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Nachdem Alex einen Parkplatz für seine Limousine in der Tiefgarage der Klinik gefunden hatte, blieb er einen Moment lang sitzen. Er dachte darüber nach, welche Informationen er durch das hoffentlich bevorstehende Gespräch mit der Überlebenden vom Burchardkai erhalten wollte. Und er gestand sich ein, dass ihn der Container voll unschuldiger toter Frauen mehr mitnahm, als ihm lieb war. Wer brachte es über sich, solch junge Menschen in einer Kiste aus Stahl wie gewöhnliches Vieh zusammenzupferchen, ohne sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, ob sie ihren Bestimmungsort lebend erreichten? Nun, ganz ohne Zweifel hätte ein Überleben nicht dazu geführt, dass es den Frauen gut gegangen wäre.
Er riss sich zusammen. Seine vielleicht beste Chance, etwas über die verantwortlichen Drahtzieher dieses schrecklichen Menschenhandels zu erfahren, lag bewusstlos in diesem Krankenhaus.
Er verließ die Tiefgarage und machte sich auf den Weg zur angrenzenden Notaufnahme .
Die Krankenschwester am Anmeldeschalter war jung, er schätzte keinen Tag älter als fünfundzwanzig. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie in ihrem kurzen Leben bereits viel gesehen hatte. Sie zeigte ihm den Weg zur Intensivstation.
Schnell fand Alex Dr. Jakobsen, Hamdys Assistenten. Er stand neben einem offenen Raum voll medizinischem Fachpersonal. Alex konnte sich gut vorstellen, dass das vorzeitig ergraute Haar des Assistenten dessen Kompetenz und Autorität unterstrich, doch anders als der jungen Krankenschwester von vorhin gelang es dem Arzt nicht, seine Gefühle unter Verschluss zu halten. Seine buschigen Augenbrauen, die sich über seine welpenhaft blauen Augen zusammengezogen hatten, bewiesen, wie enorm ihn die Sache mitnahm.
Alex schüttelte die Hand des jungen Doktors und spähte an der Gruppe der Ärzte und Pfleger vorbei in den hinteren Bereich des Krankenzimmers. Er erblickte eine blonde Frau; sie wirkte bewusstlos. Ein Sauerstoffschlauch hing unter ihrer Nase. Kabel, die an jeder ihrer Gliedmaßen angebracht zu sein schienen, führten zu Maschinen, die ihre Vitalwerte aufzeichneten.
»Ihre Sauerstoffsättigung ist stabil. Behalten Sie die Werte im Auge. Wir können vorsichtig anfangen, zu hoffen, dass sie es schafft. Die Sanitäter haben ihr zwei Ampullen Bicarbonat gegeben. Veranlassen Sie eine Blutgasmessung und stellen Sie den Grad der Übersäuerung fest«, sagte der behandelnde Arzt zu einem der Pfleger, während sie das Krankenzimmer verließen und dabei Alex und Dr. Jakobsen passierten.
Alex hütete sich davor, um Erlaubnis zu bitten, mit der Patientin zu sprechen. Bei seinem letzten Versuch war das Ergebnis für ihn alles andere als positiv ausgefallen. Stattdessen wandte er sich an Hamdys Assistenten. »Dr. Jakobsen, ist sie zwischenzeitlich einmal zu sich gekommen?«
Jakobsen machte eine vage Kopfbewegung. »Ich habe sie im Rettungswagen begleitet. Sie ist von einer Bewusstlosigkeit in die nächste gedriftet, bevor sie sich erbrochen hat. Als wir hier ankamen, ist sie erneut ohnmächtig geworden. Das ist jetzt über eine halbe Stunde her. Und im Hinblick auf die Aussage des Arztes soeben ist sie weiterhin in einem kritischen Zustand.«
Oberkommissar Strobelsohn betrat die Intensivstation. Er wurde von einer Frau begleitet, von der Alex annahm, dass es sich um die Dolmetscherin handeln musste.
Alex hob eine Hand, um auf sich aufmerksam zu machen, und wartete, bis die beiden ihn erreicht hatten.
Nachdem Strobelsohn die Übersetzerin vorgestellt hatte, blickte er einmal verstohlen über seine Schulter und neigte sich zu Alex. »Glauben Sie, wir werden ihre Dienste überhaupt benötigen?«, fragte er ihn in einem vertraulichen Tonfall.
