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Jeder ging seiner eigenen Wege: Strobelsohn zu seiner Frau. Evelin zu ihrem Vater, von dessen Existenz Alex bis heute nichts gewusst hatte. Verdammt, sogar Henrik hatte etwas vor. Er wollte zum Osterfeuer auf der Horner Rennbahn.
Alex überlegte. Lange und intensiv. Abgesehen von seiner Ehe, die in die Brüche gegangen war, hatte er seit dem Tod seines Onkels Frank nichts mehr gekannt, was einer Familie auch nur annähernd entsprochen hätte. Und selbst wenn Frank noch gelebt hätte, wäre er ihm jetzt kein Trost gewesen.
Das Taxi hatte Alex am Blankeneser Hafen abgesetzt, er war hinter sein eigenes Lenkrad geklettert und hatte sich in die Richtung zurückbegeben, aus der er gekommen war.
Er dachte an den restlichen, vor ihm liegenden Abend. Und er musste feststellen, dass er tatsächlich niemanden hatte, mit dem er ihn hätte verbringen können.
Warum liefen seine Verbindungen zu Frauen stets schief? Warum schaffte er es nicht, die Partnerschaften aufrechtzuerhalten? Immer tauchte irgendein Problem auf, etwas, was nicht passte. Und wenn er es näher betrachtete, war stets eindeutig er der Grund für das Scheitern. Er war der Störfaktor.
Was konnte er sagen? Er war nicht fähig, sich den Anforderungen einer modernen Gesellschaft anzupassen. Das war es: Er war nicht länger fähig, eine funktionierende Beziehung einzugehen.
Dafür gab es vielfältige Gründe. Zum einen gelang es ihm nicht, Nähe und Vertrautheit zuzulassen. Sollte er den Frauen, die er traf, erzählen, was er getan hatte? Sie würden es ohnehin nicht verstehen können.
Vielleicht Evelin? Sie wirkte besonnen genug, insbesondere für eine Geisteswissenschaftlerin. Doch Arne hatte recht: Evelin hatte eine hohe Mauer um sich herum errichtet und wollte offenbar niemandem gestatten, zu ihr vorzudringen.
Arne? Er könnte einen Abstecher zu ihm nach Wiesbaden machen … Nein. Alex schüttelte den Kopf. Momentan war zu viel los in Hamburg. Er war gezwungen, in der Stadt zu bleiben.
Ein Drink erschien ihm unratsam. Es musste eine Zeit gegeben haben, in der er erschöpft und ausgelaugt von der Arbeit ohne einen einzigen Tropfen direkt ins Bett gefallen war. Doch das war lange her. Alex konnte sich an keinen Abend seit einer wahren Ewigkeit erinnern, an dem er nicht ein Glas getrunken hatte. Und wenn er aufhörte, sich selbst zu belügen, blieb es nie dabei.
Okay , schoss ihm durch den Kopf. Machen wir einen Test: Setz dich an eine Bar und bestelle nur einen einzigen Drink . Gleich darauf musste er lachen. Zu spät. Da waren diese zwei Schnäpse bei Georgios gewesen. Evelin hatte keinen gewollt, und wie ein wahrer Trinker hatte er es nicht über sich gebracht, den kostbaren Aquavit zu verschwenden.
Prüfung nicht bestanden. Darauf ein Glas . Alex suchte die Umgebung nach grellbunten Neonschildern ab, die das warme Versprechen von Alkohol verhießen.
Seltsam, dass er an seinen verstorbenen Onkel Frank und gleichzeitig an Schnaps denken musste. Oder auch nicht. Frank hatte ihm viel über das Trinken beigebracht. Dass man sich auf die samtene Verführung einlassen konnte, ohne sich – im Gegensatz zu Alex’ eigenem Vater – von ihr beherrschen zu lassen.
Frank kippte das Zeug hinunter, wie die Besten von ihnen, das hatte er mit Alex’ Vater gemein. Doch er überließ dem Alkohol offenbar nie die Oberhand. Es ging um mehr, als sich zu behaupten. Sein Onkel gab sich dem Getränk hin, behielt aber die Kontrolle.
Wenn du anfängst, dein Leben danach auszurichten, hörte Alex im Geiste die tiefe Stimme seines Onkels sagen, wenn du dich einzig und allein dadurch identifizierst, dann hat dich der Schnaps einverleibt .
Noch so eine Eigenart seines Onkels, an die sich Alex erinnerte: Frank verwendete Bezeichnungen mit mehr als nur der einen offensichtlichen Bedeutung. Und obwohl Alex immer wieder beabsichtigt hatte, diese dehnbaren Begriffe nachzuschlagen, hatte er es nie in die Tat umgesetzt.
Eine nahezu leere Cocktailbar erregte seine Aufmerksamkeit. Direkt davor befand sich sogar ein freier Parkplatz. Alex lenkte in die Lücke, beugte sich vor und sah sich die Gäste an. An einem Tisch saßen zwei Frauen – Freundinnen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Sie interessierten sich nicht für ihr Umfeld, da war er sich sicher – niemand wählte eine leere Kneipe, wenn er vorhatte, jemanden abzuschleppen.
