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Mein Vater war mit seinen einundsiebzig Jahren noch immer ein gut aussehender Mann. Dichtes, graues Haar, das langsam weiß wurde. Sauber gekämmt, frisch rasiert. Er trug ein saloppes Sakko über einem hellen Hemd. Wie er so dasaß, wirkte er zufrieden und voller Tatendrang.
Das Fenster hinter ihm bot einen ungehinderten Blick auf einen sorgfältig angelegten Garten. Die Bäume hatten noch kein Laub, aber der Frühling machte sich bereits bemerkbar. Der Rasen war übersät mit kleinen lilafarbenen Krokussen. Im sterbenden Licht des Tages leuchteten sie fast unwirklich.
»Ich bin im Moment ein wenig unter Druck, Evi«, sagte er. »Ich habe jede Menge zu tun.«
»Ja?«, hakte ich nach.
Ein ernstes Nicken von ihm. »In zwei Wochen nehme ich an diesem großen, internationalen Kongress in New York teil. Challenges of today’s facial plastic surgery – a new approach
. Ich werde dort die Ergebnisse meiner Arbeit vorstellen.«
»Das klingt spannend«, sagte ich. »Wie weit bist du mit deinen Vorbereitungen?
«
»Ich habe alle Patientenfotos geordnet. Vorher – nachher. Die Statistiken sind geprüft und von meinen beiden Assistenten auf den neuesten Stand gebracht.« Er hielt inne. »Weißt du, ich möchte meine Präsentation so gestalten, dass man sie auch gleich als Handout verwenden kann. Das ist mir überaus wichtig. Ich hasse es, wenn Vortrag und Materialien nicht zusammenpassen.«
»Das kann ich gut verstehen.«
Er lächelte und tätschelte meine Hand. »Du bist eben eine Perfektionistin wie ich.« Er seufzte und wurde ernst. »Bei aller Vorfreude auf meine Reise darf ich meine Patienten nicht vergessen. Sie verlassen sich auf mich. Sie brauchen mich. Deshalb bin ich stets erreichbar für die Klinik.« Er langte in die Innentasche seines Jacketts. »Ich habe den Piepser, der ist immer an. Tag und Nacht.« Er zog das Kästchen heraus und legte es in Griffweite vor sich auf den Tisch.
»Pass auf, dass du dich nicht überarbeitest«, sagte ich.
Er hob abwehrend eine Hand. »Evi, mach dir keine Sorgen. Wenn ich es übertreibe, bremst mich Rosi. Du kennst sie, sie achtet stets auf mich.«
Ich schluckte schwer, als er den Namen meiner Mutter aussprach. Trotzdem zwang ich mich zu einem Lächeln. »Wird sicher ein überaus erfolgreicher Kongress werden.«
»Ja.« Er steckte den Piepser in die Tasche zurück. »Ganz sicher. Dieser internationale Austausch ist wichtig.« Er blinzelte, blickte sich um und sah mich wieder an. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Evi«, sagte ich. »Deine Tochter.«
»Evi! Natürlich! Das weiß ich doch!« Seine blauen Augen strahlten. »Schön, dass du vorbeikommst! Leider habe ich gerade viel zu tun.«
»Wenn ich dich störe…«
»Nein, nein«, unterbrach er mich. »Bleib nur da.«
Er schwieg.
»Was machst du gerade?«, fragte ich ihn nach einer Weile.
»Ich … bereite mich auf einen Kongress vor. In New York. Ich werde dort eine Präsentation halten zu …« Falten
erschienen auf seiner Stirn. »Gesichtsrekonstruktionen und zu meinen Operationsmethoden. Sie gelten als äußerst innovativ.«
»Das mit dem Kongress«, sagte ich, »das klingt spannend.«
»Ist es in der Tat. Es bedeutet natürlich viel Arbeit neben meinen Patienten. Trotzdem sorge ich dafür, dass ich immer erreichbar bin. Das muss ich in meiner Position sein. Mein Piepser …« Er brach ab, sah auf den Tisch. »Wo ist er denn? Wo ist der Piepser?« Er schaute sich um, neigte sich vor, um auf den Boden zu blicken. Er kam wieder hoch, sein Atem wurde schneller. Hektisch begann er, sein Sakko abzutasten.
