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Evelin ließ ihn wortlos eintreten. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und schaltete das Licht an.
Der Raum hatte sich seit seinem letzten Besuch nicht verändert: noch immer voller verstreut herumstehender Umzugskartons, manche halb ausgepackt, andere verschlossen. Einige Bilder auf dem Kaminsims. Nur die Decke hatte sie sauber gefaltet und zusammen mit dem Kissen an den Rand des Sofas gelegt. Er setzte sich daneben.
Sie band sich den Gürtel ihres Bademantels fester und verschwand in der Küche. Das typische Geräusch von Schränken, die geöffnet und geschlossen wurden. Sie kehrte mit einem Glas Mineralwasser zurück und reichte es ihm.
Er trank einen Schluck. Und noch einen. Er hatte Durst, das fiel ihm jetzt erst auf.
Sie nahm ihm gegenüber Platz. Er betrachtete sie. Ihr Haar zerzaust, kein Make-up. Sie wirkte verletzlich, dabei beherrscht und ruhig. Ohne eine Spur von Nervosität. Als wäre es nichts Besonderes für sie, mitten in der Nacht von einem Kerl aus dem Schlaf geklingelt zu werden, der betrunken und voller Selbstmitleid irgendeinen Unsinn von sich gab .
Er stellte das Glas ab, verzog verlegen den Mund. »Ach«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Keine Ahnung, warum ich hier bin. Entschuldige bitte, war eine blöde Idee von mir.«
Sie blieb ernst. »Wirklich?«
»Vermutlich der Stress. Ich bin etwas überarbeitet.« Er lachte. Es klang sogar in seinen Ohren gekünstelt und falsch. »Ich habe in meiner Laufbahn schon vieles gesehen und erlebt. Trotzdem … Die beiden Fälle, die wir gerade bearbeiten … ich kann mir mein Verhalten nicht erklären…«
»So?«, sagte sie. Mehr nicht. Sie schwieg wieder.
Die Stille zog sich. Alex nahm sein Glas in die Hand und trank erneut. Er setzte es ab.
Sie blieb stumm. Sie sah ihn einfach an. Mit diesen blauen Augen.
Das Sofa war unbequem. Er rutschte unruhig hin und her.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Was sollte er antworten?
»Sicher«, sagte er. »Nur der Rücken … da drückt es.«
Er langte hinter sich. »Kann ich?«
Sie nickte.
Er zog seine Pistole aus dem Holster und legte sie auf den Couchtisch neben das Glas. Das Licht brach sich auf dem dunklen Metall, den schwarzen Griffschalen aus Plastik.
Er beugte sich vor und schob die Waffe weiter von sich weg.
Sie blickte kurz darauf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete.
Erneut diese Stille. Kaum auszuhalten.
»Es tut mir furchtbar leid, dass ich gekommen bin und dich geweckt habe«, sagte er. »Ich trinke mein Wasser aus und dann gehe ich.«
Keine Veränderung in ihrem Gesicht. »Wenn du das willst…«
»Ja, natürlich«, bekräftigte er.
Sie betrachtete ihn eindringlich. »Du könntest mir aber auch das erzählen, was du mir erzählen wolltest.«
»Ich?« Er gab sich überrascht. Am liebsten wäre er aufgesprungen und zur Tür geeilt. Doch er bewegte sich nicht.
»Manchmal«, sagte sie, »braucht man Mut.«
»Ich habe Mut«, erwiderte er.
»Daran zweifle ich nicht«, stellte sie fest.
Er streckte seine Hand nach dem Wasserglas aus, zog sie auf halbem Weg zurück und schaute stattdessen auf die Pistole. Er holte tief Luft, hob seinen Blick und sah direkt in das Blau ihrer Augen.
»Ich war eine Zeit lang Berufssoldat«, begann er.
»Mhm.« Es schien sie nicht zu überraschen.
»Auslandseinsätze. Zwei in Afghanistan.«
Ein Nicken von ihr.
