17
Strobelsohn klickte mit seiner Funkmaus, und auf dem Bildschirm des Laptops erschien ein verwackeltes Bild: medizinische Geräte, eine weiß gestrichene Wand, der Hinterkopf eines Mannes und dann eine Patientin in einem Krankenbett.
Ich hatte schon mehrere Leichen gesehen. Und die junge Frau erinnerte mich daran. Mit ihren eingefallenen Wangen, der fahlen, nahezu wächsernen Haut und den überaus scharfen Konturen ihrer Nase wirkte sie mehr tot als lebendig. Nur das Heben und Senken des Brustkorbs bewies, dass sie noch nicht gestorben war.
Ich verdrängte die Empfindungen, die in mir hochsteigen wollten, und konzentrierte mich stattdessen ausschließlich auf das Video.
Wieder wackelige Bilder und dann eine Großaufnahme des Gesichts. Die Frau schlug die Augen auf. Die Pupillen waren erschreckend geweitet. Ihr Mund bewegte sich, sie schien etwas zu flüstern, was man wegen der rhythmischen Geräusche des Oszilloskops und der anderen Messinstrumente nicht hören konnte.
»Was meinten Sie?«, ertönte eine Männerstimme. Sie gehörte Gutenberg. Er sprach leise und bedacht, und doch bemühte er sich um Autorität.
Die Frau in dem Bett stöhnte auf. Wieder bewegten sich ihre Lippen. Diesmal sagte sie eindeutig etwas, doch ich konnte es erneut nicht verstehen.
»Wer ist das? Hat er Ihnen das angetan?« – Gutenberg.
Der Ausdruck der Frau veränderte sich. Ihr Mund öffnete sich weiter. Ihre gerade noch tiefliegenden Augen drohten, aus den Höhlen zu quellen. Plötzlich schrie sie: »Dmitri Ivanov! Dmitri Ivanov!«, und irgendetwas anderes. Drei, vier Wörter – ich vermutete Russisch oder eine verwandte Sprache.
Die Aufnahme wackelte stark. Kurz, aus nächster Nähe, erhaschte ich das Profil von Gutenberg, dann das Gesicht der Patientin, das Gesicht einer Sterbenden.
Die lebenserhaltenden Geräte in dem Raum schlugen Alarm. Lautes, durchdringendes Piepsen, atonales Pfeifen. Der Fokus der Kamera hüpfte wie wild umher. Fußboden, Decke, wieder Fußboden und dann mehrere weiß gekleidete Personen, die zum Krankenbett stürzten. Stimmengewirr...
Der Bildschirm wurde schwarz.
In Strobelsohns Büro zog eine erdrückende Stille ein.
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Das billige Plastik in meinem Rücken quietschte. Ich zwang mich, den Blick vom Laptop zu reißen, und sah zu Gutenberg, der wie unbeteiligt mir gegenüber am Tisch saß. Entweder war er wirklich so kaltschnäuzig, wie er sich gab, oder er hatte sich eisern unter Kontrolle. Ich war mir nicht sicher, was zutraf.
Strobelsohn hingegen zeigte tiefe Anteilnahme. Er fuhr sich nervös über das Kinn. Und Henrik Breiter, dem jungen Polizisten, ging das Ganze derartig an die Nieren, dass er sich nicht anders zu helfen wusste, als seinen Mund zu einem starren Grinsen zu verziehen. Die Grimasse hatte Ähnlichkeit mit einer Karikatur. Sie blieb leer und ausdruckslos.
Gutenberg räusperte sich. »Das hat Herr Strobelsohn geistesgegenwärtig mit seinem Smartphone gefilmt, während ich mit der Patientin gesprochen habe. Was halten Sie davon?«
Die Frage war an mich gerichtet.
»Entschuldigung«, tastete ich mich heran. »Was hat die junge Frau von sich gegeben? Ich habe nur einen Namen verstanden.«
»Spielen Sie es noch einmal vor«, forderte Gutenberg Breiter auf.
Der junge Polizist nickte, klickte zweimal, und die Aufzeichnung begann von Neuem. Mit albtraumhafter Kälte kehrten die Bilder zurück. Sie zeigten das Sterben eines Menschen, hielten seine letzten Worte fest.
Der kurze Film endete. Im Raum wurde es still.
Strobelsohn blätterte betont geschäftig in der Akte, die vor ihm lag, tippte mit dem Zeigefinger auf eines der Papiere und meinte: »Die Verstorbene nennt einen Namen: Dmitri Ivanov. Und dann sagt sie auf Ukrainisch: Du musst uns helfen
Alle Augen richteten sich auf mich.
