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Henrik blätterte durch die Akte, bis er zu einer maßstabsgetreuen Fotografie des leeren, geöffneten Waffenkastens kam, der sich im Safe der Carstens-Villa befunden hatte.
Er legte das Bild auf den Tisch. Mit einer einladenden Geste seiner Hand forderte er Alex auf, die Aufnahme mit der Pistole aus dem Stall des Bauernhauses zu vergleichen. Alex hatte sie in einem verschließbaren Plastikbeutel sichergestellt und mitgebracht.
Alex hielt die eingepackte P 38 über das Foto. Er drehte sie hin und her.
»Die Gravuren auf der Waffe passen haargenau zu dem Muster, das sich in den Samt der Aufbewahrungsbox gedrückt hat«, sagte er. »Die Leute vom Labor sollten nicht lange brauchen, um festzustellen, ob das die Pistole ist, die beim Massaker im Keller der Carstens-Villa benutzt wurde. Ich muss meine SIG-Sauer ohnehin abgeben. Ich nehme die P 38 gleich mit.«
Henrik räusperte sich. »Ich kann das gerne für Sie ü
bernehmen.«
»Das ist sehr nett, Henrik«, sagte Alex wahrheitsgemäß. »Aber ich fürchte, die Leute vom Labor werden einige Fragen haben, die nur ich beantworten kann. Trotzdem vielen Dank.«
Er stand auf, nickte Henrik und Strobelsohn zu und verließ den Raum.
Er eilte den Flur entlang, angetrieben von der geschäftigen Hektik des LKA. Das Labor befand sich zwei Stockwerke tiefer. Im Hinblick auf die vielen Stufen kam Alex der Gedanke, dass er sich den Fragen der Ballistikabteilung zum Schusswechsel besser nicht erhitzt und außer Atem stellen sollte. Er zwang sich zu einem langsameren Tempo.
In der hintersten Ecke des dritten Stocks fand er das Labor. Alles lief glatt. Reine Routine: Er füllte ein dreilagiges Durchschreibformular aus, welches man zusammen mit seinem Bericht über den Vorfall in die elektronische Akte übernehmen würde. So unspektakulär die Abgabe verlief, wurde Alex bewusst, dass er sich von seiner Waffe das erste Mal seit seiner Rückkehr aus Afghanistan trennen musste.
Vielleicht würden sie ihm sogar ein psychologisches Gespräch nahelegen. Er musste grinsen, als ihm der flüchtige Gedanke kam, dass er das Angebot annehmen würde, wenn Evelin seine Supervisorin wäre.
Auf dem Rückweg ins fünfte Obergeschoss nahm er zwei Stufen auf einmal. Er fühlte sich befreit.
»Das ging aber schnell«, bemerkte Henrik, als Alex Strobelsohns Büro betrat.
Alex lächelte. »Es war ganz offensichtlich nicht das erste Mal, dass sie wegen eines Schusswaffengebrauchs im Dienst ermitteln müssen.« Er atmete durch und spürte im gleichen Moment, dass die Angst, nein, das Gefühl der Unsicherheit zurückkehrte. »Ich nehme an, letztendlich wird meine Schilderung des Tathergangs ausschlaggebend sein.«
Mit einem Mal lastete der Bericht schwer auf ihm. Der Killer hatte vorgehabt, sie beide zu töten. Er hatte auf sie geschossen. Alex musste in Notwehr handeln. Dennoch, eventuell war es wirklich besser, Evelins Ratschlag zu befolgen, die Reihenfolge
des Tathergangs ein wenig zu verändern
, um eine unnötige Ermittlung zu vermeiden. Bei dem Gedanken, wissentlich falsch auszusagen, wurde ihm schlecht. Plötzlich wünschte er sich, Evelin wäre zurück. Sie würde keine Zweifel am Ablauf der Ereignisse haben – wie sie sie den Behörden gegenüber darstellen würden.
»Kann ich an Ihren Laptop?«, fragte Alex Henrik.
Henrik nickte dienstbeflissen. »Sicher. Nur zu.« Mit einer ausholenden Bewegung zog er den Stuhl zurück.
Alex nahm am Computer Platz und klickte sich durch das elektronische Formular-Center des LKA, bis er zu dem Vordruck kam, den er ausfüllen musste.