»Eigentlich Friedenssicherung.« Er zuckte mit den Schultern. »Das sagt sich so leicht, ist aber kompliziert. Wir haben immer dafür gesorgt, möglichst guten Kontakt zu der Bevölkerung zu haben.«
»Mhm.«
»Ich hatte einen einheimischen Dolmetscher, der sprach Deutsch. Ehsan. Er hatte in München studiert, bevor er wieder in seine Heimat ist.«
Ehsan … Alex verstummte. Er hätte damit nicht anfangen sollen. Mit allem anderen, aber nicht damit.
Sie wartete eine Weile. Dann sagte sie: »Dieser Dolmetscher, dieser Ehsan: Er hat dir bei den Kontakten zu den Einheimischen geholfen?«
»Ja«, hörte er sich sagen. »Ehsan war anerkannt und geschätzt. Er war viel bei uns. Mit der Zeit ist er ein richtiger Freund geworden. Oft blieb er abends ein wenig in unserem Camp. Hat mit uns Filme angeschaut. Er mochte Komödien.«
Ihre Augen waren unerbittlich.
»Eines Tages«, fuhr er fort, »Ehsan war auf dem Weg nach Hause, haben ihn die Taliban erwischt. Sie haben ihn übel zugerichtet.« Er stockte. »Ich habe ihn am nächsten Morgen gefunden.«
»Tot?«
»Selbstverständlich«, beeilte er sich, zu erwidern.
Evelin sah auf die Pistole. Der Lauf zeigte auf sie…
Das Heulen des Windes. Der makellose blaue Himmel. Das Sturmgewehr in seinen Händen. Die braunen Häuser mit ihren Flachdächern – ihre Fassaden zerschossen, von Granaten beschädigt oder zerstört. Kein Mensch weit und breit. Doch Alex weiß, dass sie da sind und ihn aus ihren Verstecken heraus beobachten.
Direkt vor ihm ist die baufällige Hütte. An den Schuppen ist ein Mann genagelt. In seinen Händen und Knöcheln stecken rostige Eisenstifte.
Alex legt den Finger auf den Abzug seines Gewehrs und kommt vorsichtig näher. Der Mann hebt mühsam den Kopf. Und jetzt erkennt Alex ihn: Ehsan, oder das, was von ihm übrig ist.
Ehsan blutet aus zahllosen Wunden.
Das hätte nicht passieren dürfen! Niemals!
»Alex«, flüstert Ehsan heiser. »Bitte!«
Gewaltsam riss sich Alex von der Vergangenheit los. Evelin saß ihm noch immer gegenüber. Sie schien sich keinen Millimeter bewegt zu haben.
»Er war nicht tot, als du ihn gefunden hast, nicht wahr?«, meinte sie leise, aber bestimmt.
Er wollte aufbrausen. Er wollte widersprechen. Ihr sagen, dass sie falschlag … Die Erinnerungen kamen zurück. Unaufhaltsam …
Ehsans Lippen sind geschwollen und aufgeplatzt. Sein Gesicht kaum zu erkennen. Er murmelt weitere Worte, die Alex nicht verstehen kann .
Alex lehnt sein Gewehr gegen die Hütte. Er tritt dicht an seinen Freund heran. Grün schillernde Fliegen erheben sich summend. Alex scheucht sie weg, doch sie bleiben in der Nähe. Er hört sie weiterhin. Sie warten nur darauf, sich erneut auf seinem Freund niederzulassen.
Ehsans Kleidung ist blutdurchtränkt und zerrissen. Dort, wo das Messer durch den Stoff gerammt worden ist.
Behutsam knöpft Alex Ehsans grüne Jacke auf. Ehsan keucht und stöhnt. Alex zieht das T-Shirt seines Freundes ein Stück hoch und schaut darunter. Ehsans Bauch ist von links unten nach rechts oben aufgeschlitzt. Die Därme quellen rötlich-weiß heraus. Schnell lässt Alex das Shirt fallen und bemüht sich, die Jacke wieder zu schließen.
»Bitte, Alex«, murmelt Ehsan. »Bitte.«
Alex’ Blick fällt auf Ehsans Schritt. Auch dieser Bereich ist rot und die Hose blutdurchtränkt. Sie haben seinen Unterleib verstümmelt.
