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»Warum, glauben Sie, hat Suzanne Carstens’ Zimmer keinerlei persönliche Note?«, fragte Strobelsohn, während sie sich auf den Rückweg ins Erdgeschoss machten. »Die meisten jungen Leute in ihrem Alter und besonders mit ihrem Geld würden sich bei der Einrichtung und Dekoration austoben – wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Stimmt«, sagte Alex. »Diese Räumlichkeiten passen eindeutig nicht zu der Enkelin eines Millionärs – obwohl Björn Carstens’ Suite anscheinend vom gleichen Innenarchitekten gestaltet worden ist. Aber die vermittelt einen weitaus bewohnteren Eindruck. Suzannes Zimmer hingegen verströmt den Schaufenstercharme eines Kaufhauses.«
»Im gesamten Haus steckt nicht viel Persönlichkeit. Der Wohnbereich im Erdgeschoss sieht aus, als würde er aus einem Katalog stammen: dem Scotch-und-Soda-Führer für Landhausmöbel«, spottete Strobelsohn. »Und Suzanne Carstens selbst scheint nur den billigsten Modeschmuck zu tragen. Vermutlich legt sie keinen Wert auf teure Ketten und Ringe.«
»Möglich«, sagte Alex.
»Oder es ist ihr Stil, mit dem sie gegen ihre gesellschaftliche Position rebelliert«, fuhr Strobelsohn fort. »Sie hält es nicht für notwendig, den Vorsitz in irgendeinem gemeinnützigen Verein zu übernehmen, es ist okay für sie, außerhalb des Scheinwerferlichts zu stehen … von Gleichaltrigen anerkannt zu werden, könnte für sie wichtiger sein.«
»Das wäre eine denkbare Erklärung«, meinte Alex.
Die zwei Männer waren im Foyer angelangt, und Strobelsohn blieb stehen.
»Was ist los?«, fragte Alex.
Strobelsohn kratzte sich an der Schläfe. »Diese Verbindungstür geht mir nicht aus dem Sinn. Ich weiß, die Villa ist alt. Damals hat man überall Durchgänge eingebaut. Aber man sollte doch meinen, Suzanne Carstens würde ihr Bad abschließen wollen. Vor allem, wenn ich daran denke, dass der Butler die Beziehung zwischen ihr und ihrem Großvater als distanziert beschrieben hat.«
Eine junge Frau von der Spurensicherung lief an ihnen vorbei und grüßte stumm in ihre Richtung. Sie trug einen Karton mit den Akten aus dem Safe.
»Einen Moment bitte«, hielt sie Alex auf.
Sie schaute ihn fragend an.
»Gutenberg, Oberstaatsanwalt«, stellte er sich vor. »Müssen Sie die Ordner jetzt gleich ins Labor zur weiteren Untersuchung bringen oder wäre es möglich, sie hier zu lassen, damit wir mit der Durchsicht beginnen können?«
Sie zögerte, aber nur kurz. Dann lächelte sie und streckte ihm die Kiste entgegen. »Eine Stunde, sonst kriege ich Ärger. Wir haben die Fingerabdrücke zwar bereits abgenommen, doch ziehen Sie bitte trotzdem etwas über. Und ich brauche die Sachen wieder, wenn ich gehe.«
»Eine Stunde«, wiederholte Alex. »Vielen Dank.« Er lächelte seinerseits und nahm ihr die Schachtel ab.
In der Bibliothek angekommen, stellte er die Box auf einen Tisch. Strobelsohn langte in seine Manteltasche und förderte zwei Paar Latexhandschuhe zutage. Er und Alex zogen sie an .
Strobelsohn griff sich den obersten Hefter. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir Hinweise finden.«
»Ich bin gespannt.« Alex suchte sich die Akte, die den Namen des verstorbenen Frauenarztes trug: Hans Schilling.
Er begann zu lesen, hielt inne und runzelte die Stirn, bevor er sich erneut in das Dossier vertiefte. Hastig blätterte er weiter.
»Wow«, murmelte er.
Strobelsohn sah von seinen Dokumenten auf.
