30
Das Taxi rumpelte über Kopfsteinpflaster. Mit jedem Holpern spürte Alex den Blitz einer Leuchtkugelgranate, wie sie hoch am Himmel beim traditionellen Feuerwerk des alljährlichen Hafengeburtstags explodierte. Er hatte einen Kater und ihn beschäftigten konfliktträchtige Themen: sein Traum, Evelin und seltsamerweise selbst Vanessa vermischten sich mit den Fragen, die er dem Manager des Pink Playhouse und dessen Strafverteidiger stellen wollte, wenn sie sich gleich nachher im LKA zu dem vereinbarten Gespräch treffen würden. Gerade dachte er darüber nach, dass er dringend einen freien Tag brauchte, als das Taxi vor dem Poseidon zum Stehen kam.
Alex stieg aus. Sein Blick streifte Evelins Auto, das am Flussufer parkte. Diesmal war er früher dran als sie. Was sie jetzt wohl tat? Saß sie etwa in diesem Moment ebenfalls in einem Taxi und war auf dem Weg hierher? Wenn er nur kurz wartete, könnte er sie vielleicht abpassen und…
Und was? , dachte er sich. Hallo sagen?
Das Telefon in der Innentasche seines Sakkos begann zu vibrieren. Er nahm es heraus.
»Gutenberg.«
»Strobelsohn. Guten Morgen.«
»Guten Morgen.« Alex hatte seinen BMW erreicht. Mit der freien Hand fischte er den Schlüsselbund aus der Jacke und presste den Knopf für die automatische Entriegelung. »Ich bin im Begriff, zu Ihnen ins LKA zu kommen. Was gibt’s?«
»In die Carstens-Villa wurde eingebrochen.«
»Was?« Alex, der soeben die Wagentür aufmachen wollte, stoppte inmitten der Bewegung; unbeholfen blieb seine Hand ausgestreckt in der Luft hängen.
»Ja«, brummte Strobelsohn. »Ich bin vor Ort zusammen mit der Spurensicherung. Es muss passiert sein, nachdem Sie und Frau Dr. Wolf gestern hier gewesen sind.«
Alex zog an der Türklinke und stieg ein. »Ich komme.«
Er startete den Wagen, aktivierte die Freisprechanlage und fuhr an.
»Danke«, sagte Strobelsohn.
»Noch eine Sache.« Alex’ Stimme senkte sich vertraulich. »Was machen wir mit dem Manager vom Pink Playhouse und seinem Anwalt? Absagen?«
»Das übernimmt Henrik. Ich habe mit ihm die Einzelheiten heute Morgen durchgesprochen. Er wird die üblichen Fragen stellen.«
»Gut. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
Alex fädelte sich in den Verkehr ein. Während er beschleunigte, um auf die Überholspur zu wechseln, gingen ihm neue Gedanken durch den Kopf. Sie alle drehten sich um den Einbruch. Wer hatte es riskiert, über das polizeiliche Absperrband zu klettern? Waren es die Mörder gewesen, die zurückkommen mussten, weil sie etwas vergessen hatten? Falls ja, wonach hatten sie gesucht? Und noch wichtiger: Hatten sie es gefunden? Oder konnte es sein, dass irgendein unbeteiligter Dritter in der Zeitung von den Morden gelesen und die Gelegenheit genutzt hatte, das leer stehende Haus auszurauben ?
Wer auch immer das getan hatte: Alex hoffte, dass der oder die Einbrecher diesmal schlampiger vorgegangen waren und belastende Beweise hinterlassen hatten, denn sein Fall begann, kalt zu werden. Er und seine Kollegen kamen nicht weiter. Es schien ihm, als würden sie auf der Stelle treten.
Die Ampel vor ihm sprang auf Rot. Er hielt an und trommelte ungeduldig mit seinen beiden Zeigefingern auf das Lenkrad. Gestern, nachdem Evelin und er die Villa besichtigt hatten, äußerte sie beim Verlassen des Gebäudes ihr Gefühl, sie würden beobachtet. Konnte es sein, dass jemand das Haus in ihrem Beisein ausgekundschaftet hatte?
Zwanzig Minuten später verließ er die Autobahn und navigierte direkt zu dem Teil von Blankenese mit den riesigen Grundstücken und den englischen Rasen. Alex musste zugeben, dass hier eine völlig andere Bevölkerungsschicht lebte. Diese gesellschaftliche Stufe würde ihm für immer verwehrt bleiben. So gesehen war die Frage, ob er sich hier wohlfühlen könnte oder nicht, eigentlich irrelevant.
