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Alex legte den Rückwärtsgang ein. Mit Schwung wendete er den Wagen, stellte die Automatik nahtlos auf D
und gab Gas. Evelin griff ans Armaturenbrett und stützte sich mit einer Hand ab, um durch den abrupten Richtungswechsel das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Schnell entfernten sie sich vom alten Bauernhaus. Der Wagen schien die Schlaglöcher des Klabautermann Stiegs bei hoher Geschwindigkeit besser zu bewältigen. Dennoch hatte Alex einen Moment lang Bedenken, dass die Ölwanne über kurz oder lang abreißen würde, was ihre Verfolgungsjagd jäh beendet hätte.
Er räusperte sich, bevor er deutlich sagte: »Wähle Strobelsohn.«
Das Freizeichen ertönte, die Verbindung wurde aufgebaut. Nach dem zweiten Signalton ein Krachen der Lautsprecher. Unmittelbar darauf erfüllte das durchdringende Kreischen einer Polizeisirene den Innenraum des BMW und weckte bei Alex das Gefühl, sich in einem Einsatzwagen zu befinden.
»Herr Strobelsohn?«, sagte Alex mit erhobener Stimme. »Sie sind auf dem Weg zu Frau Carstens’ Hotel?
«
»Ja«, erwiderte Strobelsohn. »Nach Ihrem ersten Anruf hat Herr Breiter sofort umgedreht. Wir haben Unterstützung angefordert. Zwei Beamte haben das Atlantic vorhin betreten. Wir haben aber bislang keinen Kontakt zu der Kollegin, die vor Frau Carstens’ Suite postiert ist. Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor. Ich…«
»Zwei einunddreißig, zwei einunddreißig, es gab einen Schusswechsel. Wir haben eine Geiselnahme. Benötigen zusätzliche Verstärkung. Polizeibeamte in Gefahr.« Strobelsohns Telefon übertrug den Polizeifunk aus dessen Fahrzeug in Alex’ BMW. »Ich wiederhole: Geiselnahme im Hotel Atlantic Kempinski, Polizistin in Gefahr. Alle verfügbaren Kräfte bitte melden. Das ist ein zwei dreißig – Hubschraubereinsatz. Zwei einunddreißig Hotel Atlantic Kempinski. Alle verfügbaren Kräfte, zwei dreißig – Stand-by.«
Eine andere Stimme meldete sich über Funk: »Der Verdächtige und seine Geisel haben den hinteren Lift abwärts genommen. Er führt vom Wellnessbereich zur Tiefgarage. Over.«
»Shit!«, fluchte Strobelsohn. »Haben Sie das mitbekommen, Herr Gutenberg?«
»Habe ich.« Alex biss sich auf die Unterlippe. Er erreichte die Autobahn und trat das Gaspedal stärker durch. Das Auto machte einen Satz nach vorn.
»Wo befinden Sie sich jetzt?«, fragte Strobelsohn zur gleichen Zeit.
Die plötzliche Beschleunigung drückte Evelin tief in ihren Sitz. »Wir sind noch immer zwanzig, vielleicht fünfzehn Minuten entfernt«, brachte sie heraus.
Der Polizeifunk ertönte erneut über die Harman-Kardon-Anlage des BMW. »Der Verdächtige hat das Gebäude in einem viertürigen schwarzen Mercedes der C-Klasse verlassen. Null einunddreißig, zehn sieben, Beamtin in kritischem Zustand. Ein Todesopfer in der Tiefgarage, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mitarbeiter des Hotels, der das gestohlene Fluchtfahrzeug parken wollte. Ich wiederhole: Der Verdächtige
biegt in die Straße Alstertwiete
ein. Er ist in einer schwarzen, viertürigen Mercedeslimousine unterwegs.«
Alex machte sich nicht die Mühe, zu fragen, ob die Unterstützung rechtzeitig eingetroffen war. Wie es schien, hatte sich alles innerhalb von Sekunden abgespielt. Aber diese kurze Zeitspanne war für den Täter mehr als ausreichend, um den Wachposten auszuschalten, Suzanne Carstens’ Suite zu betreten, sie zu töten und…
»O mein Gott, Suzanne!« murmelte Evelin neben ihm. Offenbar hatte sie die gleichen Schlussfolgerungen gezogen wie er.