Alex tippte mit dem Zeigefinger auf die Papiere vor ihm. »Unglaublich. Laut diesen Berichten war Hans Schilling nicht der, für den er sich ausgab.«
»Sondern?«
»Angenommen, diese Kopien sind echt, hat Schilling eine falsche Identität benutzt. Hier steht, dass er mit richtigem Namen Eberhard Schindel hieß. Und er soll seine Zulassung vor rund fünfundzwanzig Jahren verloren haben.«
»Er durfte nicht mehr praktizieren?«, hakte Strobelsohn nach. »Dann muss etwas Ernstes passiert sein.«
»Er wurde beschuldigt, illegale Abtreibungen durchgeführt zu haben. Eine der Frauen, eine junge Prostituierte, ist fast verblutet. Das war in …« Alex beugte sich erneut über die Akte. »Genau. Hier steht es … Das war in Leverkusen. Nach außen hin führte er eine erfolgreiche Praxis für Gynäkologie. Und im Geheimen betätigte er sich als Engelmacher.«
»Wurde er angeklagt?«
»Ja.« Alex nickte. »Er wurde zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt.«
»Eberhard Schindel aus Leverkusen.« Strobelsohn zog sein Smartphone aus der Tasche und gab den Namen ein. »Ich überprüfe das nachher.«
»Unbedingt!«, erwiderte Alex. »Schilling beziehungsweise Schindel soll sich der Strafe entzogen haben, indem er untergetaucht ist. Und kurze Zeit später hat er hier als Dr. Hans Schilling eine neue Frauenarztpraxis eröffnet. Er nahm nur Privatpatientinnen an.«
Strobelsohn schnaubte. »Lassen Sie mich raten: Er machte mit dem weiter, was er zuvor getan hat.«
»Korrekt. Zusätzlich zu seiner Privatpraxis war er offenbar der Leibarzt von Big Karls Prostituierten. Auf Einzelheiten brauche ich nicht einzugehen, die können Sie sich denken.«
Strobelsohns Gesicht wurde rot. »Das will ich mir nicht vorstellen.«
»Das ist aber noch nicht alles.« Alex’ Ausdruck wurde grimmig. Er hielt ein Foto in die Höhe, damit es Strobelsohn sehen konnte. »Offenbar bevorzugte er blutjunge Mädchen. Es gibt rund zehn weitere, ähnlich widerwärtige Bilder hier drinnen.«
»Was für ein Schwein!«, entfuhr es Strobelsohn. »Sie ist ja noch ein Kind!« Er presste die Lippen zu einem wütenden Strich zusammen, wandte den Blick von der Fotografie ab und atmete mehrmals durch. Erst dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Alex.
Er räusperte sich. »Wurde eines der Fotos im Souterrain der Villa geschossen?«
Alex betrachtete die Bilder erneut. »Nein. Definitiv nicht. Das sind unterschiedliche Orte. Zumindest zwei der Aufnahmen dürften schon lange zurückliegen.«
»Vielleicht aus seiner Zeit in Leverkusen«, erwiderte Strobelsohn. »Bevor sie ihn geschnappt haben.« Er machte eine Pause. »Schilling musste über weitreichende Kontakte verfügt haben und bestens vernetzt gewesen sein. Es ist nicht einfach, all die erforderlichen Dokumente, Urkunden und Papiere zu bekommen, um eine Frauenarztpraxis zu eröffnen. Dazu braucht es mehr als einen dahergelaufenen Wald-und-Wiesen-Fälscher.«
»Viel mehr.« Alex schloss den Ordner, legte ihn auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Und ich wäre sehr überrascht, wenn unser hochangesehener Björn Carstens dabei nicht seine Finger im Spiel gehabt hat.«
Die Männer schwiegen eine Weile. Dann fragte Alex: »Was haben Sie gefunden? «
Strobelsohn klappte das Dossier, mit dem er sich beschäftigt hatte, weit auf. Er hielt es Alex hin, um ihn die mit Briefklammern befestigten Fotografien sehen zu lassen.
Alex konnte die erste Aufnahme nicht sofort zuordnen. Dann wurde ihm bewusst, dass sie einen wesentlich jüngeren Big Karl zeigte. Big Karl beugte sich gerade über eine zerbrechlich wirkende Frau, die ihn mit angsterfülltem Gesicht anstarrte. Er hielt sie mit der linken Hand am Oberarm fest. Ringe blitzten an seiner hocherhobenen Rechten. Er war im Begriff, die bereits massiv verprügelte Frau zu schlagen. Sie war bestenfalls zwanzig. Das Bild darunter bestand aus einer Großaufnahme der Verletzungen ihres Gesichtes. Ihre Augen waren zugeschwollen und von ihrer linken Schläfe führte ein tiefer Schnitt bis hinunter zu ihrem Kiefer.