Insgeheim eher menschenscheu und zurückhaltend, hatte er stets die Geisteshaltung von Groucho – einem der vier Marx Brothers – bewundert. Dieser hatte wiederholt gespottet, dass er niemals einem Club beitreten würde, der ihn als Mitglied haben wollte.
Entsprach das der Wahrheit? Hatte Alex es ebenfalls nicht nötig? Oder redete er sich das nur ein wie in der Geschichte um die berühmt-berüchtigten sauren Trauben, weil er in seiner Kindheit als Außenseiter nie gebeten worden wäre, mitzumachen? Er schüttelte den Kopf und schnaubte leise, beinahe verächtlich.
Die Straße schlängelte sich in einer weiten Kurve, und er erhaschte einen Blick auf die Rückseite der Carstens-Villa. Mit einem Mal war er sich sicher, dass er mit vielen der hier lebenden Menschen niemals würde tauschen wollen.
Bei reiflicher Überlegung galt das für sie alle.
Er parkte beim Zufahrtstor und wurde von der gleichen Szenerie empfangen wie vor vier Tagen. Obwohl dieses Mal nur halb so viele Dienst- und Einsatzwagen herumstanden, wirkte der Ort doppelt so gespenstisch. Als ob ein Teil des Bösen, das hier geschehen war, aus dem Gebäude herausgesickert wäre und das Gelände förmlich durchtränkt hätte.
Strobelsohn stand am Straßenrand. Sobald Alex die Autotür zuschlug, trat der Oberkommissar an seine Seite.
»Guten Morgen«, sagte Strobelsohn.
Sie schüttelten sich die Hände.
»Was ist passiert?«, fragte Alex, während sie sich auf den Weg zur Villa machten.
»Jemand hat sich durch den rückwärtigen Bediensteteneingang Zutritt verschafft und ist offenbar direkt zu einem Safe, den wir übersehen haben.«
Alex blieb stehen und musterte Strobelsohn. »Ein Tresor? Wo?«
»Im vorderen Wohnzimmer. Im Kamin, um genau zu sein.«
»Ungewöhnlicher Platz für einen Safe. Kein Wunder, dass die Feuerstelle so unbenutzt gewirkt hat. Haben ihn die Einbrecher aufbekommen?«
Sie setzten sich erneut in Bewegung, stiegen die Stufen zur Eingangstür empor und betraten das Foyer.
»Ja«, antwortete Strobelsohn. »Unser Dieb hat keine Zeit damit verplempert, das Schloss zu knacken. Stattdessen hat er die Stahlbox aus ihrem Versteck in der seitlichen Kaminverkleidung einfach herausgerissen. Der oder die Einbrecher haben dafür einen nagelneuen Vorschlaghammer benutzt, den sie mitgebracht und an die Wand gelehnt zurückgelassen haben.«
Sie durchquerten den weitläufigen, aber düsteren Vorplatz. Ein Mitglied des Spurensicherungsteams kam ihnen entgegen und eilte vorbei Richtung Ausgang.
»Vielleicht lässt sich der Kauf nachverfolgen«, sagte Alex.
Strobelsohn zuckte zweifelnd mit den Schultern. »Daran hatte ich ebenfalls schon gedacht. Wenn auch noch die Quittung dagelegen hätte, wäre ich überzeugt, dass das alles hier absichtlich platziert worden ist, um uns von unserer nicht vorhandenen Fährte abzulenken.«
»Das klingt, als ob die Einbrecher wüssten, wo sie suchen mussten. Demnach sollten wir einen neugierigen Trittbrettfahrer ausschließen.«
»Und … den Einbrechern war egal, dass sie Lärm verursacht haben. Nachdem sie den Kamin in Stücke geschlagen hatten, haben sie Sprengstoff an den Scharnieren des Tresors angebracht, um an den Inhalt zu gelangen.«
Strobelsohn führte Alex ins vordere Wohnzimmer. Alex blieb für einen Moment stehen und sah sich um. Putz und dunkelrote Mauerbrocken bedeckten das Parkett, welches aus heller Eiche und Intarsien aus Walnuss bestand. Der vormals polierte Hartholzboden hatte tiefe Kratzer und Dellen, wo die Steine gelandet waren. Die verbeulte Tür des Tresors lehnte an einem der Fenstersimse. Und über der Feuerstelle selbst befand sich ein neues gähnendes Loch an ungefähr der Stelle, an der man einen Kamineinsatz einbauen würde.
