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Das Wasser schimmerte bleigrau. Die Wellen hatten Kraft, sie erreichten sicher fünfzig bis sechzig Zentimeter Höhe und trugen Kappen aus weißer Gischt. Überhaupt war es hier draußen nicht wie auf einem Fluss. Die Elbe hatte eine derartige Breite, dass sie eher an das Meer erinnerte – wären nicht links und rechts in weiter Ferne die blassgrünen Uferstreifen gewesen.
Ich saß in der Plicht der Ad Astra – dem Cockpit, das sich bei dieser Art von Kleinkreuzern am Heck befindet. Eine Art tiefer gelegter Bereich im Freien mit zwei gegenüberliegenden Holzbänken und einem Gang in der Mitte, der zur Kajüte führt.
In der Stadt hatte ich es kaum bemerkt. Aber es blies ein harter, schneidender Wind. Er blähte die Segel des Schiffes auf und ließ die Ad Astra pfeilschnell durch die Wogen gleiten.
Bevor wir abgelegt hatten, hatte mir Suzanne Carstens einen Fleecepullover, eine Windjacke mit Kapuze sowie Schal und Handschuhe aufgedrängt, die sie aus einem Stauraum im Unterdeck gezogen hatte. Jetzt war ich froh ü ber die warmen Sachen. Ohne sie hätte ich es vermutlich keine fünf Minuten ausgehalten.
Wir begegneten einem riesigen Frachter, vollbeladen mit bunten Containern, auf dem Weg zum Hafen. Mit sechs Metern Länge war die Ad Astra nicht unbedingt winzig, aber im Vergleich zu dem gigantischen Ozeanriesen kam es mir so vor, als befänden wir uns in einer Nussschale. Keine Vorstellung, die geeignet war, meinem Sicherheitsbedürfnis Rechnung zu tragen und mein Wohlbefinden zu steigern.
Vereinzelt entdeckte ich weiße unruhige Flecken, die ich wegen des großen Abstands nicht deutlich erkennen konnte. Es handelte sich um Jollen und Jachten. Bei dieser insgesamt unfreundlichen Witterung hatte es nur die Hardliner nach draußen verschlagen.
Ab und zu traf mich feiner Sprühnebel vermischt mit richtigen Tropfen. Ich hatte das Gefühl, als würde mir das Gesicht langsam, aber sicher einfrieren. Hinzu kam, dass der Kreuzer schlingerte und tanzte und mein Magen diese Bewegungen nicht besonders mochte. Das war eindeutig nicht mein Sport, obwohl es mir insgesamt besser ging, als ich erwartet hatte.
Bei Suzanne Carstens verhielt es sich völlig anders. Sie saß mir gegenüber. Ihre eine Hand hielt den sogenannten Pinnenausleger, einen Stab, der als Verlängerung des Ruders dient. Versiert steuerte sie das Schiff, während sie in der zweiten Hand ein Seil hatte, über das sie auf mir unerklärliche Weise die großen Segel ausrichtete. Seitdem wir uns auf der Ad Astra befanden, wirkte meine Klientin wie ausgewechselt. Sie war lebendig, ihre Augen leuchteten, sie schien genau zu wissen, was sie tat. Überaus kompetent und konzentriert. Ein ganz neuer Mensch.
Ich hatte darauf gehofft, mich mit ihr unterhalten zu können. Doch das war unmöglich. Der Wind heulte, und wir mussten fast schreien, um uns zu verständigen. Ich beschloss, das Beste aus der Situation zu machen und den schnellen kleinen Törn hinter mich zu bringen. Auf jeden Fall würden Suzanne Carstens und ich hinterher etwas Gemeinsames haben, was uns verband. Darauf würde ich aufbauen.
Urplötzlich traf uns eine Bö. Und noch eine. Das Boot schlingerte und neigte sich stark nach links. Ich klammerte mich am Handlauf fest, der über meinem Kopf angebracht war, und zwang mich dazu, kontrolliert zu atmen.
»Hoppla!«, rief mir Suzanne freudig zu. Sie war bester Laune.