»Und?«, fragte Gutenberg.
»Was der jungen Frau vor ihrem Tod passiert ist, muss schrecklich gewesen sein.« Ich versuchte das, was ich beobachtet hatte, in Worte zu fassen. »Sie hatte vor diesem Dmitri mehr Angst als vor dem Sterben.«
Strobelsohn verzog den Mund. »Das gibt es?«
»Was meinen Sie?« Ich drehte den Kopf in seine Richtung.
»Dass man mehr Angst vor einer Person hat als vor dem Sterben – das gibt es tatsächlich?«
Ich sah den Oberkommissar direkt an. »Der Tod ist irgendetwas Abstraktes. Aber dieser Dmitri ist äußerst konkret.«
Henrik Breiter hüstelte. »Wir vermuten, dass sich Dmitri Ivanov in Russland aufhält. Deshalb haben wir inzwischen Kontakt zu Interpol und zur dortigen deutschen Botschaft aufgenommen. Wir hoffen, dass wir bald Näheres erfahren und dann wissen, wer er ist. Gleichzeitig lassen wir rückverfolgen, wer den Container in Kaliningrad eingeschifft hat.«
Breiter erhob sich, ging hinüber zur Kaffeemaschine und kam mit einer neuen vollen Kanne zurück. Er blieb neben mir stehen und blickte mich fragend an. Ich langte vor und zog eine der Tassen zu mir heran, die auf der Mitte des Tisches standen. Er goss mir ein.
Ich lächelte. »Vielen Dank.« Etwas Warmes würde mir jetzt guttun.
»Gern geschehen«, erwiderte er. Eine leichte Röte zog über seine Wangen.
»Was unternehmen Sie sonst in dem Fall?«, fragte Gutenberg eine Spur zu schroff.
Hoppla! Ich musterte Gutenberg. Nach seinen zusammengezogenen Augenbrauen zu urteilen, schien ihn irgendetwas zu ärgern. Vielleicht die ganze Situation … Nein. Es war der junge Henrik, der immer noch wie angewachsen neben mir verharrte, die Kanne in der Hand, die Augen glänzend.
Männer , dachte ich und sagte laut: »Zucker und Milch nehme ich mir selbst. Danke.«
Breiter nickte hastig, goss Strobelsohn nach, obwohl der ihn nicht darum gebeten hatte, stellte die Kanne umständlich auf den Tisch und setzte sich geräuschvoll auf seinen Platz.
»Also? Was unternehmen Sie sonst?«, fragte ihn Gutenberg zum zweiten Mal.
»Wir versuchen, die Identitäten der toten Frauen zu klären, doch ich bin skeptisch, ob uns das gelingt«, sagte der junge Polizist. »Und wir überprüfen die Frachtpapiere, wer genau für den Container verantwortlich war. Aber auch da sehe ich eher schwarz.«
Gutenberg wies auf den dunklen Bildschirm vor sich. »Wir haben es hier höchstwahrscheinlich mit Menschenhandel zu tun. Keiner wird sich melden und sagen, dass ihm ein Container voll blutjunger Frauen abhandengekommen ist.«
»Außerdem werden wir diesen Hugenot befragen und wir warten auf das Ergebnis der Spurensicherung«, ergänzte Breiter, der sich offensichtlich wieder gefangen hatte. »Mehr können wir im Moment nicht machen.«
»Herr Hugenot ist der Fahrer, der den betreffenden Container am Hafen abholen sollte«, erklärte Strobelsohn auf meinen fragenden Blick hin. Er wirkte deprimiert.
Ich konnte ihn gut verstehen. »Sie haben jetzt gleich zwei große Fälle zu bearbeiten. Das ist sicher nicht leicht.«
»Ganz bestimmt nicht«, bestätigte er wie aus der Pistole geschossen. »Um ordentliche Polizeiarbeit zu leisten, braucht man Ressourcen, Zeit und Personal. Aber meine Meinung interessiert ja keinen. Und Bolsen … Unserem Chef ist es egal. Personalfürsorge ist nicht sein Ding. Ihm sind andere Sachen wesentlich wichtiger.«
»Jeder hat seine eigenen Prioritäten«, fügte Gutenberg überdeutlich hinzu. »Und ich kann mir vorstellen, dass Herr Bolsen auch welche hat.« Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und streckte die Beine aus. »Es nutzt uns momentan aber nichts, über die Rahmenbedingungen unserer Arbeit zu jammern. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir haben.«
Alle schwiegen. Breiter rührte seinen Kaffee um. Der Löffel schlug dumpf gegen das Porzellan.
