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Alex wurde bewusst, dass er seinen BMW nicht sofort würde holen können. Aber der zum zwanghaften Verhalten neigende Zeitmanager in ihm machte sich gleich ein entsprechendes Memo und setzte sogar einen Abholtermin fest: direkt nach dem Abendessen.
Alex kümmerte es nicht, wie es für Henrik und Strobelsohn aussehen mochte, wenn er und Evelin in einem Auto vorfuhren.
Jedenfalls wirkte Evelin distanziert, seitdem er das Thema auf ihren Vater gebracht hatte. Das war ihm recht. Statt sich zu unterhalten, gab er vor, sich auf ihre Soundanlage zu konzentrieren. Er ging die vorprogrammierten Radiostationen durch, bis er auf irgendeinen alten Jazz-Song stieß. Die kühlen Klänge der Trompete überdeckten die angespannte Atmosphäre.
Sie kamen als Erste beim Restaurant an. Georgios nahm sie an der Tür in Empfang und sagte: »Ich habe euren privaten Nebenraum vorbereitet. Niemand wird euch dort stören.
Nicht einmal ich.«
»Du bist zu gut zu uns«, erwiderte Alex mit einem dankbaren Lächeln. »Ganz ehrlich, Georgios, das ist sehr aufmerksam von dir. Wir haben viel zu bereden, und das ist nicht für fremde Ohren bestimmt.«
Georgios führte sie zu dem mit Deko vollgestopften Ex-Raum des Shantychors. Und während er im Begriff war, die Tür zuzuziehen, sagte er: »Ich bin gleich zurück mit den Getränken!«
Evelin ergriff die Initiative und steuerte die rückwärtige Tischseite an. Alex zögerte kurz und entschied sich, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Es erschien ihm am natürlichsten.
Er wollte ihr schon dafür danken, dass sie ihn in ihr Leben gelassen hatte, doch dachte dann, dass eine solche Aussage grundsätzlich seltsam klingen würde. Hinzu kam, dass sie ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, Abstand zu brauchen. Also verlegte er sich lieber darauf, über das Essen zu sprechen.
»Hast du gesehen, ob Georgios ein spezielles Tagesgericht anbietet? Er hat uns heute keine Vorschläge gemacht.«
»Ich greife im Zweifelsfall immer auf die Nummer zwei zurück«, sagte sie. »Souvlaki – Fleischspieße mit Tomaten und Zwiebeln, Pita und natürlich Zaziki.«
Die Eingangstür öffnete sich erneut.
»Oh, hallo, Herr Strobelsohn«, fügte sie an. »Wir diskutieren über das Abendessen. Kommen Sie doch rein.«
Gert Strobelsohn zwängte sich hinter Alex vorbei zu einem freien Stuhl. Dabei versperrte er die Sicht auf einen Großteil der Statuen. »Henrik hat angerufen. Er meinte, er würde sich ein wenig verspäten. Er macht schnell einen Abstecher ins forensische Labor, aber er hat darum gebeten, für ihn das zu bestellen, was auch immer Georgios empfiehlt.«
Alex klappte seine Speisekarte zu. »Das ist vermutlich eine gute Idee. Ich denke, ich werde mein Schicksal ebenfalls in Georgios’ Hände legen.«
»Ich habe von Herrn Gutenberg gehört, Sie waren verschwunden, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Oder hat ihm seine Einbildung einen Streich gespielt?«, sagte
Strobelsohn zu Evelin mit einem breiten Grinsen. »Aber sei es, wie es ist: schön, Sie wohlbehalten zurückzuhaben.«
»Eigentlich bin ich auf See verloren gegangen«, erwiderte Evelin. »Suzanne Carstens und ich hatten gestern Nachmittag beschlossen, zu segeln, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken. Ein Sturm zog auf und das Boot machte eine unerwartete Bewegung. Der Großbaum des Segels stieß mich von Bord.« Sie hielt inne. »Ich war überzeugt, sie würde mich ertrinken lassen. Aber sie hat mich eines Besseren belehrt. Sie ist zurückgekommen und hat mich aus dem Wasser gezogen. Das Unwetter hat an Stärke zugenommen und wir haben Schutz in der Bucht einer der Elbinseln gesucht.«
»Das klingt nach einer verdammt nervenaufreibenden Erfahrung«, sagte Strobelsohn.
»Ich hätte mich nicht derartig verrückt gemacht, wenn die beiden nicht außer Handyreichweite gewesen wären. Ich habe vor lauter Sorge fast kein Auge zubekommen«, gestand Alex ein.
