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Alex beschäftigte sich mit seinen Terminen und Mails. Inzwischen mussten seine beiden Kollegen ihrem Chef Rede und Antwort zu einem Fall stehen, bei dem die Beweise fehlten, und zu einem zweiten Fall, dessen Spuren ins ferne Ausland führten.
Er fühlte sich schuldig – nicht nur, weil er die beiden allein ließ, sondern auch, weil er seine gesamte andere Arbeit auf die Schultern seiner Kollegen bei der Staatsanwaltschaft abgewälzt hatte.
Ungeachtet des Ruhms, den solche Ermittlungen mit sich brachten, hatte er bislang nur selten ein derartig drängendes Verlangen danach gehabt, die Täter zu fassen. Sehr gerne hätte er die Lorbeeren Bolsen einheimsen lassen, wenn er dafür die Psychopathen, die für diese Todesfälle verantwortlich waren, hinter Gitter hätte bringen können.
Nach nicht einmal fünfzehn Minuten hielt Henrik die Tür für den Oberkommissar auf und die zwei Polizisten kehrten in Strobelsohns Büro zurück. Alex konnte nicht umhin, festzustellen, dass sie gute Laune hatten. Er packte sein Smartphone weg. »Ich nehme an, das Gespräch verlief positiv?«
Strobelsohn grinste. Ein seltener Anblick. »Er hat es mit Haut und Haaren gefressen. Sobald Henrik die Grüße des Botschafters übermittelt hat, schien Bolsen vergessen zu haben, dass er vorhatte, uns den Marsch zu blasen. Ich glaube, er war mehr daran interessiert, uns schnellstmöglich aus seinem Büro hinauszukomplimentieren, um bei seiner Frau oder seinem Golfpartner zu prahlen. Ich bin mir nicht sicher, wen er anrufen wollte, aber er hat uns sofort entlassen. Auf dem Weg nach draußen sah ich, wie er in die Innentasche seines Sakkos griff. Dort bewahrt er das Handy auf.«
»Das freut mich zu hören. Ein Problem weniger, jedenfalls für eine Weile«, sagte Alex lächelnd und erhob sich, um zu gehen.
Strobelsohns Diensttelefon klingelte. »Oberkommissar Strobelsohn, LKA. Guten Tag«, meldete er sich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich fahre in mein Büro. Ein ganzer Berg Arbeit wartet auf mich«, meinte Alex leise zu Henrik. »Wenn es etwas Neues gibt, sagen Sie Bescheid.«
Er nickte Henrik und Strobelsohn zu und öffnete die Tür.
Strobelsohn hielt ihn mit einem dringenden Winken auf. Alex schloss die Tür wieder und wandte sich zum Oberkommissar.
»Ich befinde mich in einem Meeting mit meinem Kollegen, Herrn Breiter, und Herrn Oberstaatsanwalt Gutenberg«, sprach Strobelsohn ins Telefon, während er Alex ansah. »Sie arbeiten beide an dem Fall. Wenn es Ihnen recht ist, stelle ich Sie auf laut.«
Strobelsohn blieb eine Weile still. »In Ordnung.« Er drückte einen Knopf, steckte den Hörer zurück in die Basisstation und beugte sich näher heran. »Hallo. Können Sie mich verstehen?«
»Ja. Guten Tag, die Herren«, meldete sich eine sanfte Stimme. »Mein Name ist Myra Steinhagen. Ich bin die zuständige Sachbearbeiterin des BND in Berlin. Ein Kollege von Interpol hat mich heute Morgen angerufen und mich gebeten, Sie bezü glich Dmitri Ivanov und seinen Verbindungen zum Menschenhandel zu kontaktieren.«
»Oberstaatsanwalt Gutenberg. Hallo, Frau Steinhagen«, übernahm Alex. »Was können Sie uns über Herrn Ivanov mitteilen?«
Eine lange Pause folgte. »Wir haben eine recht umfangreiche Akte zu Dmitri Ivanov. Gleich vorweg: Der Handel mit Sexsklaven passt genau in sein Portfolio. Selbst in einem Land, welches zum Teil von Kriminellen gelenkt wird, sticht er als Ausnahmeverbrecher heraus. Wir sind ziemlich sicher, dass er mit dem Transport von Drogen in Asien begonnen hat. Aber er hat schnell expandiert.«
»Was bedeutet das genau?«, hakte Alex nach.