»Probier mal die Innentasche der Jacke«, beeilte ich mich, zu sagen. »Da verwahrst du deinen Piepser für gewöhnlich.«
»Was erzählst du da?« Seine Stimme wurde scharf. »Niemals!«
»Doch«, beharrte ich betont sanft.
Widerwillig langte er in sein Jackett und förderte den Piepser zutage. »Da ist er. Gott sei Dank. Du weißt, die Patienten, die Kollegen, die brauchen mich. Ohne mich kommen sie nicht zurecht.« Er legte den Piepser wieder auf den Tisch.
Ein irritierter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Wer sind Sie noch mal?«
»Ich bin Evi, deine Tochter.«
Er verzog den Mund zu einer schmalen, verärgerten Linie. »Das brauchst du mir nicht zu sagen! Ich bin doch nicht dement …« Er lächelte. »Evi, schön, dass du mich besuchst! Wie bist du denn hereingekommen?«
»Mit meinem Schlüssel.«
»Natürlich! Dein Schlüssel.« Er stockte und fügte betont leise an: »Das ist gut, dass du einen Schlüssel hast. Hier ist nämlich stets abgesperrt. Man kommt nicht so leicht rein oder raus. Ich sperre mein Büro neuerdings immer ab. Wegen der Ruhe. Wegen meiner Arbeit und dem Kongress. Er findet in …«, er überlegte, »in Amsterdam statt. Es geht um … um meine Arbeit … Mit den Patienten. Wegen …« Seine Miene wurde ungeduldig. »Wegen…
«
»Es geht um deine Gesichtsrekonstruktionen bei Unfallopfern.«
Er deutete mit dem Finger auf mich und wackelte fröhlich mit den Augenbrauen. »Genau!« Er schaute sich um und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Wo ist denn Rosi?«
Nach all den Jahren hatte ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass er den Namen meiner toten Mutter, seiner Ehefrau, aussprach, als wäre sie am Leben und würde jeden Moment vor uns stehen.
»Mama ist unten in der Küche«, erwiderte ich.
»Das ist meine Rosi!« Schmunzelnd ließ er sich zurücksinken. »Sie achtet darauf, dass ich nicht zu viel arbeite. Sie sorgt dafür, dass ich regelmäßig Pausen mache und etwas esse.« Er griff nach seinem Piepser und verstaute ihn äußerst gewissenhaft im Sakko.
Danach lenkte er seine Aufmerksamkeit auf mich. »Frau Schlödenhofer, das wäre dann erst einmal alles für heute. Bitte hören Sie mein Diktat gleich ab und tippen Sie die Briefe. Das ist wichtig.«
»Mache ich sofort«, sagte ich, blieb aber sitzen.
»Ist noch was?« Er schreckte auf. »Wo ist mein Piepser?« Erneut begann seine Suche.
»Sie haben ihn in Ihre Innentasche gesteckt, Herr Professor«, sagte ich.
»Ja! Natürlich!« Er zog das Kästchen heraus und legte die alte, defekte Fernbedienung auf den Tisch.
»Frau …«, setzte er an.
»Schlödenhofer«, sagte ich.
»Bitte rufen Sie meine Tochter Evi an. Richten Sie ihr besonders schöne Grüße von mir aus. Übermorgen ist der neunundzwanzigste Juli, mein sechzigster Geburtstag. Rosi und ich erwarten sie und ihre Schwester Frederike zum Essen. Machen Sie das sofort nach dem Diktat. Ich muss … äh.« Er strich sich über die Stirn. »Ich muss arbeiten. Ein Kongress
in London.«
Ich erhob mich. »Ich erledige alles, Herr Professor. Sie können sich auf mich verlassen.«
Er antwortete mir nicht. Blicklos starrte er aus dem Fenster.
Nach einer Weile beugte ich mich zu ihm hinab und strich ihm über das Haar. »Bis bald, Papa«, sagte ich.
Vielleicht hörte er mich sogar.
Ich ließ ihn allein – vor dem Fenster mit der Aussicht auf den Park und den unzähligen lilafarbenen Krokussen.
Eine Frau lief an mir vorbei. Sie trug einen Hoodie, hatte dessen Kapuze aufgesetzt und sich tief ins Gesicht gezogen. Sie war barfuß. Ihre Hände steckten in blauen Latexhandschuhen. Ich schaute ihr kurz nach. Ihre Jeans hing halb herunter und eine Windel kam zum Vorschein.
