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Alex schob den Fahrersitz in die hinterste Position und vergewisserte sich bei Evelin und Suzanne Carstens, dass sie genügend Beinfreiheit hatten. Als er hinters Steuer kletterte, war er überrascht, wie viel Platz der Audi bot. Er justierte nach, indem er mithilfe seines Gewichtes zwei Klicks vorwärts rutschte. Dabei sah er durch den Rückspiegel zu Evelin.
Sie lächelte kurz, bevor sie sagte: »Auf, auf, James! Zum Hotel Atlantic Kempinski.«
Alex lenkte aus der Parkbucht und nutzte die Gelegenheit für einen erneuten Blick in den Spiegel. Einen Moment lang meinte er, Evelin dabei ertappt zu haben, wie sie ihn ihrerseits beobachtete, doch da wandte sie ihre Augen bereits ab.
Sie wirkte entspannt, ebenso wie Suzanne Carstens. Vielleicht hatte Evelin Fortschritte erzielen können und sie würden bald eine Aussage bekommen. Auf alle Fälle schien sich ihre Augenzeugin nicht unwohl zu fühlen, so dicht neben ihrer Therapeutin zu sitzen.
Vor dem Hotel machte Alex Anstalten, mit Evelin und ihrer Klientin auszusteigen. Doch Evelin berührte seine Schulter flüchtig mit der Hand, und er verstand sofort: Sie wollte nicht, dass er sie begleitete.
Widerwillig blieb er im Wagen und wartete voller Ungeduld, während Evelin Suzanne Carstens zu deren Hotelsuite brachte. Er wusste, es gab etwas, was ihm seine Kollegin bislang verschwiegen hatte, und er wollte herausfinden, was tatsächlich auf dem Boot passiert war.
Endlich kam Evelin wieder. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein und fragte: »Sollen wir zurück und deinen BMW holen? Ich habe ihn am Blankeneser Hafen stehen sehen.«
»Ich bin gekommen, weil ich dich fahren wollte. Um dir eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen.« Er zögerte. »Womöglich willst du deine Liste mit den verpassten Anrufen checken. Es könnte sein, dass sich der ein oder andere eventuell Sorgen gemacht hat, als ich gestern Abend wegen dir herumtelefoniert habe.«
»Du hast dir Sorgen gemacht«, stellte sie fest.
Er wollte das an sich nicht zugeben. Was er dachte oder nicht, ging sie nichts an. Aber ihr Blick war ruhig und offen. Seine Antwort schien ihr wichtig zu sein.
»Ja«, hörte er sich sagen.
»Das tut mir leid«, meinte sie leise.
Sie blieben eine Weile still.
Schließlich durchbrach Evelin das Schweigen. »Super Idee von dir, mich zu fahren. Danke.«
Froh über diesen Themenwechsel startete Alex den Audi und steuerte ihn vom Parkplatz.
Erneutes Schweigen.
Er räusperte sich, ohne seine Unruhe unterdrücken zu können. »Also gut. Was verdammt ist passiert?«
»Die Kurzfassung«, erwiderte sie. »Peter Westphal hat mir gestern verraten, dass er Suzanne auf der Ad Astra kennengelernt hat und dass sie eine begnadete Seglerin ist.«
Alex nickte. »Und?«
»Während der Therapiesitzung habe ich das Boot zur Sprache gebracht und das löste eine ganze Flut von Erinnerungen bei ihr aus. Sie fragte mich, ob wir nicht auf einen kurzen Segeltrip gehen könnten. Ich nahm an, das würde dazu beitragen, ein Vertrauensverhältnis zwischen uns aufzubauen. Und wie du gesehen hast, hat das geklappt.«
Alex wartete, falls sie weiterreden wollte. Als sie es nicht tat, sagte er: »Aber da ist noch etwas anderes geschehen, was du mir bislang nicht erzählt hast.«
»Ich bin über Bord gegangen. Ich befürchtete zuerst, sie würde mich sterben lassen. Sie hat mich eines Besseren belehrt. Sie hat die Ad Astra gewendet und mich aus dem Wasser gezogen.«
»Um Gottes willen!« Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße vor ihm konzentrierte. »Du kannst von Glück reden, dass du dir keine Lungenentzündung geholt hast.« Er schaltete in einen anderen Gang und beschleunigte stärker, als nötig gewesen wäre.
Er zwang sich dazu, seinen Fuß ein Stück weit vom Gaspedal zu nehmen.
»Sie hatte warme Kleidung und noch wärmeren Rum im Boot«, fügte sie an. »Ich glaube, ich bin okay.«
Eigentlich schuldete sie ihm eine ausführlichere Erklärung. Sein erster Impuls bestand darin, Evelin ihr leichtfertiges Handeln vorzuwerfen. Aber dann musste er sich eingestehen, dass er dafür teilweise selbst verantwortlich war. Er hatte Evelin am Vortag gebeten, die Dinge voranzutreiben und Suzanne Carstens endlich dazu zu bringen, sich zu erinnern und zu reden. Und streng genommen hatte er nicht nur gebeten. Wenn er ehrlich war, hatte er es von Evelin verlangt.
Er beschloss, Evelins Entscheidung, die Zeugin aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen, nicht zu kritisieren. Stattdessen versuchte er, seine Aufmerksamkeit lieber auf etwaige positive Ergebnisse zu richten.
