55
Alex und ich benutzten den hinteren Ausgang des Stalls und traten ins Freie. Das ferne Rauschen des Wassers drang zu uns, über uns fegten dunkle Wolken Richtung Küste.
Meine Handgelenke brannten wie Feuer. Sie waren wund. Die Fesseln hatten sich tief in die Haut geschnitten. Der bösartige Schmerz an der Seite meines Kopfes kam schwallweise. Ich ignorierte ihn, so gut es ging.
Das Tor der Scheune stand weit offen. Ich bemühte mich, im Inneren etwas zu erkennen, aber die Entfernung war zu groß und der Raum selbst zu dunkel.
»Ich muss die Kollegen informieren«, sagte Alex.
»Sicher«, erwiderte ich.
Alex nahm sein Handy aus der Tasche, und ich hörte, ohne auf seine Worte zu achten, wie er telefonierte. Irgendwann war er damit fertig. Wahrscheinlich hatte das Gespräch nur eine Minute gedauert, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor.
»Strobelsohn und Henrik sind mit einem Team unterwegs«, sagte er .
Ich nickte und starrte weiter auf die Scheune. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass auch er sich auf das Gebäude konzentrierte.
»Die werden sich die ganze Zeit über da drinnen versteckt gehalten haben«, meinte Alex nach einer Weile.
»Das nehme ich auch an«, erwiderte ich.
Noch immer schauten wir zu dem Schober.
Er atmete durch. »Die Kollegen von der Spurensicherung werden dort alles gründlich untersuchen.«
Ich schwieg.
»Das ist das Prozedere«, fuhr er fort. »Wir sind Beteiligte. Wir können und dürfen da jetzt nicht …« Er brach ab.
Ich blieb still.
Er räusperte sich. »Du bist der Meinung, wir sollten uns das ansehen. Jetzt.«
Ich nickte erneut und wandte mich ihm zu.
Er öffnete den Mund zu einer Antwort, schloss ihn wieder. Dann sagte er: »Okay.«
Gemeinsam liefen wir über den verwahrlosten Kies. Meine Absätze versanken halb zwischen den kleinen Steinen. Es knirschte bei jedem unserer Schritte.
Im Gehen zog Alex seine Waffe aus dem Holster und ließ sie locker an seiner Seite herabhängen.
»Bleib hinter mir«, murmelte er, während wir uns in einem Bogen der Scheune näherten.
Wir hatten den linken Flügel des verwitterten Holztors erreicht. Vorsichtig lugte Alex um die Ecke.
»Ein Wohnwagen«, sagte er leise.
Er gab mir ein unmissverständliches Zeichen, mich nicht vom Fleck zu rühren, brachte seine Pistole in Anschlag und schlich sich hinein.
Ich wartete nur kurz und folgte ihm.
Leicht gebückt pirschten wir uns an den Wohnwagen heran. Er war staubig und dreckig, wirkte älter. Er stand schon länger hier.
Alex stellte sich seitlich neben den schmalen Einstieg. Ich presste mich hinter ihn gegen den Trailer. Blitzschnell riss Alex die Tür auf und verharrte.
Wir lauschten. Nichts.
Millimeterweise schob er sich mit erhobener Pistole vor, bis er den Innenraum einsehen konnte. Er schaute nach links, er schaute nach rechts, atmete erleichtert aus und ließ die Waffe sinken.
»Niemand da«, sagte er.
Ich trat zu ihm, blickte ebenfalls in den Wohnwagen. Zwei Schlafgelegenheiten mit zerwühlten Decken, Bierdosen und Schnapsflaschen, Verpackungsmüll, schmutziges Geschirr in der kleinen Spüle. Auf der Kochplatte mehrere ineinander gestapelte Töpfe.
An der Wand mir gegenüber hingen Fotografien. Im DIN-A4-Format, wie aus einem Drucker.
Ich deutete hin. »Was ist da drauf? Kannst du das erkennen?«
Anstatt zu antworten, zog Alex sein Handy heraus und schaltete die Taschenlampe an.
Fotos von verschiedenen Personen. Manche waren mit einem roten Filzstift durchgestrichen. Ein Mann und eine Frau.
»Wer sind die zwei?«, fragte ich Alex.
Er biss sich auf die Unterlippe. »Die beiden Opfer vom Osterfeuer. Der Van-Carrier-Fahrer und die Mitarbeiterin vom Zoll.«
Das waren aber nicht die einzigen Bilder an der Wand. Die Mörder hatten noch vier weitere Fotos angepinnt. Und diese waren nicht markiert.
»O mein Gott!«, stieß ich hervor. »Das ist Suzanne Carstens. Du musst sofort Strobelsohn verständigen!«
Alex hatte das Telefon bereits am Ohr. Das Licht der Taschenlampe, die noch immer eingeschaltet war, tanzte durch den dunklen Raum. »Der Typ, den wir aufgescheucht haben, dieses mörderische Schwein ist unterwegs zu ihr«, sagte er zu mir, während er darauf wartete, dass Strobelsohn abnahm. »Suzanne Carstens ist die Letzte auf der Liste. Sie soll auch noch sterben.«