Alex schürzte die Lippen und schüttelte ansatzweise den Kopf. »Keine Ahnung. Hoffen wir das Beste.«
Er ging voraus, gefolgt von Strobelsohn und der Dolmetscherin. Dr. Jakobsen blieb im Flur zurück. Vorsichtig näherten sie sich der bewegungslosen Zeugin. Alex konnte erkennen, wie hübsch sie noch vor kurzer Zeit gewesen sein musste. Dunkle Ringe unter ihren Augen verbargen nahezu vollständig, dass sie in Wirklichkeit fast ein Kind war – in ihren späten Teenagerjahren, maximal zwanzig. Sie hatte ein unschuldiges, eher schlichtes Aussehen, ungezupfte Brauen, und ihre Frisur war altmodisch. Ein Kleinstadt-Mädchen – mitgerissen von Versprechungen nach Abenteuer, Reisen und Geld. Jetzt bestand ihre einzige Bewegung aus dem Heben und Senken ihres Brustkorbes bei jedem Atemzug.
Alex vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass Strobelsohn und die Übersetzerin hinter ihm standen. Dann wandte er sich der jungen Frau zu.
»Hallo«, sagte er zu ihr und bemühte sich dabei, seiner Stimme einen warmen, weichen Klang zu geben.
Sie reagierte nicht.
Alex wartete eine Weile. Er versuchte es ein zweites Mal und beugte sich ein wenig tiefer zu der Patientin. » Hallo. Wie heißen Sie?«
Während er sprach, betrachtete er das Gesicht der jungen Frau eingehend, in der Hoffnung, irgendeine Regung zu entdecken, die ihm zeigen würde, dass sie seine Anwesenheit wahrgenommen hatte.
Nichts, bis auf dieses Ein- und Ausatmen.
Alex dachte daran, was Dr. Wolf in einer solchen Situation tun würde. Er erinnerte sich, wie sie Suzanne Carstens gestreichelt hatte. Vermutlich würde es die Psychologin bei diesem Opfer ähnlich angehen.
Er überlegte kurz. Ein Versuch war es wert.
Er streckte die Hand aus und strich der bewusstlosen Frau über den Unterarm. »Hallo«, sagte er ein drittes Mal.
Nichts geschah. Keine Änderung bei der Patientin.
Alex richtete sich auf. Wäre ja zu schön gewesen , dachte er sich und wandte sich Strobelsohn und der Übersetzerin zu.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, das hat kei…«
Strobelsohns Ausdruck veränderte sich. Der riesige Polizist riss erstaunt die Augen auf und fixierte einen Punkt seitlich von Alex. Gleichzeitig spürte Alex, wie sich kalte Finger um sein Handgelenk schlossen.
Alex fuhr herum.
Die junge Frau hatte ihre Lider geöffnet. Ihre eine Hand klammerte sich noch immer an ihm fest. Mit der anderen kratzte sie ins Leere. Sie starrte ihn an, die eingesunkenen Augen verzweifelt und panisch. Ihre Lippen bewegten sich.
Zuerst konnte Alex nicht verstehen, was sie im Flüsterton sagte. Er beugte sich tiefer herab.
»Was meinten Sie?«, fragte er.
Ihre Lippen bewegten sich erneut, und diesmal hörte er ein entsetztes Stöhnen. »Dmitri Ivanov.«
Er sah in ihre tiefliegenden Augen. »Wer ist das? Hat er Ihnen das angetan?«
Ohne seinen Blick von der zerbrechlich wirkenden Frau abzuwenden, gab er Strobelsohn und der Dolmetscherin mit einer ungeduldigen Geste seiner freien Hand zu verstehen, dass sie näher kommen sollten.
Im gleichen Moment begann die junge Frau lauthals zu schreien. »Dmitri Ivanov! Dmitri Ivanov! Wi dolschni pomotsch nam! Pomotsch!«
Instinktiv zuckte Alex ein Stück zurück. Als er die Patientin wieder ansah, rollten ihre Augen nach oben, bis er nur noch deren gespenstisches Weiß erkennen konnte. »Ivanov … Dmitri Ivanov«, murmelte sie.
Der feste Griff um sein Handgelenk lockerte sich. Ihr Arm fiel kraftlos auf die Bettdecke. Die medizinischen Geräte begannen wie wild zu piepsen.
Das Notfallteam kam in den Raum gestürzt. Alex, Strobelsohn und die Dolmetscherin pressten sich an die rückwärtige Wand, um sie vorbeizulassen.
»pH-Wert bei 7,21, Kohlendioxid 53, Sauerstoff bei 79.«
»Akutes respiratives Distresssyndrom! Wir verlieren sie! Sie hat eine Lungenembolie!«
»Das Röntgen-Thorax-Gerät – schnell!«
Alex gab Strobelsohn und der Dolmetscherin ein Zeichen. Gemeinsam wichen sie in den Flur aus, während die Ärzte versuchten, die junge Frau wiederzubeleben.
Er beobachtete die Mediziner, wie sie verbissen um das Leben der Patientin kämpften. Dabei fühlte er, wie jede Hoffnung auf Hinweise in dem Echo des EKGs unterging.
Und als dessen letzter, lang anhaltender Ton verhallt war, wusste er, dass die junge Frau und die Informationen, die sie ihm hätte geben können, unwiederbringlich verloren waren.