24
Ich sperrte den Nebenraum der Hotelsuite auf, der bislang verschlossen gewesen war. Dann wandte ich mich Suzanne Carstens zu und machte eine einladende Handbewegung. Zusammen traten wir ein.
Ein helles Zimmer mit drei großen Fenstern, dessen Einrichtung man auf meinen Wunsch hin betont schlicht gehalten hatte: ein schwarzes Ledersofa für zwei Personen, davor ein Couchtisch mit einer Spenderbox Taschentücher, mit zwei Flaschen Mineralwasser und einigen Gläsern. Gegenüber dem Sofa stand ein Sessel, ebenfalls aus schwarzem Leder, und in dessen Reichweite einer dieser üblichen Büro-Rollcontainer in Grau.
Suzanne Carstens zögerte. Sie blieb unschlüssig stehen und blickte sich um.
»Sie nehmen am besten auf dem Sofa Platz«, sagte ich. »Der Sessel ist für mich.«
Wir setzten uns.
Ich hatte die Möbel so hinstellen lassen, dass ich das Licht im Rücken hatte, um keine Gefühlsregung meiner Klientin zu übersehen. Ich musterte sie. Sie schien aufgeregt.
Das war verständlich. Eine neue Umgebung, eine neue Situation. Sie wusste nicht, was auf sie zukam.
Ihre Blutergüsse hatten sich zurückgebildet. Doch sie selbst war noch immer viel zu blass. Eine hübsche Frau, jung und attraktiv. Ein ausdrucksstarkes Gesicht. Naturblondes Haar, auffallend dunkle Augen, hohe Wangenknochen. Eine zierliche Nase. Mein Blick blieb daran hängen. Die Schwellungen waren fast vollständig abgeklungen. Dadurch trat die Stelle, an der ihre Nase früher einmal gebrochen gewesen war, deutlicher zutage.
Ich lächelte. »Sie haben in den anderen Räumen etwas mehr Luxus. Hier soll uns nichts ablenken.«
Sie bewegte kurz den Kopf und meinte: »Gefällt mir.«
Ich beugte mich zum Rollcontainer, rüttelte an der mittleren Schublade. Sie gab nicht nach. Ich holte erneut den Schlüsselbund aus der Tasche und benutzte ihn. In dem Fach lagen ein Block und Stifte. Ich nahm ihn zusammen mit einigen bunten Finelinern heraus.
Aufmerksam verfolgte Suzanne Carstens jede meiner Bewegungen.
»Das Schränkchen enthält meine persönlichen Sachen«, sagte ich. »Schreibutensilien und Medikamente – falls Sie welche brauchen sollten.«
»Ich bin nicht krank«, sagte sie. »Ich brauche keine Tabletten.«
»Die sind auch nur zur Sicherheit da.« Ich lehnte mich zurück. »Und? Haben Sie gut geschlafen?«
Sie nickte. »Doch. Habe ich.«
»Was ist mit der Versorgung im Hotel? Sind Sie mit dem Service zufrieden?«
»Mein Frühstück habe ich mir bringen lassen. Aber vielleicht gehe ich zum Abendessen in den Speisesaal.«
»Schön«, sagte ich.
Sie lächelte unsicher.
»Also«, begann ich. »Das Zimmer hier, die Zeit, die wir gemeinsam verbringen – das gehört uns
allein.«
Eine leichte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus.
»Meinen Namen kennen Sie bereits«, fuhr ich fort. »Ich heiße Evelin Wolf. Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen. Ich habe an der Universität Psychologie studiert, war dann eine Zeit lang weg und bin froh, dass ich wieder in meiner Heimatstadt bin.« Ich machte eine Pause. »Und Sie?«
»Ich bin auch in Hamburg geboren«, sagte sie.
»Da haben wir etwas gemeinsam«, stellte ich fest.
Das reichte nicht, um ihre Unsicherheit zu zerstreuen.
»Meine Aufgabe ist es, Ihnen dabei zu helfen, Ihre Erinnerung wiederzufinden. Das ist mein Ziel. Das ist auch Ihr Ziel, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte sie mir zu, allerdings erst nach einigem Zögern.
»Gut. Darauf werden wir hinarbeiten.«
»Wird das schwierig werden und lange dauern?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Lassen wir uns überraschen. Als ersten Schritt muss ich Sie besser kennenlernen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wie denn, wenn ich vieles vergessen habe?«
»Schritt für Schritt«, sagte ich. »Fangen wir doch mit dem an, was Sie noch wissen.« Ich schob ihr den Block und die bunten Filzstifte zu.
Skeptisch betrachtete sie die Malutensilien.
»Ich möchte gerne, dass Sie mir Ihr Haus malen.«
»Sie wollen ein Bild? Ich kann nicht gut malen.«
»Da habe ich mich wohl falsch ausgedrückt«, sagte ich. »Ich meinte eher einen Grundriss, wie ein Architekt ihn anfertigen würde. Eine Skizze von Ihrem Haus in Blankenese.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein. Das kann ich nicht, und das will ich nicht.«
»Das ist in Ordnung. Sie müssen gar nichts. Aber es geht mir bei meiner Bitte nicht um Genauigkeit. Ich will nur einen allgemeinen Eindruck von dem Ort gewinnen, an dem Sie aufgewachsen sind. Den ungefähren Zuschnitt
der Zimmer, die Möbel, die darin stehen – Sachen in der Art. Glauben Sie, das könnten Sie hinkriegen?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Ganz allgemein, schon.«
»Und wenn Sie den allgemeinen Plan fertig haben, könnten Sie mir markieren, wo Sie sich als Kind besonders wohlgefühlt haben.«
»Das Haus hat drei Stockwerke«, sagte sie.