Ich ging weiter. Im hinteren Teil des weitläufigen Aufenthaltsraums saßen zwei Frauen an einem Tisch und spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Das Brett und die Figuren waren überdimensional groß. Das mussten sie sein. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen unbeabsichtigtes Verschlucken.
Ich erreichte den Flur, der an den einzelnen Zimmern vorbei zum Ausgang führte. Ich wich einer rund achtzigjährigen Frau aus. Man hatte sie in einen Gehwagen gestellt – eine Konstruktion aus Leichtmetallröhren mit Rollen am Boden und einem integrierten Sitz. Dieses Gefährt bot Rundumschutz vor Stürzen und ermöglichte seinem Nutzer, sich gefahrlos zu bewegen.
Während die Greisin an mir vorbeieilte, rief sie laut: »Jawoll, jawoll, jawoll, Tante!«
Ich ging um die Ecke. Zwei Pfleger waren damit beschäftigt, einen Mann vom Boden aufzuheben, der dort offenbar eingeschlafen war.
Ich begegnete einem Mann im Rollstuhl. Er war nicht alt, bestenfalls vierzig. Sein Haar war lang, sein Bart ebenfalls. Er trug einen Pullover und Windeln. Keine Hose, keine Socken, keine Schuhe. Ich kannte ihn von früheren Besuchen.
Dann war ich am Ausgang angelangt. Links davon befand sich das Stationszimmer. Ich klopfte
.
Eine junge Ärztin, vielleicht fünfundzwanzig, schaute heraus.
»Ah, Frau Dr. Wolf«, sagte sie zu mir. »Sie möchten gehen?«
»Ja, gleich«, sagte ich. »Ich wollte mich nur noch nach der aktuellen Medikation meines Vaters erkundigen.«
»Kommen Sie doch schnell rein.« Die Ärztin machte einen Schritt zur Seite und ließ mich eintreten.
Sie griff sich eine Akte und schlug sie auf. Ohne mich anzusehen, sagte sie, während sie las: »Wir mussten die Dosis Haloperidol in den vergangenen beiden Wochen leider wieder erhöhen. Daneben bekommt er nach wie vor Pipamperon und Risperidon, Letzteres aber wirklich in geringen Mengen.«
Sie ließ den Hefter sinken und schaute auf. »Er ist sehr aggressiv geworden, weil er die Fernbedienung nicht hat finden können. Wir hatten keine andere Wahl.«
»Die Fernbedienung ist sein Piepser«, sagte ich. »Der ist ihm ungeheuer wichtig. Sie können ihm alles nehmen, alles mit ihm machen und er bleibt friedlich. Aber ohne seinen Piepser…«
»Das wissen wir schon«, unterbrach sie mich. »Der Piepser war weg. Verschwunden. Das Ding ist nach Tagen bei einem anderen Bewohner wieder aufgetaucht. Bis dahin war es schwierig mit Ihrem Vater. Er hat keine andere Fernbedienung akzeptiert und ist sogar auf einen Kollegen losgegangen.«
»Das tut mir leid«, sagte ich. »Mir ist aufgefallen, dass er am linken Unterarm einen Verband hat«, fügte ich an. »Eine Verletzung?«
Sie nickte. »Ist fast schon wieder verheilt. Wir mussten ihn zu dritt festhalten, als das mit dem Piepser passiert ist. Er wollte das Beruhigungsmittel nicht schlucken und tobte. Er ist alt und hat Pergamenthaut, die ist dann einfach …« Sie brach ab.
»Gerissen«, vervollständigte ich ihren Satz. »Hat sicher stark geblutet.«
»Ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben unser Bestes gegeben.
«
»Sie machen Ihre Arbeit sehr gut«, beeilte ich mich, zu sagen. »Mir ist bewusst, er kann manchmal unberechenbar sein.« Ich hielt inne. »Ich wohne jetzt wieder in Hamburg. Ich werde ihn nun öfter besuchen können.«
Die Ärztin lächelte. »Das wird Ihren Vater freuen. Er hat durchaus auch lichte Momente.«
»Das stimmt«, erwiderte ich und fügte in Gedanken hinzu: Leider werden die klaren Phasen immer weniger. Und irgendwann wird von meinem Papa nichts mehr übrig sein außer seinem leeren, atmenden Körper – genau wie das Lila der Krokusse im sterbenden Tageslicht allmählich verblasst, bis die Nacht kommt und alles in undurchdringliche Schwärze taucht.