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Es gab nichts mehr, was Alex noch hätte unternehmen können. Er hatte es in Evelins Büro versucht, bei ihr zu Hause und schließlich beim LKA. Er hatte mit Henrik Breiter und Strobelsohn gesprochen. Und dazwischen hatte er immer wieder Evelins Handy angerufen. Ohne Erfolg.
Er nahm an, dass Evelin einen guten Grund hatte, nicht ans Telefon zu gehen.
Seiner Meinung nach war Suzanne Carstens psychisch instabil. Vielleicht gefährlich. Mehr als gefährlich. Verdammt, möglicherweise hatte sie sogar ihren eigenen Großvater umgebracht.
Evelin war allein mit dieser Verrückten. Irgendwo. Und er konnte nicht helfen.
Er entschloss sich, zu Hause zu warten.
In seiner Wohnung angekommen, musste er sich eingestehen, dass er sich Sorgen um Evelin machte. Jetzt, ohne die ganzen Ablenkungen, wurde ihm das umso deutlicher bewusst.
Er schenkte sich einen Whisky ein, setzte sich in seinen Sessel und trank. Die halbe Stadt wusste, dass er dringend mit ihr sprechen wollte. Sobald sie jemand sah oder von ihr hörte, würde derjenige ihr ausrichten, sich mit ihm in Verbindung
zu setzen.
Der Scotch brannte an seinem Gaumen, aber weder bemerkte er es noch schien ihn der Alkohol zu beruhigen. Alex leerte das Glas, stellte es auf den Couchtisch vor sich ab und goss sich erneut ein.
Nach einer Weile spürte er, dass er müde wurde. Die Aufregungen des Tages forderten ihren Tribut. Er blickte aus dem Fenster auf seinen Balkon. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen. Regenwasser rann in Strömen an den Scheiben hinunter.
Er legte den Kopf leicht zurück und schloss die Augen.
Nur für einen Moment
, sagte er sich. Nur für einen winzig kleinen Moment.
Er schlief ein.
Der Traum – er beginnt anders als sonst. Alex steht auf seiner eigenen Terrasse. Der Sturm hat sich mit einem Mal gelegt. Er schaut zurück in den Raum und auf den Sessel, in dem er gerade noch gesessen hat.
Plötzlich öffnet sich die Tür. Ein Fremder kommt ins Zimmer.
Wer ist der Eindringling?,
fragt sich Alex.
Die Goretex-Jacke, die der Fremde trägt, weckt in Alex vage Erinnerungen. Gleich wird er die Gelegenheit haben, herauszufinden, um wen es sich bei dem Fremden handelt, denn dieser tritt zu ihm ins Freie, um ihm Gesellschaft zu leisten.
Und dann erkennt ihn Alex. Er ist es selbst, nur jünger.
Gemeinsam drehen sie sich um, gehen bis ans Geländer heran und sehen über die Stadt. Doch das unter ihnen ist nicht mehr Hamburg. Und der Balkon hat sich ebenfalls verändert – zu einem Aussichtspunkt, der Alex nur allzu vertraut ist.
Alles andere am Traum ist gleich geblieben – die in Längsrichtung verlaufenden Abwasserkanäle und quer dazu die aneinandergereiht stehenden Läden. Es ist leicht, alles von den Dächern hier oben zu überblicken. Deutlich hebt sich eine kaum genutzte Trasse ab, die das Quartier von einem Ende zum anderen durchzieht
.
Auf einem Bazar schaut niemand hoch. Keiner schenkt dir Beachtung. Du kannst den Markt spielend leicht unbemerkt passieren, als wärst du unsichtbar. Es sei denn…
… Der Wind jammert und heult. Laut. Immer lauter. Alex befindet sich nicht mehr auf seinem Ausguck, sondern inmitten der staubigen Straße. Er ist allein. Und der Himmel ist blau. Keine noch so kleine Wolke.
Die Häuser ringsum sind nur Ruinen. Gespenstisch ragen sie in die Höhe. Nirgendwo sichtbare Lebenszeichen, und doch weiß er, dass er beobachtet wird. Aus dem Dunkel heraus sind Augen auf ihn gerichtet.
Seine Rechte krampft sich um den Griff des Sturmgewehrs. Er kann es nicht mehr aufschieben. Er muss hinsehen. Auf den baufälligen Schuppen. Auf die Tür. Auf den Mann, der dort steht – festgenagelt an Händen und Knöcheln.
Die grüne Uniform ohne Abzeichen, die der Mann trägt, weist an vielen Stellen längliche Risse auf. Der Stoff hat sich mit dunkler Feuchtigkeit vollgesogen. Es handelt sich um Blut aus den zahllosen Wunden, die die Messerstiche im Körper des Mannes hinterlassen haben.
Der Mann hebt den Kopf. Das geht nur mühsam und langsam. Er hat helle Augen. Grau, wie die Steine der Häuser. Und sein an sich schwarzes Haar glänzt rötlich im Sonnenlicht. Es ist ebenfalls blutdurchtränkt – so sehr, dass sich Tropfen bilden und ihm über die Stirn und das verquollene, wundgeschlagene Gesicht laufen.
Er kennt den Mann.
Das hätte nicht passieren dürfen! Niemals!
»Alex«, flüsterte der Mann heiser. »Alex. Bitte!«
Die aufgesprungenen Lippen des Mannes formen weitere Worte. Doch Alex kann ihn nicht mehr verstehen. Der Wind setzt erneut ein. Heult und jammert und schreit.
Das ist nicht zum Aushalten! Niemand kann das aushalten!
Alex schreckte hoch. Keuchend saß er vornübergebeugt in seinem Sessel.