Allerdings war per Funk bislang lediglich ein Todesfall gemeldet worden. Zuerst zögerte Alex, Evelin falsche Hoffnungen zu machen. Doch dann sagte er: »Es klingt so, als habe es nur eine Verletzte und ein Opfer gegeben.«
»Vielleicht sind sie in dem ganzen Chaos bei der Befreiung der Kollegin bisher nicht dazu gekommen, in Suzanne Carstens’ Suite nachzusehen«, erwiderte Evelin. Offenbar hatten seine beruhigenden Worte ihre Wirkung verfehlt und Evelins Bedenken nicht zerstreut.
Alex versuchte es erneut. »Dass die Beamtin als Geisel genommen wurde, deutet eher darauf hin, dass der Täter seinen Plan nicht ausführen konnte.« Seine Bemerkung klang selbst für ihn nicht überzeugend.
Evelin beachtete ihn nicht weiter. »Herr Strobelsohn, sind Sie noch dran?«
Alex presste die Lippen zusammen und warf einen flüchtigen Blick zur Anlage.
»Ja«, erwiderte Strobelsohn. »Bedauerlicherweise muss ich Ihnen sagen, dass ein schwarzer Mercedes in unserer Stadt auch mit Hubschrauberüberwachung nach zwei scharfen Kurven im Verkehr verschwindet.«
Henriks Stimme drang aus dem Lautsprecher: »Der Fahndungsaufruf ist raus. Die Beschreibung ist jedoch äußerst vage: ein Mann, rund eins achtzig groß, schlank,
russischer Akzent …« Henrik murmelte einen unterdrückten Fluch, gefolgt von: »Fahr zur Seite, du Idiot!«
Eine längere Stille und dann fügte er wesentlich beherrschter hinzu: »Die Beamtin, die er als Geisel genommen hat, kann uns Näheres sagen. Sie wird ins Krankenhaus gebracht. Allem Anschein nach hat sie eine Gehirnerschütterung, und es sieht so aus, als ob ihr Kiefer gebrochen wäre.«
Alex wartete, bis Henrik geendet hatte. »Gut«, meinte er und bemühte sich dabei um einen sachlichen Tonfall. »Irgendetwas Neues zu Suzanne Carstens?«
Keine Antwort.
Alex drehte den Kopf und schaute in Evelins erschrockene Augen.
»Wir haben noch nichts gehört«, durchbrach Strobelsohn das bedrückende Schweigen. »Wir nähern uns dem Hotel. Ich gebe Ihnen gleich Bescheid. Wir sind da. Ich lege jetzt auf.«
Die Verbindung wurde abgebrochen, die Lautsprecher gaben ein kurzes Knarzen von sich.
Stille. Nichts als das Motorgeräusch des BMW.
Alex entschied sich, den Mund zu halten. Stattdessen manövrierte er das Auto aggressiv durch den Verkehr. Evelin schwieg ebenfalls, ihr Gesicht starr nach vorn gerichtet.
Endlich. Das Atlantic Kempinski erschien vor ihnen. Alex verlangsamte und fuhr an den Seitenstreifen. Er steuerte einen freien Platz hinter einer Reihe polizeilicher Einsatzwagen an, die vor dem Eingang des Hotels Stoßstange an Stoßstange parkten. Er bremste, stellte den Motor ab. Hastig stiegen er und Evelin aus.
Strobelsohn und Henrik standen inmitten einer Gruppe von uniformierten Polizisten. Blaues Licht flackerte. Als sie Alex und Evelin näher kommen sahen, eilten sie ihnen entgegen.
Henrik sprach als Erster: »Suzanne Carstens geht es gut. Zwei Beamte sind gerade bei ihr.«
Evelin packte Alex’ Unterarm mit beiden Händen. »Ich sollte zu ihr gehen.« Sie sah ihn direkt an. »Kannst du den
Bericht über die Schüsse beim Bauernhaus allein schreiben? Ich komme mit einem Taxi nach und setze dann einfach meine Unterschrift mit drunter.«
Alex blickte zu Strobelsohn, der mit den Schultern zuckte und gleichzeitig zustimmend nickte.
»Ich denke schon. Ich werde meine Waffe den Ballistikern geben müssen, das wird ohnehin dauern. Lass dir Zeit.« Er strich ihr über den Handrücken und lächelte leicht.
Sie blickte auf seinen Mund und gab ihm sein Lächeln zurück.