Der Oberkommissar blätterte eine Seite weiter zu einem Zeitungsartikel mit einer Schwarz-Weiß-Abbildung der gleichen Frau. Sie war tot. Obwohl man sie gesäubert und für das Foto hergerichtet hatte, war es nicht gelungen, ihre Verletzungen vollständig zu überdecken. Die Überschrift lautete: Wer kennt diese Frau ? Und darunter: Die Kriminalpolizei bittet um sachdienliche Hinweise zur Identifizierung der Unbekannten, die vergangenen Monat am Ufer der Elbe gefunden wurde.
»Scheiße«, murmelte Alex. »Sie ist vermutlich nicht die Einzige, die dieser kranke Sadist gequält und getötet hat. Wenn Sie mich fragen, ist er zu leicht gestorben.«
Es kostete Alex einige Willenskraft, bevor er sich die nächste Akte greifen konnte. Alistair Grauel stand in Großbuchstaben auf deren Deckel. Er vertiefte sich in den Inhalt.
Plötzlich spürte er die Anwesenheit einer weiteren Person hinter sich. Er hob den Kopf. Eine Hand in blauem Latex streckte ihm einen Pappbecher entgegen. Die Hand gehörte zu der jungen Mitarbeiterin des Spurensicherungsteams. Sie musste zu einem Coffeeshop gegangen sein, um ihm und Strobelsohn einen frisch gebrühten Kaffee zu besorgen. Während sie den Oberkommissar kaum auch nur eines Blickes würdigte, bedachte sie Alex mit einem ausgesprochen warmen Lächeln.
»Vielen Dank.« Alex atmete hörbar aus. Dann nahm er einen großen Schluck der bitterschwarzen Flüssigkeit und gab ihr das Lächeln zurück.
Ihre dunklen Augen leuchteten auf. Sie strahlte ihn an.
Aus heiterem Himmel musste Alex an Evelin denken. Er rätselte, ob sie von ihm erwarten würde, sich bei ihr zu melden. Sollte er sich mit ihr in Verbindung setzen und sie über den Einbruch informieren? Sie hatten schließlich vereinbart, sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Oder war es nicht besser, zu warten, bis sie ihre Therapiesitzung mit Suzanne Carstens beendet hatte? Letztendlich gab es keinen triftigen Grund, sie zu stören. Suzanne Carstens konnte unmöglich irgendetwas über den Einbruch wissen. Es war wichtiger für Evelin, dahinterzukommen, was in der Mordnacht geschehen war…
Ihm wurde bewusst, dass die junge Beamtin noch immer vor ihm stand. Ihre Körpersprache ließ wenig Zweifel daran, was sie sich erhoffte.
Freundlich, aber betont knapp neigte er den Kopf. »Wir werden eine weitere halbe Stunde zur Durchsicht benötigen.«
Sie verstand sofort. Eine leise Enttäuschung glitt über ihre Züge. Sie nickte schweigend und ging steif aus der Bibliothek.
Alex wandte sich Strobelsohn zu. »Nach Björn Carstens’ Notizen besaß Alistair Grauel ausschließlich legale Unternehmen.«
Strobelsohn langte in den Hefter und griff sich die hintere Hälfte des Dossiers. Er nahm Alex gegenüber Platz und blätterte die Papiere durch. »Anscheinend hat Grauel Gelder durch seine privaten Firmen geschleust. Oder warum sonst hätte Björn Carstens einen Stapel alter Quittungen aufheben sollen? Jede einzelne ist auf einen Betrag zwischen acht- und zehntausend Euro ausgestellt.«
Alex stellte seinen Pappbecher ab. »Die Verbindungen werden langsam, aber sicher deutlicher.«
»Ja«, stimmte ihm Strobelsohn zu. »Big Karl war der Zuhälter, Schilling oder Schindel der Leibarzt der Prostituierten und Alistair Grauel hat sich um die Finanzen gekümmert. Er wusch das Schwarzgeld.« Er kaute an seiner Unterlippe. »Die spannende Frage ist, welche Rolle Björn Carstens dabei gespielt hat.«
»Dank dieser Akten stehen die Chancen nicht schlecht, das herauszufinden«, sagte Alex. »Der Einbruch, der zunächst nach einer weiteren Sackgasse aussah, entpuppt sich als unsere größte Beweisquelle. Ich hoffe, ich bekomme die Gelegenheit, dem Dieb zu danken.«