»Bitte«, flüstert Ehsan erneut. »Bitte…«
Alex erstarrt. »Nein«, presst er fieberhaft heraus. »Ich bringe dich zurück. Zu unserem Arzt. Der wird…«
»Bitte, Alex … Sieh mich doch an…«
Alex vermag sich nicht zu rühren.
»Bitte…«
Alex’ Hand tastet nach der Pistole im Holster. Er zieht sie heraus, spannt sie und drückt Ehsan die Mündung des Laufs an die Unterseite des Kinns.
»Bitte, bitte, Alex. Du bist mein bester Freund. Ich … ich halte das nicht mehr aus. Es geht nicht…«
Alex drückt ab. Ein ohrenbetäubender Knall. Der Schall wird vielfach von den steinernen Wänden der Häuser zurückgeworfen.
Alex schloss kurz die Augen und öffnete sie. Er atmete durch.
Evelin musterte ihn emotionslos. »Du hast ihn erschossen.«
»Es ging nicht anders.« Seine Stimme klang rau.
»Ehsan wäre ohnehin gestorben?«
Er musste sich mehrmals räuspern. »Die Verletzungen, sie waren zu schwer. Die Schmerzen, diese fürchterlichen Schmerzen. Er konnte sie nicht ertragen. Kein Mensch könnte das.«
Sie deutete auf die Waffe. »Du hast diese Pistole benutzt.«
Woher wusste sie das? Er nickte.
»Und deswegen trägst du sie immer bei dir.«
»Ja. Ich will nicht vergessen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du lügst.«
»Wie bitte?« Zorn flammte in ihm auf. Woher nahm sie das Recht zu behaupten, er würde…
»Du hast die Waffe auch aus einem anderen Grund behalten«, beharrte sie unbeeindruckt.
Alex musste blinzeln.
»Wenn du es nicht mehr aushalten kannst, willst du sie bei dir benutzen«, sagte sie.
Das war sie: die nackte, ungeschminkte Wahrheit. Er hatte sich gescheut, sie auszusprechen – aus Angst, was sein Geständnis bei ihm selbst anrichten würde. Doch jetzt … seltsamerweise fühlte es sich anders an, als er befürchtet hatte. Wie? Leichter? Besser.
»Ich habe recht«, sagte sie. »Die Waffe ist für dich bestimmt.«
»Ist das so offensichtlich?«, fragte er.
»Ist es.« Sie hob die Augenbrauen kurz an. »Deshalb trinkst du jeden Abend. Deshalb gerätst du in Schlägereien. Du versuchst mit aller Macht, dich selbst zu zerstören.«
Das ging zu weit!
»Schwachsinn!«, zischte er. »Warum sollte ich das tun? Hältst du mich für verrückt?«
»Verrückt?« Ihr Kopfschütteln kam prompt und deutlich. »Ganz sicher nicht. Du bestrafst dich, weil du dir selbst nicht verzeihen kannst, dass du überlebt hast und Ehsan nicht.«
Alex merkte, dass er am äußersten Rand des Sofas hockte. Er lehnte sich zurück.
»Wenn du willst, kannst du heute Nacht hierbleiben«, sagte sie. »Auf der Couch.«
»Ich möchte dir keine Umstände machen«, erwiderte er automatisch, obwohl er in diesem Moment alles andere wollte, als allein in die Dunkelheit hinauszugehen.
Sie lächelte. Das erste Mal an dem Abend. Ein warmes, offenes Lächeln. »Das sind keine Umstände unter Freunden.«
Sie erhob sich, nahm die Decke vom Kissen, ging zu ihm und drückte ihn sanft zur Seite. Er ließ es geschehen, legte sich hin, und sie breitete die Decke über ihm aus.
»Gute Nacht.« Sie machte Anstalten, sich abzuwenden.
»Du musst keine Angst haben«, sagte er.
Sie sah ihn an.
Er deutete auf die Pistole und wiederholte: »Du musst keine Angst haben.«
»Habe ich auch nicht«, erwiderte sie. »Schlaf gut.«
Sie drehte sich um, trat zur Tür und schaltete das Licht aus.
»Bis morgen«, sagte sie dabei.
»Bis morgen«, antwortete er.