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Mittagszeit in Hamburg. Ich stand im Stau. Immer, wenn die Ampel an der weit entfernten Kreuzung auf Grün sprang, ging es ein paar Meter vorwärts. Dann war wieder Schluss. Geduld lautete das Motto der Stunde. Ich seufzte.
Peter Westphal … Ich konnte seine Stimme hören: Am Anfang eines Satzes tief, zur Mitte hin wurde die Tonlage höher und gegen Ende senkte sie sich wieder. Es entstand quasi ein natürlicher Klangbogen, wie er immer dann auftritt, wenn man die Wahrheit sagt. Oder aber, wenn man ein geschickter Lügner ist. Die beherrschen das aus dem Effeff.
Zu welcher Sorte gehörte Westphal? Das konnte ich nicht abschließend bestimmen. Noch nicht. Dafür kannte ich ihn zu wenig. Aber rief ich mir seine verräterische Mimik und Gestik ins Gedächtnis zurück, tippte ich eher auf Letzteres. Er hatte etwas zu verbergen.
Und Suzanne Carstens? Wie stand Westphal zu ihr? Er hatte starke Gefühle für sie. Und er hatte Angst um sie. Das war echt. Da war ich mir sicher. Er liebte Suzanne Carstens .
Ein Klingeln der Freisprechanlage schreckte mich aus meinen Überlegungen. Gutenberg las ich auf dem Display.
»Ja?«, meldete ich mich. Nicht sonderlich aussagekräftig, und schon gleich gar nicht originell. Aber das förmliche Wolf kam mir unpassend vor.
»Evelin? Hier Alex.«
Verdammt , schoss es mir durch den Kopf. Das mit dem Duzen war vielleicht doch keine so gute Idee von Georgios. Professionelle Distanz geht anders.
Trotzdem fühlte sich diese neue Vertrautheit nicht verkehrt an, sondern ausgesprochen gut. Doppeltes Verdammt .
»Evelin? Hallo?«
»Ja?« Ich riss mich zusammen. »Was gibt’s?«
»Wo bist du?«
»Im Auto. Ich stecke im Verkehr fest.«
»Ist jemand bei dir?«
»Nein. Ich bin allein. Du kannst reden.«
»Hattest du schon die Therapiesitzung mit Suzanne Carstens?«
»Ich bin erst auf dem Weg zu ihr. Heute Morgen habe ich mich spontan dazu entschlossen, Peter Westphal noch einmal allein aufzusuchen.«
»So?« Das klang trocken. Und nicht erfreut. »Hat es dir etwas gebracht?« – betont langsam.
Obwohl ich ihm nicht zur Rechenschaft verpflichtet war, hatte er Anspruch auf eine Erklärung. Wir hatten vereinbart, zusammenzuarbeiten. Wenn das funktionieren sollte, musste jeder von uns mit offenen Karten spielen.
»Ich habe gehofft, dass ich von Westphal etwas erfahre, was ich nutzen kann, um mir einen Zugang zu Suzanne Carstens zu verschaffen«, sagte ich deshalb.
»Und? Warst du erfolgreich?« – jetzt milder.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wird sich nachher zeigen. Ich bin vorsichtig optimistisch.«
Ein erleichtertes Ausatmen. »Schön … Also warum ich anrufe: Bei Carstens hat es einen Einbruch gegeben. «
»Was?« Die Ampel schaltete auf Grün, ich fuhr im Schritttempo an. »In der Villa?«
»Genau.«
»Habt ihr Spuren? Wisst ihr, wer das war?«
»Nein. Bislang nicht. Aber die Diebe haben einen im Kamin versteckten Safe aufgebrochen. Sie haben offensichtlich etwas gesucht. Ob sie es gefunden haben, wissen wir nicht. Jedenfalls haben sie einige brisante Gegenstände zurückgelassen.«
»Welche denn?« Rot. Ich stieg zu abrupt auf die Bremse.
»Das würde jetzt den Rahmen sprengen, das erzähle ich dir nachher ausführlich. Aber wir haben Dossiers sichergestellt, die dürfte der alte Carstens angelegt haben.«
»Dossiers?« Das kam unerwartet. »Von wem?«
»Von VIPs, Politikern und von den drei Ermordeten. Allesamt äußerst belastendes Material. Ich nehme an, es diente zur Erpressung.«
»Eher zur Rückversicherung«, erwiderte ich.
»Rückversicherung? Was meinst du damit?«
»Wenn du Dinge durchsetzen möchtest, ist es nie verkehrt, die Leichen zu kennen, die dein Partner im Keller vergraben hat.«
»Ja. Klar.« Ein tiefes Luftholen von ihm. »Dieser Einbruch verändert die Sachlage grundlegend. Die Morde nehmen möglicherweise eine völlig andere Dimension an.« Er stockte. »Es ist jetzt wichtiger denn je, dass sich Suzanne Carstens erinnert. Wir brauchen ihre Aussage. Dringendst.«
Ich verstand ihn. »Tja«, meinte ich. »Das ist schwer. Sie muss es wollen.«
»Trotzdem. Ich bin kein Psychologe … Aber wenn du irgendwie…«
»Gut«, sagte ich. »Ich lasse mir etwas einfallen. Allerdings kann ich nichts versprechen.«