37
Ein weiterer Tag, der durch einen grauen Himmel zerstört wurde. Das war die immerwährende Krux in Hamburg: Entweder man mochte Wolken oder sie machten einen schnell verrückt. Wenn dir die trübe Witterung auf die Stimmung schlägt, warte eine Weile. Die Sonne wird sich beizeiten wieder zeigen – die Überlebensstrategie schlechthin in dieser Stadt.
Alex interessierte sich nicht für das Wetter, wenigstens regnete es nicht.
Er fuhr auf seinen Stellplatz beim verlassen wirkenden Gebäude der Staatsanwaltschaft, lenkte ebenso unbemerkt in die Parkbucht, wie er kurz darauf die Pforte passierte. Er war mit seiner Arbeit im Rückstand, und unnötiger Bürotratsch würde ihm nicht dabei helfen, ihn aufzuholen. Da war das Protokoll des ersten Verhandlungstages vor Gericht, in dem Fall, den Frau Buchholz übernommen hatte, und natürlich ein ganzer Berg ungeöffneter Post.
Sein Vorzimmer war verwaist. Beim Durchqueren bemerkte er, dass der Bildschirmschoner seiner Sekretärin nicht eingeschaltet war. Er schlussfolgerte, dass sie den Raum gerade erst verlassen haben musste.
Alex betrat sein Büro, machte das Licht an und warf den Mantel achtlos über einen der Stühle der Besprechungsecke. Er setzte sich, um sich zur Abwechslung einmal seinem eigenen Schreibtisch zu widmen.
Nachdem er den letzten Vernehmungsbericht abgezeichnet hatte, fischte er das Handy aus dem Jackett, um Evelin anzurufen. Er war gespannt darauf, Einzelheiten über ihr Gespräch mit Björn Carstens’ Enkelin zu erfahren.
Nach vier Klingeltönen legte er auf. Sie ist bei ihrer Klientin , dachte er sich. Letztendlich ein gutes Zeichen – vielleicht hatte Evelin endlich einen Fortschritt erzielen können. Womöglich fing Suzanne an, sich an die Mordnacht zu erinnern, und konnte ihnen Hinweise geben, die sie so dringend brauchten, um den Fall zu lösen.
Er würde ein wenig warten und es dann erneut bei Evelin versuchen. In der Zwischenzeit gab es für ihn viel zu tun.
Aus dem benachbarten Raum drangen gedämpfte Geräusche zu ihm. Anscheinend war seine Sekretärin an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt.
Alex drückte den Knopf der Sprechanlage. »Hallo, Julia, nicht erschrecken. Ich bin vor einer Weile gekommen, als Sie abwesend waren.«
»Oh! Hallo, Herr Gutenberg! Ich muss gestehen, ich bin soeben ein wenig zusammengezuckt«, erwiderte seine Vorzimmerkraft. »Was kann ich für Sie tun?«
»Würden Sie Frau Buchholz zu mir bitten, sobald sie eine Minute entbehren kann?«
»Selbstverständlich! Und schön, dass Sie wieder da sind.«
Alex wurde bewusst, dass er sein Büro die letzten beiden Tage nicht betreten hatte. Doch er schätzte sein Fehlen nicht als tragisch ein. Denn offensichtlich hatte seine Abwesenheit bei seinen Kollegen nicht zu einer Überlastung geführt.
Er griff nach dem Handy und überprüfte, ob Evelin ihn hatte erreichen wollen. Keine Nachricht. Vermutlich war es zu bald, es erneut bei ihr zu versuchen. Er entschied sich, eine weitere halbe Stunde verstreichen zu lassen.
Ein paar Minuten später betrat Frau Buchholz sein Arbeitszimmer, ohne anzuklopfen. Alex erhob sich rasch in der Absicht, an die Tür zu gehen, ihr die Hand zu schütteln oder … nichts von all dem, denn sie hatte bereits auf dem Stuhl Platz genommen, der auf der gegenüberliegenden Seite seines Tisches stand. Er setzte sich wieder hin, wobei er sich auf peinliche Art nutzlos fühlte.
»Hallo, Herr Gutenberg«, begann die junge Staatsanwältin. »Wie ich erfahren habe, sind Sie seit Neuestem Teil einer SoKo.«
»Wirklich?« Seinem Kenntnisstand nach hatte bislang niemand von der Gründung einer offiziellen Sonderkommission gesprochen. Vielleicht benutzte Julia diese Ausrede, um seine Abwesenheitszeiten zu decken. »Von wem haben Sie das?«
»Aus der heutigen Rundmail der Abteilung«, erwiderte sie.
Alex konnte sich nur einen Mann vorstellen, der so agieren würde: Bolsen . Unbewusst presste er die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
Frau Buchholz sah ihn fragend an. »Sie wirken ein wenig überrascht. Habe ich Ihnen etwas verraten, von dem Sie selbst noch gar nichts wussten?«
»Ja«, gab Alex zu. »Mir war bislang nichts von einer Sonderkommission bekannt. Ich vermute, Sie haben mitbekommen, dass wir momentan in einem Mordfall ermitteln, der viel Aufsehen erregt?«
»Ich habe am Dienstag etwas in den Nachrichten gesehen«, sagte Frau Buchholz, um höflich anzufügen: »Und ich habe angenommen, dass das der Grund ist, warum Sie mir die Gerichtsverhandlung übertragen haben.«
»Ja, und deshalb wollte ich Sie sprechen. Wie ist es gelaufen?«
»Unspektakulär. Die Verteidigung konnte keinen Beweis liefern, wo sich Ihr Mandant zur fraglichen Zeit aufgehalten hat. Dafür hat sie zwei neue Leumundszeugen präsentiert.«
»Ist es für Sie in Ordnung, tiefer in den Fall einzusteigen?« fragte Alex. »Es könnte sein, dass Sie für mich auch die übrigen Verhandlungstage übernehmen müssen.«
Die junge Staatsanwältin lächelte, und über ihr Gesicht zog eine feine Röte. »Selbstverständlich, Herr Gutenberg. Es freut mich sehr, dass Sie an mich gedacht haben.«
»Gerne«, erwiderte er. »Es gibt niemanden in der Abteilung, dem ich das mehr zutrauen würde als Ihnen. Vielen Dank .« Er betonte die beiden letzten Worte auf eine Weise, die einerseits seine Wertschätzung ausdrückte und andererseits verdeutlichte, dass die Besprechung für ihn damit beendet war.