Datum. Aktenzeichen. Art des Berichtes: Schusswaffengebrauch mit Todesfolge …
Alex blickte auf das ausgewählte Formblatt und dachte erneut an den Vorfall. Er hatte die Notwendigkeit zu schießen keinen Moment lang hinterfragt. Das war ihm nicht in den Sinn gekommen. Er hatte ganz automatisch gehandelt. Sollte er als Grund angeben, dass es ihm aufgrund seiner militärischen Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen war, bei Bedrohungssituationen entsprechend rigoros zu reagieren? Dass er keine andere Wahl gehabt hatte, als sich auf seine Instinkte zu verlassen? Bestimmt nicht. Damit würde er den Besserwissern von der Inneren genau die Gelegenheit geben, auf die sie warteten. Ohne mit der Wimper zu zucken, würden sie ihn in der Luft zerfetzen und ihm jedes einzelne seiner Worte im Mund herumdrehen. Sie würden eine offizielle Untersuchung ins Leben rufen, und er müsste wertvolle Zeit damit verplempern, sich zu rechtfertigen…
Nein. Alex schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. Auf ihn war geschossen worden, er und Frau Dr. Wolf schwebten in Lebensgefahr. Kurz und knackig.
Er drehte sich mit dem Schreibtischstuhl um, und Henriks Büro kam in sein Blickfeld. Der Kommissar und Henrik sahen ihn erwartungsvoll an
.
»Ich gehe davon aus, Frau Dr. Wolf wird eine eigene Niederschrift abgeben müssen. Vielleicht sollte ich auf sie warten – für den Fall, dass sie sich an etwas erinnert, was ich vergessen habe. Oder denken Sie, ich kann meinen Teil jetzt abschicken?«, fragte Alex und hatte im gleichen Augenblick Bedenken, ob das nicht zu verdächtig klang.
Strobelsohn schien seine Unsicherheit zu spüren. »Herr Gutenberg, machen Sie sich nicht verrückt. Um es mit den Worten unseres Polizeichefs Bolsen auszudrücken: Weniger ist mehr
.«
Alex räusperte sich. »Ich nehme an, da haben Sie recht.«
In Wirklichkeit war es Mies van der Rohe gewesen, einer der wichtigsten Architekten der Moderne, der diesen alten Spruch populär gemacht hatte. Nur hatte er die Redewendung auf Architektur und nicht auf die Polizeiarbeit bezogen. Aber sie passte auch hier.
Alex wandte sich wieder dem PC zu. Er betrachtete seinen Satz. Dann entschied er sich, zusätzlich zu erläutern, warum Evelin und er sich auf dem Grundstück befunden und aus welchem Grund sie sich getrennt hatten. Wie er in den kaum beleuchteten Stall gekommen war und Evelin geknebelt und gefesselt vorgefunden hatte. Und wie der bewaffnete Angreifer sich umgedreht und auf ihn geschossen hatte, als er eintrat.
Den Wortwechsel ließ er weg. Sollte ihn Evelin erwähnen, könnte man ihm kein fahrlässiges Versäumnis anlasten. Oder doch?
Alex las sich den gesamten Eintrag noch einmal durch.
»Ich sollte wirklich auf Frau Dr. Wolf warten«, sagte er. »Was kann es schaden?«
»Tun Sie, was immer Sie für richtig halten«, erwiderte Henrik.
Der junge Polizist lächelte hilfsbereit. Alex rätselte, ob Henrik sich jemals in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Vermutlich nicht. Henrik hätte eine solche Geschichte nicht für sich behalten. Aber Alex war nicht hundertprozentig
zufrieden. Er wusste, er selbst würde diese Details niemals mit seinen Kollegen teilen. Vielleicht hatte Henrik doch…?
»Herr Breiter, mussten Sie bereits einmal einen solchen Bericht einreichen?«, fragte Alex.
»Nein«, kam Henriks prompte Antwort. »Aber Herr Strobelsohn schon. Er kann Ihre Fragen zum Ablauf bestimmt beantworten.«
»Henrik.« Gert Strobelsohn schüttelte ungläubig den Kopf. »Der Ablauf ist doch gar nicht das Thema!«
»Ich bin nicht wegen der Formalitäten besorgt«, bestätigte Alex.
Strobelsohn schürzte den Mund. »Richtig. Wissen Sie, niemand ist interessiert an einer Hexenjagd. Diese Dokumentation ist nur ein notwendiges Übel, die ganze Bürokratie drumherum ebenfalls … wie der Einsatz der Dienstwaffe manchmal leider unvermeidbar ist.«
Alex nickte. Er wandte sich zurück zum Monitor, überflog seine Zusammenfassung ein letztes Mal und drückte den dreidimensional wirkenden Knopf mit der Aufschrift Senden
.
Erledigt.
Das belastende Gefühl im Magen verlagerte sich in seine Knie. Er stemmte sich mit den Füßen am Boden ab und nutzte den Schwung, um seinen Stuhl zu drehen, bis er erneut seine beiden Kollegen sehen konnte.