»Und?« Er atmete tief durch. »Hast du etwas von ihr erfahren können?«
Falls Evelin seinen inneren Aufruhr bemerkt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich hatte gehofft, dass es mir gelingt, unsere Vertrauensbasis auszubauen«, sagte sie. »Was das betrifft, denke ich, dass ich erfolgreich war. Das gemeinsame Erlebnis hat eine Art Harmonie und gegenseitige Wertschätzung zwischen uns geschaffen. Verstehst du?«
»Ja«, erwiderte Alex etwas ruhiger.
»Um genauer zu sein: Suzanne hat mir berichtet, dass ihr Großvater ihre Mutter missbraucht hat. Mir diese Information zu geben, ist ein enormer Ausdruck ihres Vertrauens.«
»Wow.« Alex atmete hörbar aus. »Aber ganz ehrlich: Das überrascht mich nicht. Ich habe nicht viel über Björn Carstens erfahren, was einen guten Geschmack in meinem Mund hinterlässt.«
»Er pfiff nach ihrer Mutter, als wäre sie ein Hund«, sagte Evelin. »Suzanne bricht zusammen, sobald sie jemanden pfeifen hört. Sie war ein kleines Mädchen und fühlte sich hilflos und völlig verängstigt, weil sie nicht in der Lage war, den Missbrauch zu verhindern.«
»Das muss für sie furchtbar gewesen sein«, erwiderte Alex. Er zwang sich dazu, nicht weiter darüber nachzudenken. »Wie auch immer. Das hast du super hinbekommen. Damit haben wir ein mögliches Motiv.«
Sie drehte sich abrupt auf ihrem Sitz herum und musterte ihn. »Alex? Nimmst du an, sie könnte diese Männer ermordet haben?«
Er machte eine vage Handbewegung. »Nein, nicht wirklich. Aber da ist das Nikotin, das wir in den Körpern der Toten entdeckt haben. Das legt nahe, dass jemand aus dem Haus beteiligt war. Und falls nicht alles nach Plan verlief, hätte es in dem Blutbad enden können, das wir vorgefunden haben.«
»Nur kann ich sie mir nicht als Mörderin vorstellen«, erwiderte Evelin. »Sie ist wahnsinnig zerbrechlich.« Sie stockte. »Obwohl sie in einigen Punkten vermutlich lügt: woran sie sich erinnert und wie viel sie vergessen hat.«
»Ich glaube, du wärst überrascht, wozu manche Menschen, die wir meinen zu kennen, fähig sind. Wir kriegen das nur nicht mit, weil sie sich gut darauf verstehen, ihre Leichen im Keller zu vergraben.«
»Das ist wahr«, gab sie ihm recht. »Doch andererseits …« Sie brach ab und sah auf ihre Uhr. »Fast zwei«, murmelte sie mehr zu sich selbst. Sie drehte sich ihm zu. »Hör mal, ich muss meinen Vater besuchen. Ich habe das die ganze Woche vor mir hergeschoben. Aber ich bin am Verhungern. Was hältst du von einem frühen Abendessen bei Georgios?«
Das hatte er nicht erwartet. Plötzlich merkte er, dass er ebenfalls hungrig war. »Klingt gut«, beeilte er sich zu erwidern. »Kann ich Henrik und Strobelsohn Bescheid geben? Ich habe es dir noch nicht erzählt: Wir sind offiziell zu einer Sonderkommission ernannt worden, bis wir die Morde in Blankenese aufgeklärt haben.«
»Wirklich?« Sie lachte leise, aber herzlich. »Vom ersten Tag an, als mich Bolsen dazugebeten hat, war er wild darauf, der Presse den Mörder zu präsentieren.« Sie hielt kurz inne. »Lass es uns machen. Ich reserviere einen Tisch.«
Alex langte in seine Tasche und holte sein Handy heraus. Ohne die Augen von der Straße zu nehmen, drückte er einen Knopf.
»Siri, Anruf Strobelsohn. Und stell auf laut
Es klingelte mehrmals. Dann wurde abgehoben.
»Strobelsohn.«
»Gutenberg, hallo. Ich bin gerade mit Frau Dr. Wolf zusammen, und wir haben vor, zu einem späten Mittagessen ins Poseidon zu gehen. Wäre es möglich, dass Sie und Henrik uns dort treffen … sagen wir: in einer Stunde, gegen drei?« Alex warf Evelin einen fragenden Blick zu.
»Zwei Stunden«, formte sie lautlos mit den Lippen und hob zusätzlich zwei Finger in die Höhe.
»Oder vielleicht eher vier Uhr«, fügte Alex an.
»Vier Uhr? Ja, klar«, dröhnte Strobelsohns Stimme aus dem Lautsprecher des Handys. »Dort können wir die neuesten Entwicklungen durchsprechen und die weiteren Schritte gemeinsam überlegen. Wir werden da sein.«
Alex verstaute sein Telefon in der Tasche. »Reicht dir die Zeit?«
»Sicher. Ich springe schnell unter die Dusche und ziehe mir etwas anderes an und wir können los.« Sie machte eine Pause. »Was ist mit deinem Auto?«
»Das hole ich später. Du willst zu deinem Vater und ich … ich habe ohnehin nichts Besseres zu tun«, erwiderte er sichtlich verlegen.
»Prima.« Aus dem Augenwinkel heraus sah er sie lächeln. »Nimm die nächste Ausfahrt, das ist die kürzeste Strecke zu mir.«