15
Niemand war bei Suzanne Carstens, als ich sie vormittags besuchte. Unterwegs hatte ich kurz angehalten und einen gekühlten Smoothie gekauft. Ich stellte den Pappbecher, aus dem ein dicker Strohhalm ragte, auf ihren Betttisch und schwenkte die Ablagefläche in ihre Richtung, sodass sie das Getränk mühelos erreichen konnte. Sie beobachtete mich die gesamte Zeit über, doch ihr Gesichtsausdruck blieb teilnahmslos.
Ich zog mir einen Besucherstuhl heran und setzte mich neben sie. Ich betrachtete sie genauer. Ihre Wunden verheilten allmählich. Die Farbe der Blutergüsse hatte sich verändert. Sie waren nicht mehr wütend rot, sondern gingen in ein gelbliches Grün über. Die Schwellungen in ihrem Gesicht bildeten sich zurück. Auch die Infusionen waren verschwunden.
Sie selbst wirkte erschöpft wie nach einer schweren körperlichen Anstrengung. Doch sie atmete ruhig. Keine sichtbare Spur von Aufregung.
Ich wartete. Wir schwiegen
.
Nach ein paar Minuten fiel ihr Blick auf den Becher mit dem Smoothie. Sie streckte den Arm aus, ergriff ihn und trank. Dann stellte sie den Saft wieder zurück.
Mit langsamen Bewegungen nahm ich meinen Block aus der Handtasche, klappte ihn auf und zog den Kuli aus der Haltelasche. Ich klickte ihn schreibbereit und suchte Augenkontakt mit der Klientin.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich.
Sie antwortete ohne langes Zögern. »Gut.«
»Ich bin Dr. Evelin Wolf, Kriminalpsychologin beim LKA und Psychotherapeutin«, fuhr ich fort.
Sie lächelte leicht – wie aus Höflichkeit.
»Wissen Sie, wer Sie sind?«, fragte ich weiter.
Sie senkte den Blick. »Suzanne Carstens.«
»Und wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig.« Das kam prompt.
Ich machte mir die erste Notiz.
»Können Sie mir sagen, welchen Monat wir jetzt haben?«
Sie schaute auf, leicht verwirrt, und wandte den Kopf zum Fenster. »Frühling«, sagte sie. »März oder April.«
Ich ließ ihr Zeit, bis sie sich wieder auf mich konzentrierte. »Frau Carstens, wo wohnen Sie?«
»Hamburg.« Sie begleitete ihre Feststellung mit einem überzeugten Nicken.
»Hamburg ist groß«, sagte ich. »Geht es ein wenig genauer?«
Sie blieb lange still, ihre Lider flackerten. »In Blankenese«, meinte sie und fügte die Adresse hinzu.
Ich notierte mir ihre Antwort bewusst langsam, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen.
Schließlich lächelte ich sie freundlich an. »Haben Sie eine Ahnung, wo Sie hier sind?«
Sie schaute sich im Raum um, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. »In einer Klinik. Ich bin in einer Klinik.« Ihre Stimme klang fest. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sie sich in einem Krankenhaus befand.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?
«
Sie zuckte vage mit den Schultern. »Ich bin krank.«
»Nein«, meinte ich.
»Ich hatte einen Unfall?« Erneut teilnahmslos, als würde es sie gar nicht betreffen.
»So etwas Ähnliches«, bestätigte ich und achtete darauf, möglichst sachlich zu klingen. »Vor ein paar Tagen sind in dem Haus Ihres Großvaters einige Menschen zu Tode gekommen. Sie wurden dabei verletzt.«
Ihr Körper zuckte einmal, sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ich konnte ihren Atem hören.
Wieder wartete ich – bis sie ihre Arme löste und ihren Blick hob.
»Können oder möchten Sie mir etwas darüber sagen?«, erkundigte ich mich.
Ihre Antwort bestand aus der Andeutung eines Kopfschüttelns.
»Ihr Großvater, Björn Carstens, ist einer der Toten.«
Das Zittern kam zurück. Ihre Lippen bebten, sie fixierte das Fenster. Aber sie schloss nicht die Augen.
»Sie waren anwesend, als die Menschen starben. Können Sie sich an etwas erinnern?«
Ruckartig wandte sie sich mir zu. »Nein!«
Wir schwiegen. Ich stellte keine weiteren Fragen, weil sie offensichtlich fest entschlossen war, mir nicht länger zu antworten.
Sie griff sich erneut den Smoothie und trank ihn aus, bis die Luft und die restliche Flüssigkeit, die sie durch den Strohhalm zog, gurgelnde Geräusche machten. Sie setzt den Becher ab, ohne ihn loszulassen. Mit beiden Händen drehte sie ihn hin und her und las die Aufschrift.