Ich verbarg meine Angst und die aufkeimende Übelkeit so gut ich konnte hinter einem verkrampften Lächeln.
Sie wandte sich mir zu. »Nehmen Sie bitte mal den Pinnenausleger? Ich muss zum Bug, ein Seil festzurren.«
»Okay«, gab ich laut zurück. »Was soll ich tun?«
»Einfach festhalten. So, wie das Ruder jetzt ist. Immer geradeaus.«
Ich packte den Stab. Suzanne stand auf, kletterte geschmeidig auf das seitliche Deck und turnte mit schlafwandlerischer Sicherheit an die vordere Spitze unseres Bootes. Mir war unbegreiflich, wie sie das hinbekam. Nicht ein einziges Mal griff sie an den Handlauf oder stützte sich ab.
Vorn angekommen beugte sie sich hinunter und machte sich an einem Tau zu schaffen, zerrte daran herum. Schließlich hob sie den Kopf und rief mir etwas zu. Wegen des starken Windes verstand ich sie nicht.
Sie rief erneut und winkte mich zu sich. Danach deutete sie zu der Halterung für den Pinnenausleger neben mir.
»Einhaken«, vernahm ich jetzt. Und sie wiederholte diese auffordernde Geste, zu ihr zu kommen.
Mir blieb nichts anderes übrig. Ich fixierte das Ruder. Vorsichtig erhob ich mich. Breitbeinig stand ich da, darauf bedacht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann ergriff ich mit beiden Händen die Reling und stieg auf das Seitendeck. Dabei vermied ich es, auf das Wasser unter mir zu schauen. Stattdessen hielt ich den Blick starr nach vorn zum Bug gerichtet.
Ein Schritt. Zweiter Schritt. Dritter Schritt
Suzanne öffnete den Mund, um mir etwas zuzurufen.
»Vor…«, den Rest hörte ich nicht mehr.
Der Baum, der am Mast befestigt ist und das Großsegel hält, schwang rasend schnell in meine Richtung, traf mich an der Schulter und fegte mich von Bord.
Aufprall auf dem Wasser.
Ich ging unter, spürte zunächst nichts. Dann urplötzlich, schockartig, Eiseskälte. Reflexartig strampelte ich mit den Beinen, mein Kopf kam wieder aus den Fluten. Panisch schnappte ich nach Luft.
Das Heck der Ad Astra zog an mir vorbei.
Ich hatte die Mütze verloren. Meine Haare, mein Gesicht waren nass, und der unbarmherzige Wind schmerzte unerträglich. Gleichzeitig fühlte ich, dass sich meine Kleider vollsogen. Ich begann zu sinken.
Ich strampelte heftiger, breitete die Arme aus, versuchte zu schwimmen. Es gelang mir nur ein paar Züge lang. Die Elbe hatte schätzungsweise fünf Grad, vermutlich sogar weniger. Meine Muskeln begannen sich zu versteifen, das Bewegen fiel mir zunehmend schwerer.
Der Kreuzer mit Suzanne Carstens an Bord entfernte sich immer weiter von mir.
Ich bekam Panik, schlug wild um mich, atmete keuchend und hustete gleich darauf, weil mir Wasser in die Lunge kam. Und ich verstand: Suzanne Carstens war verrückt. Sie hatte in ihrem Wahn ihren Großvater und seine Freunde ermordet. Nun war ich dran. Sie hatte mir die ganze Zeit über etwas vorgespielt, mich auf dieses verdammte Schiff gelockt und jetzt würde sie mich verrecken lassen.
»Ein tragischer Unfall«, würde sie hinterher sagen und dabei ihre dunklen Augen verschreckt aufreißen wie ein Reh im Lichtkegel eines Scheinwerfers. Niemand würde ihr das Gegenteil beweisen können.
Ich war fast nicht mehr in der Lage, mich über Wasser zu halten. Die Ad Astra war nahezu aus meinem Sichtfeld verschwunden. Kein anderes Boot in der Nähe. Ich würde es nicht schaffen…
Die weißen Segel des Kleinkreuzers begannen zu flattern, dann drehte die Ad Astra um, und ich konnte es nicht glauben: Sie kam zurück.