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Alex ließ sich von Evelin den Weg zu ihrem Haus erklären. Er wollte ihr nicht verraten, dass er wusste, wo sie lebte. Denn dann hätte sie vermutlich nachgehakt. Und was hätte er ihr erzählen sollen? Dass er wenige Tage zuvor bei starkem Regen nach einer Schlägerei betrunken zu Fuß zu ihr gelaufen war und nachts gegen zwei oder drei um ein Haar bei ihr geklingelt hätte? Nein, das kam nicht infrage. Also gab er vor, ihre Adresse nicht zu kennen. Das vereinfachte die Dinge – für ihn und damit letztendlich für sie.
Sie waren angekommen. Evelin zeigte auf ein stattliches Gebäude mit einem Krüppelwalmdach.
Seltsam, ihm waren weder die markante Dachform noch das schmiedeeiserne Vorgartentor in Erinnerung geblieben. Wie hatte er die kleine Tür aus Metall vergessen können, die er zwangsläufig passiert haben musste?
Er verzog das Gesicht: Schritt eins: Gib zu, dass du ein Problem hast , sagte er zu sich selbst, während er den Wagen parkte.
Er folgte Evelin zum Eingang, und ihm wurde bewusst, dass ihr Zuhause bei Tageslicht betrachtet einen völlig anderen Eindruck auf ihn machte: steingrau, der vordere Grünstreifen mit einer Hecke eingefasst. Lediglich entlang des Randstreifens der Fahrbahn wuchsen einige Bäume. Es überraschte ihn, wie einladend der englische Rasen ihres Grundstücks wirkte. Das hätte er nicht für möglich gehalten.
Evelin sperrte auf und ging ihm voraus ins Innere.
Sie hielt an, ihr Blick schweifte durch das Wohnzimmer und sie sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: »Ich habe bislang nur das Allernotwendigste auspacken können. Für mehr hat mir die Zeit gefehlt.« Sie wandte sich ihm zu. »Mach es dir trotzdem bequem. Ich bin gleich zurück.«
Mit diesen Worten ließ sie ihn allein.
Sie hatte nicht übertrieben. Im ganzen Raum verstreut standen zahlreiche Umzugskartons. Die meisten von ihnen waren zu und mit jeweils zwei Buchstaben beschriftet: WZ . Lediglich ein paar Kisten im Bereich des Kamins waren geöffnet. Sie enthielten gerahmte Fotos.
Sie hat mit den Erinnerungsstücken angefangen, die ihr wichtig sind , dachte er sich. Kein Wunder, alle Wände waren kahl. Es gab kaum ein Anzeichen dafür, dass das Zimmer überhaupt bewohnt war – bis auf eine Decke und ein Kissen auf dem Sofa, wo sie höchstwahrscheinlich lag, wenn sie Fernsehen schaute.
Ein quietschendes Geräusch aus einer der Rohrleitungen, und er konnte Wasser plätschern hören. Er sah sich weiter um, ging durch einen schmalen Flur und betrat eine helle Küche. Obwohl draußen eine dicke Wolkendecke die Sonne verdeckte, war der allem Anschein nach frisch gestrichene, in einem elfenbeinfarbenen Ton gehaltene Raum lichtdurchflutet. Dazu die typischen Einbauschränke – strahlend weiß, schlicht und doch elegant. Auf der Arbeitsfläche ein benutzter Becher und eine offene Schachtel mit Cerealien. Knusprige Nuggets aus Hafer mit getrockneten Früchten. Daneben eine Schüssel mit etwas Milch und einem Löffel. Alex stellte die Schale ins Spülbecken und wässerte sie. Er nahm die leere Kaffeetasse und schwenkte sie aus.
Die Kanne stand noch auf der Warmhalteplatte. Er schüttete den restlichen Inhalt weg und säuberte deren Glaswä nde mit einem Schwamm und Pril, die er am Rand des Spülbeckens fand. Er öffnete den Hängeschrank darüber und entdeckte Filter und einen Vorratsbehälter mit Kaffee. Er füllte sechs Tassen in die Maschine, fügte vier gehäufte Portionslöffel Pulver hinzu und drückte auf den kleinen Kippschalter. Was Evelin betraf, war er sich nicht sicher, aber er fühlte die Nachwirkungen der vorangegangenen Nacht. Koffein würde sie vertreiben.
Sie duschte noch immer. Er kehrte zu den Fotos auf dem Kaminsims zurück. Ein Bild lag mit dem Gesicht nach oben. Es zeigte eine etwa achtzehnjährige Evelin. Er hob die Aufnahme hoch, um sie genauer zu betrachten. Wow! Nein, er hatte sich geirrt. Nicht achtzehn. Aber dennoch eine wesentlich jüngere Evelin. Nicht älter als Anfang, Mitte zwanzig. Doch ganz sicher keine Abiturientin mehr.
Und er erkannte das imposante pavillon-artige Gebäude mit den barocken Säulen und dem gewölbten Dach, das sich hinter ihr majestätisch erhob: das Hauptgebäude der Hamburger Universität an der Edmund-Siemers-Allee.
Evelin hatte sich fein gemacht. Er nahm an, dass die Aufnahme anlässlich der Feier zur Aushändigung ihres Diploms entstanden war.