»Neben anderen Dingen soll Dmitri Ivanov den Markt mit gefälschten Lebensmitteln in Russland, den ehemaligen Sowjetstaaten im Kaukasus sowie in Zentralasien beherrschen. Und das könnte er nicht ohne die Billigung seiner Regierung. In den Waffenhandel ist er ähnlich involviert. Wir haben einige Geheimdienstberichte, die nahelegen, dass er beide Seiten im tschetschenischen Krieg beliefert hat. Aber wie mit all unseren Spuren zu Ivanov führen sie letztendlich ins Leere, weil wir nicht einmal so viel wie ein Foto von ihm besitzen.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Alex.
»Er arbeitet über ein Netzwerk an Vertretern. Und je höher sie innerhalb der Hierarchiestufen kommen, desto geheimer werden sie. Ivanov ist nicht der typisch russische Milliardär-Oligarch, der sich gerne in der Öffentlichkeit zeigt. Als Ex-KGB-Agent erweist sich sein Hintergrund ebenfalls als sehr schwer recherchierbar – man kann nicht stoppen, was man nicht sehen kann.«
»Das bedeutet im Klartext, wir können ihn nicht überführen?«, fasste Strobelsohn nach.
Myra Steinhagen schien Luft zu holen. »Jedenfalls nicht, solange er in Russland bleibt. Wie ich bereits erklärt habe: Was wir von Ivanov wissen, ist reines Hörensagen. Wir sind nicht einmal sicher, ob Dmitri Ivanov sein richtiger Name ist. Deshalb überrascht es uns nicht wirklich, dass er erneut jenseits der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion agiert und wir das jetzt erst erfahren.«
Alex trat näher an Strobelsohns Schreibtisch heran. »Können Sie uns einen Kontakt zu einem Agenten oder zu einem anderen Mittelsmann verschaffen, der sich in Russland aufhält?«
»Bis auf Weiteres werde ich Ihr formeller Kontakt zum BND sein«, beeilte sich Frau Steinhagen, zu sagen. »Ich kann für Sie eine Akteneinsicht in unser Dossier zu Ivanov entweder hier in Berlin arrangieren oder wir schicken jemanden zu Ihnen mit den Papieren. Allerdings darf das sensible Material weder fotografiert noch kopiert werden. Informationen, die durchsickern, stellen die größte Gefahr für die Männer und Frauen dar, die sie gesammelt haben.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte Alex. »Wenn Sie die Ressourcen haben, würden wir zu Ihrem Angebot, uns Dmitri Ivanovs Akte ins LKA nach Hamburg zu bringen, nicht Nein sagen.«
»Das ist kein Problem für uns. Morgen Nachmittag könnte jemand bei Ihnen sein.«
»Sollen wir einen Fahrer schicken, der Ihren Kollegen am Flughafen abholt?«, bot Strobelsohn an.
»Das wird nicht nötig sein. Wir werden unseren eigenen Fahrer nehmen.«
»Vielen Dank, Frau Steinhagen.« Strobelsohn ergriff den Hörer. »Ich gehe davon aus, Sie haben meine E-Mail-Adresse. Könnten Sie mir Ihre Kontaktdaten zukommen lassen?« Nach einer längeren Pause sagte er nochmals: »Vielen Dank«, und legte auf.
Alex rieb mit der Hand über sein schmerzendes Kinn. »Es sieht ganz danach aus, dass Sie eventuell doch noch etwas für Bolsen haben werden.«