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Strobelsohn war mit Henrik ins Büro gegangen, um die Zeugenaussagen zu sichten. Beide hatten nicht begeistert gewirkt. Ich konnte das verstehen. Sie hatten sich auf den ersten freien Tag seit über einer Woche gefreut, nun wurde wieder nichts daraus.
Hamdy begleitete die Überreste der Opfer in die Pathologie. Er hatte vor, die Obduktionen unverzüglich durchzuführen.
Mittlerweile war es kurz nach eins. Alex und ich konnten im Augenblick nichts weiter unternehmen. Ich zögerte, dann fragte ich ihn, ob er Lust hatte, mich zu einem Mittagessen bei Georgios zu begleiten. Er sagte sofort zu. Anscheinend ging es ihm wie mir: Er hatte niemanden und wollte am Ostersonntag nicht allein sein. Oder wollte er außerhalb des Dienstes mit mir Zeit verbringen?
Was für ein Unsinn! Ich verbannte diese kindischen Gedanken, die ohnehin zu nichts führen würden. Stattdessen lehnte ich mich auf dem Beifahrersitz zurück, überließ mich dem Moment und genoss die Fahrt. Alex verstand, mit einem Auto umzugehen. Ruhig glitten wir dahin .
Weder er noch ich verspürten das Bedürfnis, zu reden. Die Stille tat mir gut.
Nicht nur wir beide waren auf die Idee gekommen, am Feiertag auswärts essen zu gehen. Die Parkplätze beim Poseidon waren allesamt belegt. Schließlich fand Alex eine Lücke drei Straßen weiter. Er stellte den BMW ab und wir stiegen aus. Es war kühl, aber es roch nach Frühling. Gemeinsam schlenderten wir die Uferpromenade der Alster entlang.
Ich blieb stehen und beobachtete ein Tretboot, in dem eine vierköpfige Familie saß. Die Kinder waren noch klein. Alle trugen leuchtend rote Schwimmwesten. Lachend zogen sie an uns vorbei. Dabei hinterließen sie eine weiße Spur aus Gischt im dunklen Wasser.
»Schrecklich«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Hm?« Alex warf mir einen Blick zu.
»Was Menschen anderen Menschen antun.«
Er nickte. »Folter ist immer furchtbar.«
Ich schaute auf den Fluss und die fröhlichen Passanten und versuchte, die belastenden Eindrücke vom Osterfeuer zu verdrängen. Es gelang mir nicht.
»Was ist los?«, fragte mich Alex nach einer Weile.
Jetzt erst wurde mir bewusst, dass er mich die ganze Zeit über gemustert hatte. Seltsamerweise machte mir das jedoch nichts aus.
»Wenn jemand foltert«, sagte ich, »benötigt er Platz und Abgeschiedenheit. Er kann Störungen nicht gebrauchen. Er muss sich auf seine Arbeit konzentrieren können.«
»Das ist richtig«, bestätigte Alex.
Ich wandte mich ihm zu. »Die Frage ist, wo man das in Hamburg findet.«
»Gibt tausend Orte.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Stadt ist riesig.«
»Schon, aber als Auswärtiger? … Wenn wir davon ausgehen, es handelt sich bei den Verhörmethoden um Techniken des ehemaligen KGB, dann ist derjenige, der sie angewandt hat, nicht unbedingt von hier. Dann kennt er sich nicht besonders gut aus. Wo würde so jemand hingehen?«
Alex ließ sich mit der Antwort Zeit. »Er würde einen Ort wählen, der ihm bekannt ist.«
Wir verstummten.
»Und angenommen«, setzte ich erneut an, »dass die Toten aus dem Osterfeuer und der Container voll erstickter Frauen zusammenhängen: Können wir es dann eingrenzen?«
Alex blies die Wangen auf und ließ die Luft hörbar ausströmen. »Keine Ahnung. Die ganzen Bordelle … die Frauen werden zeitweise anderswo untergebracht, nur …« Er stockte und runzelte die Stirn.
»Du denkst an etwas Bestimmtes?«
»Die einzige Stelle, dir mir spontan einfällt … die abgeschieden liegt … außerhalb, aber nicht zu weit weg, müsste dieses Bauernhaus sein.«
»Welches Bauernhaus?«
»Das alte Gehöft, zu dem dieser Van-Carrier-Fahrer die vollen Container vom Burchardkai immer transportiert hat.«
Mein Herz begann vor Aufregung zu klopfen. »Hast du die Adresse?«
»Nicht hier. Im Büro, in den Akten.« Er zog die Augen zusammen. »Aber ich erinnere mich. Das Haus steht in der Nähe der Mellingburger Schleuse.«
»Ich kenne die Gegend von früher«, erwiderte ich. »Die Schleuse liegt im Norden der Stadt. Naturschutzgebiet – da gibt es nicht so viele Gebäude.«
»Außerdem steht das Bauernhaus seit Jahren leer«, sagte Alex. »Es müsste leicht zu finden sein.«
Ich sah ihn abwartend an.
»Willst du dahin?« fragte er.
Ich nickte.
»Jetzt?«
»Warum nicht. Oder hast du etwas Besseres vor?«
»Nein.« Er hielt inne. »Wir dürfen uns nicht zu viel davon versprechen. Selbst wenn dort die Folter stattgefunden haben sollte … Das waren Profis. Die haben das am Mittwoch beziehungsweise Donnerstag durchgezogen. Höchstwahrscheinlich in der Nacht von Freitag auf Samstag haben sie die Leichen im Osterfeuer deponiert. Heute ist Sonntag. Die sind sicher schon längst über alle Berge.«
»Anzunehmen«, gab ich ihm recht. »Aber wir hätten wenigstens den Tatort.«
Er lächelte leicht. »Könnte uns helfen.«
»Also« meinte ich. »Was hältst du von einem kleinen Ausflug?«
»Und das Mittagessen?«
Ich musste lachen. »Vorschlag: Wir lassen uns ein paar Snacks von Georgios einpacken und essen auf der Fahrt.«