Was ist mit dieser jungen Dame passiert? Sein Mund verzog sich. Zehn Jahre in ihrem Job veränderten jeden. Sie waren auch an Evelin nicht spurlos vorübergegangen.
Alex stellte das Bild auf den Sims und nahm ein anderes, das sich dort befunden hatte: Evelin und ein wichtig aussehender Mann mit einem maßgeschneiderten dreiteiligen Anzug und einem Schopf grauer Haare: Vater.
Alex trug das gerahmte Foto zurück in die Küche. Er lehnte es neben der Kaffeemaschine an die Wand und goss sich einen Becher ein. Als er sich nach dem Zucker umsah, hörte er, wie ein Föhn angeschaltet wurde. Er füllte eine zweite Tasse für Evelin. Vergebens versuchte er, sich zu erinnern, wie sie ihren bevorzugte.
Milch – er fügte für sich einen kräftigen Schluck hinzu, süßte seinen Kaffee und konzentrierte sich auf die Fotografie. Evelins glückliches Gesicht lächelte ihm entgegen. Offenbar verstand sie sich gut mit ihrem Vater.
Das war ja schnell gegangen. Sie kam die Treppe heruntergelaufen, ihr Haar trocken. Hose, Bluse, kein sichtbares Make-up.
Warum macht sie sich nicht jeden Tag so zurecht? , schoss ihm durch den Kopf. Laut sagte er: »Schwarz und bitter oder hell und süß?«
»Ich konnte den Duft des frischen Kaffees bis nach oben riechen«, erwiderte sie und nahm die letzten Stufen in die Küche. »Um diese Uhrzeit trinke ich ihn egal wie. Aber ja, Milch und ein Löffel Zucker bitte.«
Alex hielt ihr seinen eigenen Becher entgegen und mied den Augenkontakt mit ihr, weil er die Zuckerdose für die zweite Tasse erneut aus dem Schrank holen musste. Dennoch entging ihm nicht, dass sich ihr Blick auf einen Gegenstand hinter ihm richtete: das Foto.
»Dein Vater?«, fragte er und hoffte, sie würde es ihm nicht übel nehmen, dass er es vom Kamin genommen hatte.
Er tat etwas Zucker in die Tasse und rührte um. Dabei wandte er sich ihr zu.
Sie lächelte. Seine Bedenken waren unnötig gewesen.
»Ja. Das ist mindestens fünfzehn Jahre her«, sagte sie. Ihr Lächeln veränderte sich, wurde melancholisch. »Die Zeit vergeht zu schnell.«
»Er wirkt ernst. War er streng?«, fragte er und bereute seine Neugier gleich darauf. »Entschuldigung, das geht mich nichts an.«
»Nein, ist schon okay«, sagte sie mit leichtem Kopfnicken. Sie nippte an ihrem Kaffee.
»Er hatte eine wichtige Position inne. Er war Chefarzt. Ein Neurochirurg, spezialisiert auf Gesichtsrekonstruktionen.« Und auf seine stumme Frage fügte sie an: »Keine plastische Chirurgie, wie man den Begriff heutzutage oft verwendet, sondern plastische Chirurgie … für Unfallopfer. Er war stets ernst. Ich kann die Anlässe an einer Hand abzählen, an denen ich ihn fröhlich und gelöst erlebt habe – vielleicht weil er immer damit rechnen musste, in die Klinik gerufen zu werden. Die Arbeit war für ihn sein Ein und Alles.«
»Du scheinst sehr stolz auf ihn zu sein … auf dem Foto«, beeilte sich Alex, anzufügen.
»Ich war gerade von einem dieser Urlaubstrips zurückgekommen, wie man sie als junger Mensch in den Ferien macht. Ich denke, ich habe während der Reise gemerkt, dass auffällig viele der Dinge, die er mir früher erzählt hatte, der Wahrheit entsprachen. Er war ein ganz besonderer Mann.« Sie brach abrupt ab.
»War ? Wie geht es ihm jetzt?«
»Gut, gut.« Sie studierte den Inhalt ihres Bechers und blickte dann wieder auf. »Er ist inzwischen pensioniert und lebt in einer Seniorenresidenz.«
Alex horchte auf. Im Altersheim? Jetzt schon? Doch Evelin brannte ihm mit diesem ihr eigenen Blick ein Loch in die Stirn, also erwiderte er: »Das ist toll.«
»Ihm geht es dort gut. Und nun, da ich wieder in der Stadt lebe, kann ich ihn öfter besuchen … ich besuche ihn nach unserem Essen.«
»Prima.« Er fühlte sich unbehaglich und bemühte sich um einen unverfänglichen Gesichtsausdruck. »Wir dürfen Oberkommissar Strobelsohn und Henrik nicht vergessen. Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.«
Ihr Nicken fiel eine Spur zu eifrig aus. Offenbar war sie über den Themenwechsel ebenfalls erleichtert.
»Ja«, sagte sie. »Aber diesmal fahre ich. Ich brauche nur noch eine Jacke.«
Alex brachte das Bild von Evelin und ihrem Vater zurück zu deren Platz auf dem Kaminsims.
Sie war nicht ehrlich zu ihm gewesen. Offensichtlich hatte auch sie ihre Geheimnisse.