Der mit elegant-schwungvollen Lettern geschriebene Barname Cocktailshaker auf dem Schild über der Tür sowie die sauber aufgereihten Flaschen hinter den Tresen signalisierten ihm, dass der Laden feine Drinks und teure Whiskeys anbot.
Klingt nach einem Abend mit Rye und Bitters . Alex kletterte aus dem Auto, begierig, seinem Lieblingslaster zu frönen.
»Die Karte bitte«, beantwortete Alex die stille Frage des Barmanns und setzte sich an einen Ecktisch.
Rücken zur Wand ! Stammte dieser Rat ebenfalls von seinem Onkel? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Es klang nach einem typischen Spruch aus einem dieser Gangsterfilme, die er als Kind angeschaut hatte – in einem Alter, in dem er der Handlung noch nicht hatte folgen können.
Mit dem Rücken zur Wand konnte man frühzeitig erkennen, wenn ein Feind oder eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts zu einem Frontalangriff übergingen. Doch Alex hatte mit seiner Vermutung recht gehabt. Die beiden jungen Frauen befanden sich nicht auf Männerfang. Sie nahmen nicht einmal wahr, dass der Barmann zu ihm trat und seine Bestellung aufnahm.
Alex überflog die Getränke auf der Karte. »Was ist in einem Irish ?«, fragte er.
»Rye, Grand Marnier und Bitters«, zählte der Bartender emotionslos auf.
»Nein. Ich glaube, dann bleibe ich lieber beim Old Fashion
Der Barmann blähte kurz die Wangen auf, vermutlich seine Art einer lächelnden Bestätigung. Offenbar nahm er die Bezeichnung Flüsterkneipe wörtlich.
Alex hörte auf, die Drinks zu zählen, nachdem die beiden Freundinnen das Lokal verlassen hatten. Davor hatte er drei Gläser getrunken.
Irgendwann später keimte die Überzeugung in ihm auf, dass es sich die Bar eigentlich nicht leisten konnte, nur seinetwegen geöffnet zu halten. Er entschied sich, dem Kellner einen Gefallen zu tun und nach Hause zu gehen, damit auch dieser in den Genuss seines Feierabends kam.
Alex hob den rechten Fuß. Er kribbelte, als ob er eingeschlafen wäre. Er stand auf, belastete das Bein und kippte zur Seite weg. Glücklicherweise konnte er sich im letzten Moment an der niedrigen Couch festhalten, auf der er gesessen hatte. Nichts verletzt, außer seinem Stolz. Trotz allem war er nüchtern genug, um zu wissen, dass der Vorfall für den Mann hinter dem Tresen ohne jeglichen Belang sein würde.
Alex ließ zwei Scheine auf den Tisch fallen und machte eine ungelenke Geste zum Bartender, dass das Geld für ihn bestimmt war. Gleichzeitig zog er eine Augenbraue fragend in die Höhe, ob die Summe ausreichte .
Der Barmann schüttelte ebenso schweigend, wie er Alex begrüßt hatte, den Kopf – eine stumme Bestätigung, dass die Rechnung damit beglichen war und Alex gehen konnte.
»Dann sage ich Ihnen hiermit gute Nacht«, murmelte Alex und schlurfte zum Ausgang.
»Nun. Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, erwiderte der Mann. »Das wird sich zeigen. Ich bin vorsichtig optimistisch.«
Das war das Sonderbarste, das Alex jemals jemanden hatte sagen hören. Und dann, aus irgendeinem Grund, kam ihm plötzlich Evelin in den Sinn. Sie hatte ihren Vater besucht. Wahrscheinlich hatte sie ihm viel zu erzählen.
Ohne auch nur einen Gedanken an die späte Stunde oder seinen betrunkenen Zustand zu verschwenden, setzte sich Alex hinters Steuer seiner riesigen Limousine. Er lenkte den BMW auf die Fahrbahn und überlegte sich, dass er sich das nächste Mal ein kleineres Modell zulegen würde.
Die Zeit, die es für die kurze Strecke brauchte, verging unbemerkt mit zwei halb vergessenen alten Songs über unerwiderte Liebe. Alex drehte die Lautstärke auf, behielt beide Hände am Lenker und setzte sich aufrecht hin. Sorgfältig nahm er die letzte Kurve und hielt vor Evelins Haus.
Kein Licht, aber jemand ist zu Hause , dachte er sich und schmiss die schwere Wagentür unbeholfen fester zu, als notwendig gewesen wäre.
Er erinnerte sich nicht an die Stufen oder daran, geklingelt zu haben. Doch er stand da, bereit, die Situation zu meistern.
Die Außenbeleuchtung wurde eingeschaltet, die Tür ging einen Spaltbreit auf.
»Hallo, ich hatte das Bedürfnis, es jemandem zu erzählen«, begann er.
Evelin öffnete weiter. »Wovon sprichst du?«
»Es ist sonst niemand da.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Sie musterte ihn aufmerksam.
»Ich habe es versucht. Wirklich. Ich hatte das Gefühl, du würdest es nachvollziehen können… «
Ihr Blick wurde besorgter. »Was ist los? Warum stehst du nachts um eins vor meiner Tür?«
»Es ist nur … Ich fühle mich wie ein echtes Arschloch. Ich wollte, dass du mir sagst, was für ein riesiges Arschloch ich bin.«