zunge.
»Zurück zu unserer Zusammenarbeit«, sagte er nach einer Weile. »Was wäre Ihnen wichtig?«
»Nun«, sagte ich. »Regelmäßige Treffen. Mit Ihnen, aber auch mit Herrn Strobelsohn. Ich brauche einen Einblick in die Ermittlungen, und im Gegenzug können Sie von dem profitieren, was ich von Frau Carstens erfahre. Teamarbeit.«
»Teamarbeit«, wiederholte er.
Wir blieben eine Weile still. Im Nu verschwand unser Essen. Er war genauso hungrig gewesen wie ich.
Er legte Messer und Gabel beiseite. »Und jetzt bin ich auf die Nachspeise gespannt.«
»Ich auch«, sagte ich.
Sein Handy klingelte. Er machte eine entschuldigende Geste, zog das Telefon aus dem Sakko und hielt es an sein Ohr. » Gutenberg.« Er runzelte die Stirn. »Wo ist er? … Einen Moment bitte!«
Er deckte das Handy mit seiner Linken ab und sah mich durchdringend an. »Haben Sie Herrn Westphal gestattet, Frau Carstens zu besuchen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe überhaupt noch nicht mit Herrn Westphal geredet.«
Gutenberg nickte ansatzweise und nahm die Hand vom Smartphone. Sein Blick blieb auf mir haften, während er das Telefonat fortsetzte. »Lassen Sie ihm ausrichten, er kann in einer halben Stunde zu ihr … Doch, sagen Sie ihm das ruhig … Ich bin bis dahin vor Ort und dann können Sie ihn festnehmen.«
Er beendete das Gespräch.
»Und?«, fragte ich.
»Peter Westphal steht vor dem Krankenzimmer von Frau Carstens«, sagte er. »Irgendwie hat er es geschafft, unbemerkt bis dorthin zu gelangen. Die Polizistin hat ihn aufgehalten. Und Herr Strobelsohn hat den Haftbefehl vom Richter bekommen.«
»Sie wollen bei der Festnahme anwesend sein«, stellte ich fest.
»Sie auch?«
»Ja«, gab ich unumwunden zu.
Er erhob sich. »Dann kommen Sie mit.«