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Die Schüsse hallten in meinen Ohren nach. Wie erstarrt beobachtete ich Alex. Er trat direkt zum Toten und kickte ihm die Waffe aus dessen leblosen Fingern. Polternd rutschte die Pistole den Holzboden entlang.
Alex bückte sich, tastete mit der freien Hand nach der Halsschlagader des Russen. Dabei zielte er die ganze Zeit über auf ihn.
Einige Sekunden später, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, erhob er sich und eilte zu mir.
Er ging neben mir in die Hocke. Unsanft zerrte er den Knebel aus meinem Mund und konzentrierte seine Aufmerksamkeit sogleich auf den Eingang. Noch immer hielt er seine Pistole in der Hand.
Ich würgte, musste beinahe brechen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte. Er ließ die Tür nicht aus den Augen. Er wirkte ruhig, aber ich fühlte genau, dass er sich in äußerster Anspannung befand.
Ich atmete mehrmals tief durch und räusperte mich schließlich. »Mir geht es gut«, brachte ich heraus. »Den Umständen entsprechend.«
»Deine Fesseln«, sagte er. »Komm näher.«
Ich rutschte ein Stück zu ihm und drehte ihm den Rücken zu.
Er tastete nach meinen Handgelenken und versuchte mit der Linken, die Kabelbinder zu lockern. Es gelang ihm nicht.
Ein Scheppern. Gleich darauf ein lautes Krachen. Draußen, nicht weit von uns entfernt.
Alex hob die Waffe und visierte den Eingang an.
»Was war das?«, flüsterte ich.
»Still!«, gab er zurück.
Ich verstand. Der Russe war nicht allein gewesen. Er hatte mindestens einen Partner. Und der oder die würden gleich den Raum stürmen, um das zu beenden, was ihr Freund nicht geschafft hatte.
Die Furcht schoss in mir hoch. Der Puls hämmerte mir schmerzhaft in den Schläfen.
Ein Motor wurde angelassen, heulte auf und dann raste ein Wagen an dem Haus vorbei. Zahllose Kieselsteine prasselten wütend gegen die vernagelten Fenster.
Alex kam blitzschnell auf die Beine. »Ich bin sofort zurück. Bleib hier!«
Er rannte aus dem Stall. Kurz hörte ich seine sich entfernenden Schritte … und dann nichts mehr.
Meine Panik drohte mich zu zermalmen. Ich musste etwas tun, mich befreien und vorbereiten, falls Alex nicht zurückkehrte, sondern …
Die Waffe des toten Russen! Schnell – ich ließ mich auf den Rücken fallen, winkelte die Beine an. Ich ignorierte das schier unerträgliche Brennen und Stechen in meinen Handgelenken und zwang die gefesselten Arme zentimeterweise unter meinem Gesäß vorbei, die Hinterseite der Oberschenkel entlang bis über meine Füße.
Meine Hände waren wieder vorn .
Taumelnd stand ich auf, hastete zu der Pistole des Toten und nahm sie an mich.
Schritte im Flur.
Bebend hob ich die Waffe. Mein Finger legte sich auf den Abzug.
»Ich bin’s, Evelin«, sagte eine Stimme. Alex.
Er kam in den Raum, bedachte die Pistole in meiner Hand mit einem kurzen Blick und nickte.
Ich ließ die Arme sinken. Tränen kamen mir in die Augen. Ich blinzelte sie weg.
»Und?«, fragte ich mit rauer Stimme.
»Da war mindestens noch einer«, sagte Alex. »Der ist abgehauen.«
Meine Anspannung ließ nach. Auf einmal merkte ich, dass ich von dem seitlichen Schlag heftige, migräneartige Kopfschmerzen hatte.
Ich riss mich zusammen. »Wollen wir hinterher?«
»Der ist längst über alle Berge.« Alex sicherte seine Pistole und steckte sie ins Holster zurück, das er am Rücken trug.
»Hast du sein Nummernschild erkannt?«
»Nein. Keine Chance. Es war ein grauer Toyota.«
Ich unterdrückte ein Zittern.
Er kam zu mir, legte den Arm um mich und hielt mich fest. Wäre zwar nicht nötig gewesen, aber es war in diesem Moment genau das Richtige.
»Und nun zeig mir die verdammten Kabelbinder, damit ich dich endlich davon befreien kann«, sagte er schließlich.