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Im Esszimmer stand ein einzelner Tisch, aus dunklem Eichenholz gefertigt und spärlich verziert. Er stammte von meiner Großmutter. Meine Schwester hatte ihn bei ihrem Auszug zurückgelassen. Vermutlich, weil er ihr zu wuchtig oder zu altmodisch war. Mir gefiel er.
In der Zwei-Zimmer-Wohnung in Wiesbaden hatte ich nicht viel Platz für Möbel gehabt. Und den Vorsatz, mir passende Stühle, ein paar Kommoden und eine Vitrine für das Haus anzuschaffen, hatte ich noch nicht in die Tat umsetzen können. Entsprechend sah der Raum aus: Ich nutzte ihn derzeit als Lager und hatte einen Teil meiner Umzugskartons hineinstellen lassen. Sie warteten darauf, ausgepackt zu werden. Nicht einmal dazu war ich gekommen.
Ich holte zwei Hocker aus der Küche, kramte die weiße, feine Tischdecke aus einer der Boxen sowie das gute Porzellan – Indisch Blau mit dem Strohblumenmuster – und richtete alles her. Ich hatte Brötchen und Croissants besorgt, tat sie in eine Schale und platzierte sie zusammen mit
Butter, Marmelade, Honig, Müsli und Milch auf dem Tisch. Schließlich das Stövchen mit der Kaffeekanne. Fertig.
Ich trat einen Schritt nach hinten und begutachtete kritisch mein Werk. Eine Oase inmitten von Chaos – nicht perfekt, aber das Beste, was unter den gegebenen Umständen möglich war.
Wann hatte ich das letzte Mal Frühstück nicht nur für mich gemacht? Es war schon lange her.
Ich hörte im ersten Stock eine Tür ins Schloss fallen, und kurz darauf kam Alex die Treppe herunter. Seine Haare waren feucht vom Duschen. Auf seinen Wangen lag ein blauschwarzer Schatten. Ich hatte ihm zwar mit einer neuen Zahnbürste ausgeholfen, doch mit einem Rasierer konnte ich nicht dienen. Er sah gut aus mit dem beginnenden Stoppelbart. Gab ihm einen verwegenen Ausdruck, vor allem zusammen mit dem offenen weißen Hemd, das er sich im Gehen zuknöpfte.
Ich zwang meine Gedanken in eine andere Richtung.
»Frohe Ostern«, begrüßte er mich und lächelte ein wenig verlegen.
»Frohe Ostern«, erwiderte ich. Mit einer einladenden Handbewegung wies ich auf den Tisch. »Bitte schön.«
War das jetzt übertrieben von mir?
, dachte ich im nächsten Moment.
Doch er meinte: »Sehr gerne«, während er sich setzte.
Ich nahm ihm gegenüber Platz.
Als hätten wir das schon hundertmal gemacht, griff Alex nach der Kanne und goss mir ungefragt Kaffee ein, reichte mir die Tasse und schob Milch und Zucker in meine Richtung. Dann bediente er sich selbst.
»Danke für das Hemd«, sagte er. »Ein kleines Wunder: frisch gewaschen.«
Jetzt musste ich lächeln. »Keine Ursache. Meine Maschine hat ein fünfzehnminütiges Blitzprogramm, und der Trockner hat auch nicht viel länger gebraucht.«
Ich deutete auf die Schale mit dem Gebäck. »Ich wusste nicht genau, was du normalerweise zum Frühstü
ck magst.«
»Brötchen sind prima«, meinte er.
Eine Weile blieben wir still und aßen.
Er hob den Blick und schaute sich um. »Ist schön hier«, stellte er fest.
»Das wird es einmal, wenn ich jemals mit dem Auspacken fertig sein werde«, erwiderte ich.