Gutenberg hatte recht mit seiner Feststellung. Es war müßig, sich über Dinge wie die Personalausstattung aufzuregen, wenn man sie nicht ändern konnte. Dennoch hätte er ein wenig mehr Empathie an den Tag legen können. Strobelsohn und Breiter standen unter erheblichem Stress.
»Eigentlich bin ich heute wegen der Morde in der Carstens-Villa gekommen«, wechselte ich das Thema, um die trübe Stimmung aufzulockern, die sich breitzumachen drohte. »Zumindest in dem Fall kann ich Sie ein wenig unterstützen, indem ich mit Suzanne Carstens arbeiten werde.«
Gutenberg nickte. »Ich habe die Kollegen über unsere Vereinbarung informiert.«
»Und Sie sind einverstanden?«, fragte ich in die Runde.
Breiter nickte eilfertig, Strobelsohn zuckte mit den Schultern. »Von mir aus«, brummte er. »Kann ja nicht schaden. Aber glauben Sie wirklich, dass das funktioniert? «
Ich trank von meinem Kaffee. »Davon bin ich fest überzeugt. Ich habe das in der Vergangenheit schon öfter gemacht. Allerdings ist es nötig, dass sich alle Ermittler – und dazu zähle ich im Moment auch mich – regelmäßig treffen, um über die jeweiligen Fortschritte zu berichten. Austausch, damit man nichts übersieht.«
»Was ist mit Ihrer Schweigepflicht?«, gab Strobelsohn zu bedenken.
»Ein überaus wichtiger Punkt.« Ich nickte ihm bekräftigend zu. »Frau Carstens hat der Therapie zugestimmt und eingewilligt, dass ich Sie über relevante Fakten aus unseren Gesprächen informieren darf.«
»Hört sich super an«, sagte Breiter. Und Gutenbergs Augenbrauen zogen sich wieder zusammen.
Mit seiner unbewussten Reaktion verriet mir Gutenberg mehr, als er wollte. Ich ertappte mich dabei, dass mir sein Verhalten gefiel. Für eine Sekunde ärgerte ich mich über mich selbst, doch dann gewann die Neugier die Oberhand. Mal sehen, wie weit ich das Spiel treiben konnte.
»Eine Bitte hätte ich«, sagte ich. »Sie alle haben Ihre Arbeit und ich habe meine. Ich werde nicht ständig bei den Ermittlungen dabei sein können. Wenn mir jemand von Ihnen völlig formlose, schriftliche Informationen immer dann zukommen lassen könnte, wenn etwas Wichtiges passiert, wäre das hilfreich.«
»Das übernehme ich«, beeilte sich Breiter, zu sagen. »Mache ich gerne.«
Ich blickte ihn an, beobachtete dabei aber Gutenberg aus dem Augenwinkel heraus. Der verzog missbilligend den Mund, jedoch nur kurz, bevor sich ein wissendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
Mist , dachte ich. Er hat mich durchschaut.
»Sie werden Frau Dr. Wolf zuverlässig informieren«, sagte Gutenberg zu Breiter. »Prima.« Er machte Anstalten, sich zu erheben .
Es klopfte, die Tür wurde geöffnet und ein Beamter in Uniform betrat das Büro.
»Was gibt’s?«, fragte Strobelsohn.
»Herr Kirchner ist jetzt da«, antwortete der Beamte.
»Kirchner?«, wiederholte Gutenberg.
»Der leitende Hausangestellte der Carstens-Residenz«, erklärte der Beamte.
Breiter beugte sich ungläubig vor. »Der was
»Na, der Butler«, knurrte Strobelsohn. »So reiche Säcke haben einen Butler.«
»Sehr gut«, sagte Gutenberg. »Dann wollen wir uns mit ihm ein wenig unterhalten.« Er stand auf und streckte mir die Hand zum Abschied entgegen.
Ich reagierte nicht. Ich blieb sitzen und blickte ihn an.
Er verstand sofort. »Sie möchten dabei sein?«
»Bei der Befragung?« Ich runzelte die Stirn, als müsste ich überlegen. »Ja. Das wäre sinnvoll.«
»Dann kommen Sie«, sagte Gutenberg.