Abrupt hielt sie inne. »Warum sind Sie
hier?«, fragte sie mich.
»Ich kann Ihnen helfen, sich an alles zu erinnern.«
»An das, was zu Hause vorgefallen ist? … An den Tod von Herrn Carstens?« – Sie nannte ihn weder Großvater
noch Opa
, nicht einmal Björn
. Für sie war er Herr Carstens
.
Ich
nickte. »Ganz genau.«
»Wieso sollte ich das wollen?«
»Irgendjemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Vier Menschen wurden ermordet. Darüber werden die Behörden nicht einfach hinwegsehen.«
Sie verzog den Mund. »Für mich ist das ohne Bedeutung.«
»Das mag sein«, sagte ich. »Aber die Polizei und ich müssen sichergehen. Die Täter können Freunde gewesen sein, völlige Fremde oder …« Ich brach absichtlich ab.
»Oder?«
»Oder Sie.«
»Ist mir egal.« Keine sichtbare Reaktion auf ihrem Gesicht.
Ich tat so, als würde ich etwas in meinen Block schreiben. Dann meinte ich: »Es könnte auch Herr Westphal gewesen sein.«
Sie löste eine Hand vom Becher, strich sich über die Wangen und rieb sich die Augen.
»Peter Westphal. Sie kennen ihn«, hakte ich nach.
Sie holte tief Luft, drückte mit Zeigefinger und Daumen gegen ihre geschlossenen Lider. »Ich kann mich nicht erinnern«, erwiderte sie. »Aber der Name kommt mir bekannt vor.«
Es dauerte lange, bis sie die Hand senkte.
Ich klickte die Mine des Kulis weg. »Sie müssen sich entscheiden. Wenn Sie wollen, dass wir gemeinsam herausfinden, was vorgefallen ist, wer die Verbrechen begangen hat, ob Herr Westphal schuldig ist oder nicht, müssen Sie mit mir zusammenarbeiten.«
Das Fenster schien sie zu faszinieren. »Es gibt keine andere Möglichkeit?«
»Nicht wirklich.«
Ihre Brust hob und senkte sich, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. »In Ordnung. Und das, was ich Ihnen erzähle, das behalten Sie dann für sich?«
»Die Teile, die wichtig sind, um den Täter zu fassen, werde ich an Herrn Gutenberg weitergeben.«
Etwas wie ein erstes Interesse glitt über ihre Züge. »Wer ist das? Sollte ich den auch
kennen?«
»Herr Gutenberg ist der für Ihren Fall zuständige Staatsanwalt.«
Ihr Mund wurde schmal. »Und wenn ich mich weigere?«
»Wenn Sie sich weigern?« Ich machte eine vage Handbewegung. »Dann gibt es keine Garantie, dass der wahrhaft Schuldige gefasst wird. Aber das ist nicht alles.« Ich hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Sie haben vorhin vermutet, sie seien krank. Und ich habe das verneint. Das stimmt nicht ganz. Ihr Körper ist im Begriff, sich zu erholen. Doch nur, wenn Sie sich erinnern, kann Ihre Seele wieder gesund werden.«
Sie schnaubte. Laut und verächtlich. »Was wissen Sie schon von meiner Seele!«
Ich verstaute meinen Block in der Handtasche. Die Stille, die sich zwischen uns ausbreitete, wog schwer.
»Und?«, sagte ich nach einer Weile. »Wie haben Sie sich entschieden?«
»Ich werde es tun.«
Ich stand auf.
»Was machen Sie?«, fragte sie irritiert.
»Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn ich wiederkomme, vereinbaren wir die Einzelheiten unserer Zusammenarbeit – den Ort, die Zeit und wie wir vorgehen werden.«
»Wir machen das hier in der Klinik«, meinte sie überzeugt.
»Gewiss nicht«, erwiderte ich.
Ihre Hand, die noch immer den leeren Becher hielt, drückte zu. Die Pappe knackte und der Plastikdeckel sprang ab. »Nach Blankenese kann ich nicht.« Ihre Wangen wurden blass, das Zittern kehrte zurück – wesentlich heftiger.
Ich trat näher, berührte sie am Oberarm. »Niemand zwingt Sie, nach Blankenese zu gehen. Vertrauen Sie mir. Wir finden eine andere Lösung, die für Sie passt und für mich.«
»Sie versprechen es?«, flüsterte sie, und der Ausdruck in ihren Augen ähnelte dem eines verängstigten Kindes.
»Ja«, sagte ich mit einem kleinen Lächeln. »Versprochen.«
Ich drehte mich um und ging.