»Trotzdem.« Er sah auf den Tisch. »Das Zimmer wirkt sehr … persönlich.«
»Das kann man gar nicht verhindern«, sagte ich. »Wenn man sich irgendwo längere Zeit aufhält, nimmt man das direkte Umfeld unweigerlich in Beschlag, gibt ihm seine eigene Note.«
Er schien aufzuhorchen. »Immer? Ich hatte früher meine eigenen vier Wände, aber das ist eine andere Geschichte. Seitdem ich das Haus durch die Scheidung verloren habe, bewohne ich mehr oder weniger lediglich einen Raum in meinem Apartment.«
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Ja, das ist immer der Fall. Du magst dich auf eine überschaubare Fläche beschränken, weil dir das reicht. Das ist okay. Trotzdem hast du dort die Dinge, die dir wichtig sind. Richtig?«
Er überlegte kurz. Dann nickte er. »Richtig.«
Ich nickte ebenfalls. »Selbst in Hotels geht es mir so. Spätestens nach einer halben Stunde habe ich meine Sachen verteilt, wie ich sie brauche und wie es mir gefällt. Gleichsam ein Fingerabdruck der eigenen Persönlichkeit … Aber warum fragst du?«
»Warum? Ich habe mir mit Strobelsohn das Zimmer von Suzanne Carstens angesehen.«
»Das in der Villa?«
»Genau. Du wolltest es ja bewusst nicht besichtigen.«
Ich nickte. »Sonst wäre ich ihr gegenüber voreingenommen gewesen.«
»Letztendlich hast du nichts verpasst.« Er griff sich ein zweites Brötchen und schnitt es auf
.
»Wieso?«
Er schmierte sich Butter auf beide Hälften. »Weil da fast nichts war. Es wirkte … steril … wie aus einem Möbelhaus. Du weißt schon, wo sie Buchattrappen aus Pappe platzieren, vorzugsweise Goethe, damit es wohnlich erscheint.« Er nahm sich Honig. »Das hat mich und Strobelsohn verwundert.«
»Wirklich? Mich überrascht das gar nicht.«
»Nein?«
»Nein. Überleg doch mal: Sie hat jahrelang den Missbrauch ihrer Mutter in der Villa mitbekommen. Sie muss es dort gehasst haben. Sie war gezwungen, sich in dem Haus aufzuhalten. Aber sie hat in Blankenese weder gewohnt noch gelebt
.«
Alex verzog den Mund. »Nicht böse gemeint … Vielleicht ist sie nur ein Psycho. Ein Wrack. Gestört und nicht in der Lage, ihrer Umgebung einen eigenen Touch zu geben.«
»Das stimmt nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Du vergisst die Ad Astra. Ihr Schiff. Jeder Quadratzentimeter atmet ihre Persönlichkeit. Das Boot ist individuell ausgestattet. Mit den Gegenständen, die ihr etwas bedeuten. Dort lebt sie, in den Momenten, in denen sie sich auf der Ad Astra aufhält.« Ich stockte. »Wahrscheinlich hat das ihre Mutter schon so gemacht und sie hat es von ihr übernommen.«
»Hm.« Alex starrte ins Leere.
»Woran denkst du?«, fragte ich ihn.
Er blickte mich an. »Ich würde das Boot zu gerne mal näher inspizieren.«
»Was hält dich davon ab?«
»Nun … Suzanne Carstens darum bitten, mag ich nicht. Und ich bekomme niemals einen Durchsuchungsbeschluss, nur, weil ich mich mal umschauen möchte.«
»Den benötigst du nicht«, sagte ich. »Ich weiß, wo der Schlüssel zur Kajüte versteckt ist.«
Er runzelte die Stirn. »Deswegen kann ich doch nicht einfach…«
»Aber ich kann«, unterbrach ich ihn. »Ich bin keine Staatsanwältin. Und wie mir gerade einfällt, muss ich dort
meinen heiß geliebten Füller verloren haben. Unten in der Kajüte. Den brauche ich unbedingt.« Ich grinste.
Alex’ Gesichtsausdruck zeigte mir deutlich, dass er nicht überzeugt war.
»Du begleitest mich.«
Er nagte kurz an der Unterlippe. »Und wenn mich jemand sieht? Was dann?«
Ich grinste breiter. »Am Vormittag nach dem Osterfeuer? An dem kleinen Hafen? Die schlafen doch alle ihren Rausch vom Vortag aus.«