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Die Fragen prasselten nur so auf Peter Westphal ein: Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnsitz, Telefonnummer, Handynummer und andere belanglose Dinge, die schon längst erhoben worden waren und in der Akte standen.
Gutenberg schien davon ein unerschöpfliches Repertoire zu besitzen. Jede Antwort Westphals quittierte er mit höflichem Interesse, als könnte sie allein für sich genommen für die Lösung der Morde von Bedeutung sein.
Das war natürlich nicht der Fall. Das Ganze hatte ausschließlich den Sinn, den Verdächtigen aus der Reserve zu locken. Ihn zu einer unbedachten Äußerung zu verleiten.
Bislang hatte Gutenberg mit seiner Strategie jedoch keinen Erfolg gehabt.
Ich saß zurückgelehnt auf meinem Stuhl, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, und ließ die Szenerie, die sich hier in dem kargen Besprechungsraum der JVA abspielte, auf mich wirken.
Gutenberg benahm sich, wie ich ihn bereits kannte: zielgerichtet, sachlich, selbstsicher. Scheinbar emotionslos wä hlte er die Worte, bildete er seine Sätze. Der Verdächtige hingegen verhielt sich völlig anders, als er mir vom Vortag in der Klinik in Erinnerung geblieben war. Dort hatte Peter Westphal getobt, gedroht und schließlich vollkommen die Kontrolle verloren. Jetzt zeigte er eine neue Facette seines Charakters. Er war beherrscht, zuvorkommend, geduldig und ruhig.
Genau das war der Knackpunkt. Denn jeder, der in den Fokus einer Mordermittlung gerät, ist für gewöhnlich aufgeregt, selbst wenn er noch so überzeugt davon ist, unschuldig zu sein.
Hinzu kam, dass mich Westphal so gut wie keines Blickes würdigte, sondern seine Augen die ganze Zeit über auf den Staatsanwalt richtete. Er trieb es sogar so weit, dass er kaum blinzelte. Er verwendete viel Energie darauf, zuverlässig und ehrlich zu erscheinen. Damit kaschierte er seine wahren Gefühle, höchstwahrscheinlich auch seine wahren Absichten.
Er log uns an. Ganz bewusst.
Und wie reagierte Gutenberg auf diese Vorstellung ? Nun, er gab sich den Anschein, als würde er Westphal diese Show abnehmen. Das wiederum senkte Westphals Anspannung, die dieser überaus geschickt vor uns verbergen wollte.
Gutenberg bewies langen Atem. Er gaukelte dem Verdächtigen Sicherheit vor, um im geeigneten Moment zuzuschlagen. Ich fragte mich nur, wann Gutenberg das tun würde, wann er Westphal in die Enge treiben würde. Denn dass er das vorhatte, verriet mir die Körperhaltung des Staatsanwalts. Er saß eher auf der vorderen Hälfte seines Stuhls. Seine Füße standen fest auf dem Boden.
Westphal konnte das von seiner Position aus am gegenüberliegenden Ende des Tisches nicht unbedingt erkennen und hatte zudem nicht die notwendige Erfahrung und das Wissen, um auf diese kleinen, nonverbalen Zeichen zu achten.
Gutenberg hatte mich vorhin eingeladen, ihn zu Westphals Befragung zu begleiten. Er hatte sogar angeboten, mich in seinem Wagen mitzunehmen. Letzteres hatte ich abgelehnt, weil … Warum eigentlich? Genau konnte ich es nicht sagen. Vi elleicht, weil ich nachher zu Georgios zum Abendessen fahren wollte … Nein, das war nicht der Grund.
Was dann?
Distanz. Es war in Ordnung, gemeinsam Verhöre durchzuführen, gemeinsam in einem Büro über Motive und Verdächtige zu brüten. Auch ein Mittagessen in einem öffentlichen Lokal war okay. Aber eine längere Fahrt zu zweit in einem engen Auto – das war mir zumindest im Moment zu persönlich.
Gesunder Abstand ist nie verkehrt.
Insgesamt ließ sich die Zusammenarbeit mit Gutenberg recht ordentlich an. Vorhin, bei der Befragung des Butlers, hatte er mich miteinbezogen. Er war meinem Vorschlag gefolgt, den jungen Polizisten Breiter als Ablenkungsmanöver einzusetzen, um Kirchner zum Reden zu bringen. Das hatte prima geklappt.
Gerade im Moment bearbeiteten Strobelsohn und Breiter den Containerfall. Die armen Kerle hatten keinen leichten Job. Bolsen, unser gemeinsamer Chef, war so versessen darauf, Karriere zu machen – ihn kümmerten seine Mitarbeiter nicht die Bohne. Hauptsache, er glänzte.
Westphals Stimme drang zu mir. Für einen Augenblick war ich abgelenkt gewesen.
»Es tut mir wahnsinnig leid«, sagte er. »Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist. Normalerweise bin ich nicht so.«
Vermutlich sprach er über den gestrigen Vorfall in der Klinik.
»Ich musste Suzi einfach sehen. Und Sie hatten es mir versprochen, Herr Gutenberg. Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht …« Er brach ab.
Gutenberg quittierte diese Aussage mit einem nichtssagenden Lächeln und lehnte sich zurück. »Lassen Sie uns zur Mordnacht kommen.«
»Gerne.« Westphals Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Er schluckte .