Ein Polizeifotograf schoss unzählige Bilder. Jedes Mal, wenn er den Auslöser seiner Kamera berührte, ertönte das typisch-künstliche Klicken, das dem Schließen einer mechanischen Blende ähnelt. Zwei von Strobelsohns Kollegen der Spurensicherung suchten vorsichtig und gewissenhaft jeden Zentimeter des Raumes nach Fingerabdrücken ab.
»Ich nehme an, wir wissen nicht, was fehlt?«, fragte Alex.
»Nein. Wir haben keine Ahnung, was geraubt wurde, aber…«
»… was die Einbrecher zurückgelassen haben, ist interessant?«, beantwortete Alex den Satz mit einer rhetorischen Frage.
»So könnte man es ausdrücken!« Strobelsohn bedeutete Alex mit einem Kopfnicken, dass er sich lediglich umdrehen müsse. Alex wandte sich in die Richtung, und dort, ausgebreitet auf einer Kommode, lag eine Ansammlung von Gegenständen, die im Safe gefunden worden waren.
Gemeinsam gingen sie hinüber, um die Sachen näher zu begutachten .
Strobelsohn ergriff einen Packen beschrifteter Aktenhefter. Er machte Alex auf drei davon aufmerksam. Sie trugen den Namen der Mordopfer Alistar Grauel, Big Karl Marten und Dr. Schilling, der Rest die von lokalen Berühmtheiten und prominenten regionalen Politikern.
»Was enthalten die Ordner?«, fragte Alex Strobelsohn. »Haben Sie nachgesehen?«
»Ich habe sie auf die Schnelle durchgeblättert. Es sieht so aus, als ob Björn Carstens belastende Informationen über jeden von ihnen gesammelt hätte.«
»Wirklich?« Alex’ Neugier war geweckt.
Aus dem Augenwinkel heraus erregte ein Glitzern seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich hinunter und entdeckte zwei transparente Kristalle, die neben einem schwarzen Samtbeutel lagen. Sie schienen von exquisitem Schliff zu sein, denn sie brachen funkelnd das Licht, das auf sie fiel.
»Diese beiden Edelsteine, sind das Diamanten?«, erkundigte er sich bei Strobelsohn.
»Ja. Ich nehme an, dass sich in dem Beutel mehr befunden haben und der Einbrecher diese zwei in seiner Eile übersehen hat.«
»Das könnte sein.«
Strobelsohn reichte ihm vorsichtig einen anderen kleinen Beutel. »Wissen Sie, was das ist?« Er wartete Alex’ Antwort nicht ab, sondern fuhr ohne Pause fort: »Darin befindet sich der zweite Manschettenknopf, der zu dem passt, den Björn Carstens umklammert hielt.«
»Oh?« Alex inspizierte das Beweismittel. »Das wird immer seltsamer.«
Er streckte die Hand nach einer Holzkiste mit angelaufenen Messingriegeln aus. »Was haben wir hier?« Aus der Innentasche seines Jacketts holte er einen Kuli heraus, zog den Riegel der Kiste zurück und hob den Deckel mithilfe des Stiftes an. »Leer. Welches Waffenmodell wurde hier aufbewahrt?«
Strobelsohn bedachte Alex mit einem verwunderten Blick. »Jeder hier denkt, dass es eine Walther P 38 war. Wenn Sie genauer hinsehen, können Sie die typische Form der Pistole in den Ölrückständen auf dem Samt erkennen. Das schließt die meisten anderen infrage kommenden Waffen aus. Und die Waffe muss verziert gewesen sein. Auch das Muster der Gravur hat sich in den Stoff eingedrückt.«
Alex kniff die Augen zusammen. »Eine Neunmillimeter. Es könnte sich um unsere fehlende Mordwaffe handeln.«
»War auch mein Gedanke«, meinte Strobelsohn.
Alex blickte sich im Raum um. Der Fotograf schien mit seiner Arbeit fertig zu sein. Er war dabei, seine Kamera wegzupacken.
»Hat jemand gesehen, was passiert ist?«, fragte Alex.
»Nein. Jedenfalls nicht die Bewohner der umliegenden Häuser, die wir angetroffen haben. Niemand von ihnen hat etwas mitbekommen.«
»Was ist mit den Überwachungskameras des direkten Nachbarn?«
Strobelsohn schüttelte den Kopf. »Das war das Allererste, was ich heute früh gecheckt habe. Zu unserem großen Pech sind die Besitzer dem Rat umgehend gefolgt und haben den Aufnahmewinkel der Kamera verändert.«
»Scheiße«, murmelte Alex zu sich selbst. Und an Strobelsohn gewandt: »Wir schaffen in dem Fall einfach keinen Durchbruch. Wir tun das Richtige und hinterher stellt es sich als falsch heraus.«