»Hm«, machte ich.
»Und einen Keller.«
»Hm«, machte ich erneut.
»Den Keller zeichne ich nicht.«
»Wie Sie wollen«, sagte ich.
»Dann nehme ich das Erdgeschoss.«
»Prima.« Ich nickte ihr aufmunternd zu.
Sie setzte sich auf die Kante der Couch, wählte einen blauen Fineliner und schlug den Block auf. Ihre Brust hob und senkte sich. Dann begann sie zu arbeiten: lange, klare Striche. Im Nu hatte sie den Plan fertig. Sie legte ihren Stift weg, suchte sich einen braunen und widmete sich dem Mobiliar. Sie malte Kreise, Vierecke und Rechtecke. Nach einer Weile hörte sie auf.
»Das ist das Erdgeschoss?«, fragte ich.
»Ja.« Sie nickte.
»Könnten Sie es mir ein bisschen erläutern?«
Sie sah mich groß an.
»Ich war noch nie bei Ihnen zu Hause«, erklärte ich ihr. »Ich kann die Zimmer erkennen, aber ich habe keine Ahnung, wozu die einzelnen Räume dienen. Und ich sehe zwar die Umrisse der Möbel, doch ob es sich dabei um Tische oder Sofas oder Schränke handelt, weiß ich ebenfalls nicht.«
»Soll ich es Ihnen beschriften?«
»Was halten Sie davon, wenn Sie darauf deuten und es mir sagen. Dann komme ich schon zurecht.«
»In Ordnung.« Sie überlegte kurz und tippte mit dem Finger auf das Blatt. »Das ist die Küche.«
Ich beugte
mich vor. »Aha. Ganz schön groß.«
»Ja. Zwei Herde. Ein riesiger Kühlschrank. Und hier steht ein Tisch mit sechs Stühlen.«
»Wo saßen Sie immer?«
Sie deutete auf einen Kreis neben der Tür. »Dort. Ich habe der Köchin zugeschaut, wenn sie Kuchen gebacken hat. Sie hat mich vom Teig naschen lassen.«
»Eine eigene Köchin?«
»Ja. Frau Jensen. Ihr Marmorkuchen ist der beste.« Sie lächelte, und ich konnte erkennen, dass die Anspannung ein Stück weit aus ihrem Gesicht gewichen war.
»Super«, sagte ich. »Was ist daneben? Das Esszimmer?«
»Das ist hier.« Sie wies auf eine andere Stelle des Plans.
Sorgfältig arbeiteten wir uns durch die Zeichnung. Sie erklärte mir Raum für Raum, zeigte mir ihren Platz vor dem Fernseher, den großen Kamin im vorderen Wohnzimmer, der nie benutzt wurde, die Terrassentür. Gelegentlich gab sie mir Erläuterungen, erzählte mir von kleinen Vorkommnissen, Belanglosigkeiten und Besonderheiten, die sie mit den Orten verband.
Nicht ein einziges Mal erwähnte sie ihren Großvater.
Schließlich waren wir fertig.
»Was ist mit Ihrem Zimmer?«, fragte ich.
Ihr Blick verschattete sich. »Das liegt im ersten Stock.«
»Natürlich«, sagte ich. »Wie dumm von mir.«
Mit einem Mal wirkte sie seltsam verschlossen, fast ablehnend.
Ich hob das Blatt hoch und blickte anerkennend darauf. »Jetzt habe ich schon einen prima Eindruck von Ihrem Zuhause. Herzlichen Dank, dass Sie sich so viel Mühe gemacht haben.«
Ich legte die Zeichnung zurück auf den Couchtisch, genau in die Mitte zwischen uns. »Wenn ich Sie jetzt fragen würde, was in dieser Etage Ihr absoluter Lieblingsplatz gewesen ist, was würden Sie dann spontan antworten?«
Ohne zu zögern, tippte sie mit dem Finger auf das Blatt.
»Und das ist?«, hakte
ich nach.
»Die Treppe.« Sie betonte es so, als wäre das selbstverständlich, als müsste ich nachvollziehen können, warum sie gerade diesen Fleck besonders mochte.
Ich zog eine Augenbraue hoch und nickte bestätigend. »Die Treppe.«
Sie holte zufrieden Luft und lehnte sich zurück.
Ich sah auf meine Uhr. »Damit sind wir für heute fertig.«
»Das war alles?«, fragte sie erstaunt.
»Das war enorm viel«, erwiderte ich. »Und Sie haben die Sache sehr gut gemacht.« Ich hielt inne. »Haben Sie vielleicht noch eine Frage an mich?«
»Ja.« Sie schlug die Augen nieder. »Gestern, da haben Sie einen Namen genannt. Peter … Peter Westphal.«
»Das ist richtig.«
»Ich habe darüber nachgedacht. Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Wie schön«, sagte ich. »Ihre Erinnerungen kehren langsam zurück. Wenn Sie an den Namen denken, wie ist dann Ihr Gefühl?«
»Gefühl?«
Ich sah sie abwartend an.
»Gut«, erwiderte sie nach einiger Zeit entschieden. »Ich habe ein gutes Gefühl bei dem Namen. Ich mag ihn.«
Ich erhob mich. »Positive Erinnerungen kommen immer zuerst zurück.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
»Dann freue ich mich schon auf die nächste Sitzung«, sagte sie.