»Ist Ihnen mittlerweile noch etwas eingefallen, was Sie vergessen haben, uns zu berichten?«
Westphal runzelte die Stirn, bevor er seine verschränkten Hände öffnete, sodass seine Innenflächen zu sehen waren. Die Geste sollte entwaffnende Ratlosigkeit signalisieren. Das tat sie aber nicht, dafür kam sie einen Tick zu spät. »Ich habe Sie über alles informiert, was ich weiß. Zugegebenermaßen ist es nicht viel. Ich bin ja erst früh gekommen.«
»Das sagten Sie«, erwiderte Gutenberg. »Dann wechseln wir doch einmal das Thema, und Sie erzählen uns stattdessen ein wenig von sich selbst.«
»Von mir?« Westphal zeigte die erste Unsicherheit in diesem Gespräch. Er setzte sich kaum merklich auf seinem Stuhl zurecht.
»Ja. Bitte«, meinte Gutenberg.
»Da gibt es wenig Spektakuläres.« Er überlegte kurz. »Meine Mutter ist früh gestorben.« Eine kleine Pause. »Mein Vater auch.«
»Woran?«, mischte ich mich ein.
»Woran?« Westphal schreckte sichtlich hoch. »Wer?«
»Ihr Vater«, meinte ich geradeheraus. »Ihre Mutter dürfte eines natürlichen Todes gestorben sein. Aber was war mit Ihrem Vater?«
Er blinzelte. »Woher wissen Sie das?«
»Beantworten Sie bitte die Frage von Frau Dr. Wolf«, ergriff Gutenberg das Wort.
Westphal senkte den Kopf und biss sich auf die Lippe. Dann sah er wieder auf. »Meine Mutter hatte Krebs. Und mein Vater…«
Gutenberg und ich warteten.
»Mein Vater hat Selbstmord begangen.«
»Hm«, machte ich. »Wie alt waren Sie damals? Nur, damit wir das einordnen können.«
Westphals Gesicht war bleich und seine Lider flackerten. Seine Beherrschung bröckelte. »Siebzehn. Ich war siebzehn.«
»Damals besuchten Sie die Schule«, stellte Gutenberg fest .
»Zwölfte Klasse.«
»Ah«, sagte Gutenberg. »Sie haben Abitur gemacht.«
»Ja. Kurz darauf. Hier in Hamburg.«
»Und dann?«
»Dann habe ich ein Stipendium erhalten und Meeresbiologie studiert. Zuerst in Hamburg und später in Sidney. War eine sehr interessante Zeit.«
Damit wollte er punkten und ablenken. Aber ich tat ihm nicht den Gefallen, darauf einzugehen. »Sie erhielten ein Stipendium? Von welcher Stelle?«
Er zögerte erneut. Diesmal länger. »Von einem Privatmann.«
»Der hat sicher einen Namen«, meinte Gutenberg trocken.
»Carstens.«
Gutenberg beugte sich vor. »Björn Carstens hat Ihnen Ihr Studium finanziert?«
»Ja«, erwiderte Westphal und bedachte Gutenberg mit einem trotzigen Blick. »Er kannte meinen Vater.«
»Woher?«, bohrte ich nach.
»Mein Vater … er war für ihn tätig.«
»Das ist ja ein Zufall«, sagte Gutenberg. »Sie sind mit seiner Enkelin liiert, Ihr Vater hat bis zu seinem Tod für den Verstorbenen gearbeitet, Sie haben den Mord gemeldet…«
»Viele Zufälle«, sagte ich. »Wenn Sie uns jetzt noch sagen, dass Sie als Meeresbiologe bei Herrn Carstens beschäftigt waren...«
»Nein.« Das kam entschieden und prompt. »Ich arbeite als Unterwasserschweißer für eine Werft, aber das wissen Sie.«
»Das verstehe ich nicht.« Gutenberg runzelte übertrieben die Stirn. »Sie haben Meeresbiologie studiert, waren sogar in Sidney im Rahmen Ihrer Ausbildung. Warum sind Sie nicht als Meeresbiologe tätig? Haben Sie Ihr Studium abgebrochen?«
Westphal schnaubte. »Ich habe einen Abschluss. Aber erstens gibt es wenig Stellen und die sind zweitens meist mies bezahlt. Als Unterwasserschweißer verdiene ich sehr gut und kann allein arbeiten. Das liegt mir. Ich kann mich nicht beklagen.«
»Ihr Job ist aber nicht ganz ungefährlich, nicht wahr?«, warf ich ein.
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man konzentriert ist und aufpasst…«
Wir blieben für eine Weile still.
Westphal sah mich an. Sein Blick hatte etwas Dringendes, beinahe schon Flehendes. Ich war mir nicht sicher, ob er es nur vorgab. »Wie geht es Suzi?«
»Den Umständen entsprechend«, erwiderte ich knapp.
»Ist sie wieder bei Bewusstsein?«
»Sie wird morgen entlassen.«
»Und dann?«
»Ich werde anfangen, mit ihr zu arbeiten, damit sie sich erinnert.«
»Erinnert.« Westphal strich sich in einer unbewussten Geste mit dem Handrücken über die Lippen. »Und wo soll sie wohnen?«
»Sie wird gut untergebracht werden«, sagte Gutenberg ausweichend, bevor er sich mir zuwandte. »Hätten Sie noch eine Frage, Frau Dr. Wolf?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das war’s von meiner Seite für heute.«
»In Ordnung.« Gutenberg packte seine Akte und stand auf.
Ich erhob mich ebenfalls.
»Sie sagen mir doch, wenn es etwas Neues bei Suzi gibt, nicht wahr?«, fragte Westphal.
Wahrscheinlich meinte er mich.
Gutenberg übernahm die Antwort. »Im Rahmen der Möglichkeiten.«