»Lassen Sie uns einfach mal die These formulieren, dass es sich bei der gravierten Waffe, die ich beim toten Russen sichergestellt habe, tatsächlich um die Neunmillimeter aus dem Safe handelt. Und lassen Sie uns weiter davon ausgehen, dass sie auch bei den Morden im Keller der Carstens-Villa abgefeuert wurde«, sagte Alex.
»Die beiden Toten, die wir heute aus dem Osterfeuer geborgen haben, wurden ebenfalls mit einer Neunmillimeter erschossen«, ergänzte Strobelsohn. »Wir könnten demnach vorläufig sagen, dass es sich hierbei ebenfalls um die gleiche
Waffe handelt.«
»Sind das nicht ein wenig zu viele Spekulationen auf einmal?«, gab Henrik zurück.
Spielt Henrik absichtlich den Bedenkenträger?
, fragte sich Alex.
Strobelsohn runzelte die Stirn. »Henrik, wie hoch sind die Chancen, dass es sich nicht um die gleiche Pistole handelt?« Er hob seine große Hand und zählte an den Fingern ab: »Erstens: Die Waffe des toten Russen ist definitiv keine gewöhnliche P 38. Das ist ein Sammlerstück, und die Gravur passt zu dem Muster, das sich in den Samt der leeren Präsentierschachtel aus Carstens’ Tresor eingedrückt hat. Zweitens …« Er blickte zu Alex. »Das wissen Sie noch nicht, Herr Gutenberg: Das Spurensicherungsteam hat Diamanten in dem Wohnwagen der Russen entdeckt. Die Steine sind von gleicher Qualität wie die beiden, die wir im Safe in der Carstens-Villa gefunden haben.«
Alex horchte auf. »Tatsächlich?«
Strobelsohn nickte. »Ja. Einundzwanzig Diamanten. Ein Batzen Geld.« Er hielt inne, runzelte die Stirn und fuhr fort: »Drittens – auch das wird Ihnen neu sein: Im Wohnwagen befand sich außerdem ein leerer Aktenordner. Er war mit Dmitri Ivanov
beschriftet. Er gleicht den Mappen aus dem Safe aufs Haar … Und last but not least ist der Stallboden voller Blut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns die Laborergebnisse vorliegen und wir mit Sicherheit sagen können, dass die zwei Russen die beiden vermissten Mitarbeiter vom Burchardkai ermordet haben, bevor sie ihre Körper im Osterfeuer deponierten.«
Strobelsohn wandte sich an Henrik. »Also: nein. Ich denke nicht, wir gehen mit unseren Spekulationen zu weit.«
Henrik blinzelte einmal. Dann nickte er zögerlich. »So betrachtet muss ich Ihnen zustimmen.«
»Ich möchte sogar noch eins draufsetzen«, fügte Strobelsohn an. »Ich behaupte, dass unsere drei Fälle – das Massaker in der Villa, die toten Frauen im Container beim Burchardkai und die ermordeten Hafenmitarbeiter vom Osterfeuer –, dass sie alle zusammenhängen. Und dass Dmitri Ivanov dahintersteckt. Er hat die Russen beauftragt.«
Alex zögerte. »Gut möglich«, stimmte
er zu.
»Aber …«, begann Henrik. Er warf einen vorsichtigen Blick in Strobelsohns Richtung. »Angenommen, das alles stimmt … Es passt nicht.«
»Was passt nicht?«, erwiderte Strobelsohn.
»Wie gelangte die Waffe zurück in den Safe. Und warum?«
»Jetzt fangen Sie an, die richtigen Fragen zu stellen«, ermutigte Alex den jungen Polizisten.
Eine leichte Freudenröte überzog Henriks Wangen. Aber er sprach nicht weiter.
»Was haben wir übersehen?«, hakte Alex nach.
»Nun … wenn wir auf eine bequeme Antwort aus sind, dass alle vom gleichen Täter umgebracht wurden und dass Dmitri Ivanov dahintersteckt …«, fasste Strobelsohn zusammen, »wie hat sich das dann zugetragen?«
»Okay«, übernahm Henrik. »Sagen wir mal, die Killer haben sich Zutritt zur Carstens-Villa verschafft. Sie haben die Pistole aus dem Safe genommen. Damit haben sie eines der Opfer im Keller erschossen. Den Rest haben sie anderweitig massakriert. Dann gehen sie nach oben. Sie legen die Waffe zurück in den Tresor, machen ihn zu und kommen ein paar Tage später wieder, um sich die P 38 endgültig zu holen? Und sie sprengen den Safe? Das ergibt keinen Sinn.«
Richtig
, dachte Alex und sagte laut: »Sind wir sicher, dass sich die Pistole im Tresor befand? Die P 38 ist Björn Carstens’ persönliche Waffe. Wir können nicht ausschließen, dass er sie im Keller bei sich trug.«
»Warum sollte er das tun?«, fragte Henrik.
