53
Der Kies knirschte unter den Rädern des BMW. Alex ließ den Wagen bis weit in den Hof hinein rollen. Dann hielt er an und stellte den Motor aus.
Wir kletterten ins Freie.
Ich sah mich um. Eine richtige Einöde. Kein Nachbar, kein Mensch weit und breit. Undeutlich vernahm ich aus der Ferne das Rauschen von Wasser. Das musste die Schleuse sein.
»Hier war ewig niemand mehr«, sagte ich. »Ich glaube, den Weg hätten wir uns sparen können.«
»Vermutlich hast du recht«, erwiderte Alex. »Aber wenn wir schon da sind, schadet es nicht, sich einmal umzusehen.«
Ohne auf meine Antwort zu warten, setzte er sich in Bewegung und ging zielstrebig zum Bauernhaus. Ich folgte ihm.
Er probierte die Tür. Zu meinem großen Erstaunen war sie nicht verschlossen. Sie gab nach. Alex stemmte sich mit der Schulter dagegen und sie öffnete sich. Die verrosteten Angeln protestierten mit einem durchdringenden Quietschen.
Ein Geräusch – ähnlich einem zornigen Fauchen – und etwas sprang uns entgegen. Unwillkürlich machte ich einen Satz nach hinten. Ein braun getigertes Pelzknäuel schoss zwischen Alex und mir hindurch und verschwand im nahe gelegenen Unterholz.
»Wildkatze«, bemerkte Alex.
»Ach wirklich?«, gab ich schnippisch zurück.
Er grinste.
Wir blickten ins Gebäude. Ein ausgeräumter Flur voller Spinnweben. Überall dicker Staub am Boden mit deutlichen Pfotenabdrücken. In einer der Ecken lag ein toter Vogel. Eine schmale Treppe führte in das Obergeschoss hinauf.
Wir traten ein. Alex wandte sich nach rechts dem ersten Zimmer zu.
»Warte«, sagte ich und hielt ihn am Ärmel fest.
Er drehte sich halb zu mir um. »Was ist?«
»Dein Mantel. Er ist schmutzig.«
»Ach verdammt«, meinte er, während er auf seine Schulter schielte. »Das ist bestimmt die Farbe der Tür. Sie muss abgeblättert sein.«
»Bleib stehen.« Ich bemühte mich, ihm die Stelle abzuklopfen.
»Danke«, meinte er. Er schlüpfte aus dem Trenchcoat, schüttelte ihn kräftig und legte ihn sich über den Arm. »So geht es auch.«
Gemeinsam erkundeten wir das Erdgeschoss. Mehrere eher kleine Zimmer, allesamt leer. Einige der blinden Fensterscheiben waren eingeschlagen.
»Was für eine Bruchbude«, bemerkte er.
»Ich weiß nicht, was du hast«, sagte ich. »Mit ein wenig Fantasie könnte man daraus ein Schmuckstück machen.«
»Schmuckstück .« Er verzog spöttisch den Mund. »Mit Fantasie allein kommst du nicht weit. Da musst du schon richtig Geld in die Hand nehmen.«
»Ja, und? Hamburg ist teuer. Und ein freistehendes Haus in der Stadt und doch in der Natur … Ich finde, das hat was.«
Wir waren wieder im Flur angelangt .
Alex betrachtete nachdenklich die Treppe. Er packte den wackeligen Handlauf und stieg zwei Stufen empor. Die Bohlen unter seinen Füßen knarzten und knackten bedenklich.
»Willst du da wirklich rauf?«, fragte ich ihn.
»Warum nicht?«
»Warum? Weil die Treppe vielleicht unter dir zusammenkrachen könnte?«
»Unsinn.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
»Okay«, sagte ich zu seinem Rücken. »Ich habe dich gewarnt. Ich stöbere noch ein wenig hier unten herum.«
»Bis gleich«, meinte er und verschwand aus meinem Sichtfeld.
Ich hörte seine Schritte über mir, während ich noch einmal die Räume inspizierte. Ich erreichte die Küche. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Tür.
»Hier sind Schwalbennester!«, rief Alex von oben. »Und Vogelkacke.«
»Selber schuld! Du musstest ja unbedingt da hinauf«, gab ich laut zurück.
Ich öffnete die Tür.
Der Stall. Natürlich. Den hatte ich bei der Herfahrt gesehen. Er war ins Haus integriert. Praktisch. Und er roch ganz leicht, wie es im Stall für gewöhnlich riecht. Nach Heu und Stroh und nach etwas anderem, was ich nicht einordnen konnte.
Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Ich spähte ins Dunkel, vermochte jedoch nicht allzu viel zu erkennen. Taschenlampe – ich langte in die Jacke, holte mein Handy heraus. Mit gesenktem Kopf suchte ich die App…
Ich wurde an den Oberarmen gepackt, ein eiserner Griff. Jemand zerrte mich nach vorn. Ich strauchelte, bekam einen Schlag auf die Schläfe. Der Schmerz explodierte in meinem Gehirn, das Telefon entglitt mir und ich sank kraftlos zu Boden.
Bewusstlosigkeit drohte mich zu verschlingen. Ich kämpfte dagegen an, spürte, wie meine Arme nach hinten gebogen wurden. Feurige Klammern schnitten sich tief in meine Handgelenke. Ich wurde gefesselt – vermutlich mit einem Draht oder einem Kabelbinder. Ein Stück Tuch wurde mir in den Mund gestopft. Es stank, ich würgte, bekam kaum mehr Luft.