»Das war sehr nett von dir«, sagte Evelin mit ernster Miene. »Ich bin froh, dass in Wirklichkeit keine Gefahr bestand. Und um ehrlich zu sein, mein überraschendes Bad in der Elbe war es wert. Suzanne Carstens beginnt, sich mir gegenüber zu öffnen.«
Georgios kam mit einem vollbeladenen Tablett herein.
»Ich habe Evis stilles Wasser sowie welches mit und ohne Kohlensäure für die Herren«, sagte er und verteilte die Gläser. Dann stellte er die großen Flaschen ans Tischende und drückte das nun leere Tablett gegen seine schwarze Weste. »Gibt es noch etwas, was ich bringen kann, während wir auf Ihren jungen Freund warten?«
»Ich glaube, wir werden für Henrik mitbestellen«, erwiderte Evelin. »Ich hätte gerne die Nummer zwei – es sei denn, du hast einen anderen Vorschlag.«
»Du brauchst Protein. Du solltest lieber die große Grillplatte anstatt des kleinen Tellers nehmen.« Georgios zog fragend die Augenbrauen hoch
.
»Gut. Prima. Dann die große Grillplatte«, sagte Evelin und sah zu Strobelsohn.
»Für vier Personen«, übernahm der Oberkommissar. »Heute werden wir alle unser Gewicht in würzigem Fleisch vertilgen. Stimmt’s, Herr Gutenberg?«
»Richtig«, bestätigte Alex.
Georgios lachte kurz auf. »Abgemacht! Möchten die Herren noch etwas anderes zu trinken haben?«
»Vielen Dank, das Wasser genügt mir«, sagte Alex.
»Mir genügt es auch«, meinte Strobelsohn und reichte seine Speisekarte über Alex an Georgios zurück. »Sie könnten für Herrn Breiter ein großes Pils bringen. Er müsste jede Minute hier sein.«
»In Ordnung. Ich lasse Sie nun allein, damit Sie das Geschäftliche besprechen können. Ein Bier und vier Grillplatten kommen sofort.« Georgios stieß die Hacken zusammen wie ein Matador in der Stierkampfarena, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Strobelsohn wandte sich an Evelin. »Zurück zu Suzanne Carstens: Sie sagten, dass sie anfängt, sich Ihnen gegenüber zu öffnen?«
»Ja«, bestätigte Evelin mit einem Nicken.
»Dr. Wolf hat mit unserer Augenzeugin Fortschritte erzielen können. Ich habe beide vorhin am Blankeneser Hafen abgeholt. Und ich muss sagen, Suzanne Carstens schien mir bereit zu sein, mit uns zu reden«, beeilte sich Alex, anzufügen. Das, was Suzanne Carstens ihrer Therapeutin anvertraut hatte, ging nicht jeden etwas an.
Evelin zuckte mit den Schultern. »Trotz dieses Durchbruchs werde ich das Gefühl nicht los, dass wir so schnell nichts aus ihr herausbekommen. Sie erinnert sich an das, was in jener Nacht vorgefallen ist, aber sie weigert sich, darüber zu sprechen.«
Strobelsohn öffnete den Mund zu einer Antwort. In dem Moment erschien Henrik im Nebenzimmer. Er
trug ein großes Glas Bier. Anscheinend hatte es ihm Georgios in die Hand gedrückt, sobald der junge Polizist das Poseidon betreten hatte.
Henrik lächelte auffällig lange, als ihm bewusst wurde, dass er neben Evelin sitzen würde.
Er nahm Platz, hob sein Pils an, sagte »Prost« und trank einen gesunden Schluck. Danach stellte er das Bier ab und erklärte: »Ich habe erste forensische Ergebnisse bekommen.«
Alex lehnte sich vor. »Und?«
»Sie haben die Gläser im Geschirrspüler nach Nikotinspuren untersucht. Nichts.«
»Sackgasse – wie wir befürchtet haben«, murmelte Alex.
»Ja, leider.« Henrik runzelte die Stirn mit deutlichem Bedauern. Gleich darauf begannen seine Augen zu leuchten. »Aber halten Sie sich fest: Da waren Blutrückstände.«
»Blutreste?« Strobelsohn durchbohrte ihn mit seinem Blick. »Wo?«
Henrik sah jeden der Reihe nach an, bevor er fortfuhr: »Auf dem Manschettenknopf, den Björn Carstens in seiner Hand gehalten hat. Nur ein kleines bisschen unterhalb des Edelsteins am Boden der Fassung.«
Strobelsohn horchte auf. »Was ist mit dem anderen Manschettenknopf, den wir im Tresor gefunden haben?«
»Fehlanzeige.« Henrik zuckte mit den Schultern.
»Haben die Kollegen das Blut zugeordnet?«, fragte Alex.