»Er dürfte seinen Freunden doch nicht so ganz vertraut haben«, erwiderte Strobelsohn.
»Genau«, sagte Alex. »Somit wäre es rein theoretisch möglich, dass die beiden Russen nicht nur die zwei Hafenmitarbeiter auf dem Gewissen haben. Sie könnten auch die Mörder von Björn Carstens und seinen drei Freunden sein. Und wovon wir sogar mit ziemlicher Sicherheit ausgehen können, ist, dass sie ein paar Tage später in die Villa eingestiegen sind. Sie haben den Tresor gesprengt, um sich Ivanovs Akte und die Diamanten
zu holen. Beides hatten sie bei sich, obwohl Ivanovs Dossier leer war.«
»Vermutlich haben sie den Inhalt längst vernichtet«, sagte Strobelsohn.
Henrik nickte hastig. »Okay. Okay. Doch warum haben sie Suzanne Carstens nicht gleich im Keller erledigt, als sie die Gelegenheit dazu hatten? Sie waren ohnehin dabei, alle umzubringen … Und Suzanne Carstens war offensichtlich Teil ihres Auftrags.«
»Dafür fallen mir nur zwei denkbare Erklärungen ein«, erwiderte Alex. »Suzanne Carstens könnte sich während des Massakers gar nicht im Souterrain aufgehalten haben.«
»Das ist aber unwahrscheinlich«, beeilte sich Henrik, einzuwerfen. »Wir haben auf ihr das Blut von zwei Opfern gefunden und sie wurde hart verprügelt.«
»Korrekt«, bestätigte Alex. »Deshalb vermute ich eher, dass die Russen – vorausgesetzt, sie sind die Täter – gestört wurden. Wodurch auch immer …« Alex holte tief Luft und ließ sie hörbar wieder ausströmen. »Nach wie vor bleiben für meinen Geschmack viel zu viele Fragen unbeantwortet. Hundertprozentig zufrieden bin ich ni…«
Die Tür wurde schwungvoll geöffnet. Bolsen tänzelte herein. Eigentlich schwebte er. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er bester Laune.
»Guten Tag, meine Herren«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Sie haben also die Mordwaffe gefunden. Was haben Sie noch für mich?«
»Bedauerlicherweise wissen wir momentan nicht mit Sicherheit, ob es sich um die Mordwaffe handelt. Wir können nur mutmaßen, dass sie vom Tatort stammt«, beeilte sich Strobelsohn, das Missverständnis geradezurücken.
Bolsen ging bis dicht an den Kommissar heran und klopfte ihm herablassend auf die Schulter. Dabei musterte er ihn eingehend von der Seite. »Sie suchen immer nach Gründen, warum etwas nicht geht. Nicht wahr, Herr Strobelsohn? Nehmen Sie sich ein Beispiel an Herrn Gutenberg.« Er hob ein gedrucktes
Blatt Papier hoch, das er beim Hereinkommen in seiner Hand gehalten hatte. »Das ist sein Protokoll zu dem Schusswechsel im Bauernhaus. Und ich zitiere: Der Angreifer feuerte eine Neunmillimeter ab, die zu der verschwunden geglaubten Waffe der Carstens-Morde überraschende Ähnlichkeiten aufweist
.«
»Wir werden bald schlauer sein«, sagte Henrik. »Wir warten auf den Bericht der Ballistik. Momentan können wir nicht mehr sagen. Wir haben Hinweise, ja. Aber der Vierfachmord im Keller der Villa, der Container voll toter Frauen am Burchardkai und die beiden Leichen, die im Osterfeuer verbrennen sollten – das alles ist bislang noch nicht wirklich geklärt.«
Bolsen drehte sich Henrik mit einem viel zu breiten Grinsen zu. »Herr Breiter, Sie müssen lernen zu erkennen, wann es an der Zeit ist, Probleme zu sehen und wann, den Beweisen zu folgen. Wenn die Forensik bestätigt, dass es sich bei der gravierten P 38 um die Mordwaffe in der Carstens-Villa handelt und sie bei der Exekution der beiden Hafenmitarbeiter benutzt wurde … Wenn nur ein Fingerabdruck dem toten Russen zugeordnet werden kann … um Himmels willen! Lassen Sie es gut sein! Fall abgeschlossen.« Bolsen klopfte mit seinem protzigen goldenen Siegelring auf den Schreibtisch. »Sobald Ihnen die Laborberichte vorliegen, geben Sie mir Bescheid. Ich werde eine große Pressekonferenz einberufen – Zeitung, Radio, Fernsehen. Und unter meiner Leitung dürfen Sie drei und Frau Dr. Wolf berichten, wie wir unseren Täter gefasst haben.«