Die junge Staatsanwältin sammelte ihre Unterlagen ein und verließ ihn mit einem stillen Lächeln.
Alex zögerte nicht. Sobald Frau Buchholz die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er sein Smartphone erneut aus der Tasche und drückte auf Wahlwiederholung. Diesmal ließ er es siebenmal klingeln – ohne Erfolg.
Er blickte auf die Uhr. Konnte eine Therapie-Sitzung tatsächlich drei Stunden dauern? War das nicht ein wenig arg lang?
Er scrollte durch seine Anrufliste und tippte eine andere Nummer an.
»Hallo, Herr Strobelsohn. Ich habe da was läuten hören von einer Sonderkommission. Ist das korrekt?«, kam er direkt zum Punkt.
Ein kurzes Schnauben. »Sie haben das ganz richtig verstanden. Ich selbst habe es vor rund einer halben Stunde erfahren. Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, uns vor der Bekanntgabe zu informieren«, gab der Oberkommissar mürrisch zurück.
»Ich nehme nicht an, Bolsen hat damit irgendetwas zu tun?«
Strobelsohn lachte grimmig. »Wie kommen Sie nur darauf?«
»Ist Dr. Wolf ebenfalls mit von der Partie?«
»Ja. Und Henrik. Es ist offiziell. Wir sind nun ein Team.«
»Das freut mich«, sagte Alex wahrheitsgemäß. Er machte eine kurze Pause, bevor er zum eigentlichen Grund seines Anrufes kam. »Wenn wir gerade vom Team sprechen: Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten von Ev… Dr. Wolf?«
»Sie können sie nicht erreichen?«, kam die schnelle Gegenfrage.
»Ja«, sagte Alex und bemerkte im gleichen Moment, dass er besorgter klang, als er beabsichtigt hatte.
»Herr Breiter hat gemeint, sie wollte heute Suzanne Carstens befragen«, erwiderte Strobelsohn. »Sie könnten im Hotel nachfragen, wenn sie nicht ans Telefon geht.«
»In Ordnung. Das werde ich. Danke.« Alex legte auf, nur um gleich darauf Evelins Nummer anzutippen. Diesmal ertönte kein Klingelzeichen, sondern die Mailbox sprang sofort an.
Alex stand auf, langte nach seinem Mantel und warf ihn sich beim Gehen über. Kaum war er in den ersten Ärmel geschlüpft, ruhte seine Hand an der Türklinke.
»Julia, ich bin für den Rest des Nachmittags unterwegs«, teilte er seiner Sekretärin über die Schulter hinweg mit und trat hinaus in den ehrwürdigen Flur der Hamburger Staatsanwaltschaft. Einsam hallte das Geräusch seiner Schritte von den Wänden wider, während er über die Marmorfliesen eilte.
Wieder im Wagen angelangt, betätigte er die Freisprechanlage. »Anruf Dr. Wolf.«
Wie zuvor wurde er von der Mailbox begrüßt.
»Komm schon, Evelin. Wo bist du?«, sagte er laut zu sich selbst, und die quietschenden Reifen seines BMWs hinterließen beim Zurücksetzen ungewollt eine sichtbare Spur in der Parkbucht.
Die Fahrt kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Dann wurde ihm bewusst, dass das am Regen liegen musste, den er bis eben nicht einmal bemerkt hatte. Es goss ungewöhnlich heftig für einen Frühlingssturm, was den Verkehr wiederum stark abbremste. Alex bemühte sich, seine wachsende Besorgnis zu ignorieren. Er schaltete das Radio an, nur, um es nach wenigen Minuten wieder auszuschalten.
Endlich hatte er Suzanne Carstens’ Hotel erreicht. Er stellte den Wagen in die erstbeste Bucht direkt neben dem Behindertenparkplatz, rannte durch den Wolkenbruch in die Lobby und ging schnellen Schrittes an der Rezeption vorbei. Er nahm den Aufzug zum obersten Stockwerk.
Dort stand ein uniformierter Beamter im Gang. Alex wollte ihn passieren, doch der Polizist hielt ihn auf. »Kann ich Ihnen helfen?«
Alex wandte sich ihm zu. »Wo ist die Patientin
»Entschuldigen Sie bitte, Sie sind…?«
Er macht nur seinen Job , dachte sich Alex und sagte: »Gutenberg, Oberstaatsanwalt. Ich arbeite mit Frau Dr. Wolf an diesem Fall.«
Der Polizeibeamte bewegte sich keinen Millimeter. »Einen Moment bitte.« Er drehte sich ab und sprach leise in sein Funkgerät. Vermutlich überprüfte er Alex’ Information.
Alex holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben.
Endlich blickte ihn der Polizist wieder an. »Herr Gutenberg, die Patientin hat das Hotel mit Frau Dr. Wolf verlassen.«
Eine dunkle Vorahnung erfasste Alex. »Und wohin genau sind sie gegangen?«
»Es tut mir leid, Herr Oberstaatsanwalt, aber Frau Dr. Wolf hat es mir nicht verraten.«