Mein Angreifer schleifte mich wie einen nassen Sack weiter in den Raum hinein, weg vom Eingang. Dort ließ er mich achtlos liegen.
Wellenartig kam die Ohnmacht zurück. Doch ich gab ihr nicht nach.
Wie durch einen Nebel drang das dumpfe Geräusch von Schritten zu mir. Es kam von direkt über mir. Das musste Alex sein.
»Eine alte Kommode haben die früheren Bewohner stehen lassen!«, rief er. »Nagespuren. Sieht aus, als hätten sich Tiere daran zu schaffen gemacht. Ich gucke lieber nicht rein, sonst springt mich vielleicht auch noch eine Ratte an!«
Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Durch die Ritzen in den vernagelten Fenstern krochen Reste des Tageslichts zu mir herein und auch durch die offene Tür gelangte etwas Helligkeit in den Stall. Jedes Mal, wenn sich Alex im ersten Stock bewegte, rieselten Staub und Sand herunter. Die kleinen Partikel tanzten im spärlichen Schein in der Luft, bevor sie im Nichts verschwanden.
Jetzt sah ich meinen Angreifer. Ein großer, bulliger Kerl. Er lauerte an die Wand gepresst links vom Eingang. In seiner Hand hielt er eine Pistole.
Ein Hinterhalt , dachte ich. Er wird Alex überwältigen .
Mein Herz begann wie verrückt zu schlagen und mein Blick irrte umher. Er blieb an der Decke hängen. Dort hatte man einige schwere Metallhaken in die schwarzen Holzbalken gedreht. Am Boden darunter dunkle Lachen. Eingetrocknetes Blut. Daneben lagen … ich konzentrierte mich … Gasmasken. Zwei Stück.
Alex’ Worte kamen mir in den Sinn. Was hatte er vorhin gesagt? Bei den Resten des Osterfeuers, als uns Hamdy den Toten gezeigt hatte ?
In Afghanistan haben sie einen Staubsauger oder eine Absaugvorrichtung an eine Gasmaske angeschlossen. Das lässt die Opfer beinahe ersticken. Sie bezeichneten es als den Elefanten – eine weitere Variante aus dem umfangreichen Folterkatalog des KGB.
Lähmende, eiskalte Panik breitete sich in mir aus. Hier würde ich umkommen. Hier würden Alex und ich sterben. Wie die beiden Hafenmitarbeiter. In diesem Stall waren sie gequält worden.
Ein Rumpeln über mir. »Ich habe die Kommode doch aufgemacht!«, hörte ich seine Stimme. »Du hast nichts verpasst. Sie ist leer.«
Seine Schritte entfernten sich. Er stieg die Treppe herunter.
Ich musste ihn warnen. Das war unsere einzige Chance. Unsere letzte Chance.
Ich versuchte, mich zu befreien, wand mich hin und her. Der Schmerz an meinen Gelenken wurde unerträglich. Beinahe verschluckte ich den stinkenden Knebel. Erneut würgte ich. Kein noch so leiser Ton drang aus meiner Kehle.
»Evelin, da braucht es richtig Schotter, um das herzurichten!«, redete Alex laut weiter. »Aber ich gebe dir recht. Der Ausblick von oben … es könnte sehr reizvoll werden und würde sich lohnen.«
Er nahm weitere Stufen nach unten. Meine Angst steigerte sich ins Unermessliche.
Und dann … Ich konnte es nicht glauben. Er fing an, halb zu summen, halb zu singen. Stairway to Heaven .
Dieses bescheuerte, dämliche Lied! Warum summte er das ausgerechnet jetzt? Merkte er denn nicht, was mit mir los war? Warum fiel ihm nicht auf, dass ich seit geraumer Zeit nicht mehr geantwortet hatte?
Erneut krümmte ich mich zusammen in dem Bemühen, den Lappen auszuspucken. Erfolglos.
Alex’ Schatten fiel in den Raum. Dann trat er durch die offene Tür. Er sang noch immer. Leicht schräg. Stillvergnügt. Er hatte nicht das Geringste von dem mitbekommen, was mit mir geschehen war. Er ahnte nichts von der lauernden Gefahr .
Alex , rief ich ihm in Gedanken voller Verzweiflung zu. Bitte! Pass auf!
Mein Angreifer hob den Arm und drückte Alex die Mündung seiner Waffe gegen den Hinterkopf.
Schlagartig brach Alex’ Summen ab. Er blieb stehen.
»Du«, sagte der Fremde. »Knien.« Er sprach mit ausgeprägt russischem Akzent.
Ich verstand. Er hatte vor, Alex einen Genickschuss zu verpassen. Sauber und ordentlich – wie bei den Opfern vom Osterfeuer. Und dann war ich dran.
Alex würdigte mich keines Blickes. Stattdessen drehte er sich ohne jede Hast zu dem Russen um, den Mantel noch immer lässig über den Arm geworfen. So, als wäre nichts.
Die beiden Männer sahen sich an.
»Du.« Der Russe machte eine knappe Bewegung mit seiner Pistole. »Runter. Knien.«
Alex nickte einmal.
Ein Schuss ertönte. Und ein zweiter.
Der Russe wurde im Oberkörper getroffen. Er stolperte rückwärts gegen die Wand, an der er bis vor Kurzem gelehnt hatte, feuerte seine eigene Waffe ab. Ich spürte die Kugel dicht an meiner Wange vorbeifliegen.
Der Russe brach zusammen.
Alex ließ den Mantel fallen. Etwas Rauch stieg aus dem Stoff auf. In seiner Hand, die zum Vorschein kam, hielt er seine Pistole.