»Ja und nein.« Henrik wackelte mit dem Kopf hin und her. »Was sie mir sagen konnten, ist, dass es von einem männlichen Verwandten Westphals ersten Grades stammen muss.«
»Das bedeutet entweder von einem Bruder, seinem Vater oder theoretisch auch einem Sohn?«, vergewisserte sich Evelin.
»Das ist korrekt.« Henrik strahlte sie an. »Sie schauen sich die Rückstände jetzt genauer an, aber das ist das vorläufige Ergebnis.«
»Normalerweise stimmt das Endresultat mit der ersten Untersuchung überein«, sagte Alex. Er stockte. »Westphals Vater kommt nicht infrage. Er hat vor mehreren Jahren Selbstmord verübt … Ein Sohn – das erscheint mir eher unwahrscheinlich. Pe
ter Westphal ist jung, sein Sohn wäre noch ein Kind … Hat Peter Westphal überhaupt Brüder beziehungsweise einen Sohn?«
»Soweit wir wissen, weder noch«, erwiderte Strobelsohn. »Aber ich werde die Sache definitiv näher unter die Lupe nehmen. Gleich morgen früh.«
»Sehr gute Arbeit, Henrik«, lobte Alex. »Das könnte sich zu einer wichtigen Spur entwickeln.«
Ein Klopfen, und Georgios kam herein. Vier vollbeladene Platten Grillfleisch, mit schlafwandlerischer Sicherheit auf zwei Händen und Unterarmen balanciert, wurden vor jedem von ihnen auf den Tisch gestellt.
Henrik hatte sein Bier vergessen. Bewaffnet mit Messer und Gabel saß er da und bestaunte seinen großen Teller.
»Was haben wir denn da?«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Das riecht ja absolut köstlich!«
»Gegrillte Schweine- und Hähnchenspieße, Lammkoteletts und weiße Riesenbohnen mit karamellisierten Zwiebeln – wie Evi sie mag«, erwiderte Georgios geschmeichelt.
»Das ist eine beachtliche Menge. Gut, dass ich Hunger mitgebracht habe«, sagte Henrik, während die Tür hinter Georgios ins Schloss fiel.
Danach wurde es still. Alle konzentrierten sich auf das Essen.
Alex war es, der das Schweigen schließlich durchbrach. »In unserem Containerfall vom Burchardkai: Gibt es Neuigkeiten zu dem Inhaber der Transportfirma und der vermissten Mitarbeiterin vom Zoll? Ihr Verschwinden direkt nach dem Fund der toten jungen Frauen lässt sie nicht gerade unschuldig erscheinen.«
Strobelsohn legte seine Gabel beiseite. »Das stimmt. Das ist sehr verdächtig. Wir vermuten, die beiden sind auf der Flucht. Es gibt zwar keine Flugbuchungen unter ihren Namen, aber sie könnten mit dem Zug unterwegs sein. Ich glaube, ihre Autos wurden gefunden, richtig, Henrik?
«
Henrik spülte sein Essen mit einem kräftigen Schluck Bier hinunter. »Das stimmt. Und in ihren Wohnungen haben wir weder die Zeichen eines überstürzten Aufbruchs noch eine andere Auffälligkeit entdecken können. Ihre Briefkästen wurden nicht geleert. Es scheint, als seien sie spurlos verschwunden. Die Fahndung nach ihnen läuft.«
»Unter Würdigung aller Umstände, Herr Gutenberg«, sagte Strobelsohn, »die beiden haben zwei Tage Vorsprung. Das Fahndungsraster kann gar nicht weit genug ausgedehnt werden, um eine reelle Chance zu erhalten, sie zu fassen.«
Alex lud seine Gabel voll und blickte zu Evelin hinüber, um zu sehen, was sie zu der Entwicklung meinte. Sie wirkte noch unnahbarer als vorhin bei ihrer gemeinsamen Fahrt zu Georgios. Bestimmt machte sie sich Sorgen um ihren Vater. Vielleicht war es an der Zeit, das Treffen zu beenden.
Alex entschied sich, es trotzdem einmal zu versuchen. »Was ist?«, fragte er sie.
Sie schien gedanklich von weit weg zurückzukommen. Sie schaute ihn an und zog eine Schulter hoch. »Oh, vermutlich nichts …« Sie wandte sich an Strobelsohn. »Hatten Sie schon Gelegenheit, sich die Akte zum Suizid von Peter Westphals Vater aus dem Archiv bringen zu lassen?«
Gert Strobelsohn gab die Frage mit einem Nicken an Henrik weiter.
»Noch … noch nicht«, stotterte dieser.
Evelin lächelte. »Könnten Sie das bitte morgen erledigen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.«
Alex vermochte nicht, seine Neugierde zu unterdrücken. »Darf ich fragen, warum?«
Evelin zuckte erneut mit den Schultern. »Ist nur so eine Ahnung.«