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Das Schellen einer Klingel. Vielleicht bildete ich es mir nur ein. Doch dann noch einmal, und nach einer kleinen Pause erneut.
Ich öffnete die Augen. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 9:37 .
Mist ! – ich setzte mich abrupt auf.
Alex und ich hatten uns für halb zehn verabredet. Zu einem späten Frühstück. Ich hatte verschlafen.
Wann war mir so etwas das letzte Mal passiert? Ich konnte mich nicht daran erinnern.
Ich schwang mich aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und ging vorsichtshalber zum Fenster, um hinauszuspähen. Tatsächlich Alex. In einem Trenchcoat, den ich nicht kannte. Mit zwei Papiertüten in der Hand.
Ich fuhr mir durchs Haar, vermied einen Blick in den Spiegel und eilte die Treppe hinunter.
Das Klingeln wiederholte sich. Ich holte tief Luft und ö ffnete die Tür.
»Hallo!«, flötete ich möglichst unbedarft. »Sorry, ich habe den Wecker überhört.«
Er lächelte. Stand ihm gut. »Ist doch kein Problem. Ich äh …« Er brach ab.
»Geh schon mal rein, du kennst dich ja aus«, beeilte ich mich, zu sagen. »Ich springe schnell unter die Dusche und ziehe mir was an. Bin gleich wieder zurück.«
Ich ließ ihn einfach stehen und machte mich auf den Weg nach oben.
»Nur keine Hektik!«, rief er mir hinterher. »Heute ist Feiertag. Wir haben keinen Termindruck.«
Ich ging zum Schrank und legte mir frische Kleidung bereit. Geräusche von unten. Das Klappern von Porzellan und Besteck. Das Rauschen von Wasser. Natürlich – die Küche. Ich hatte am Vortag keine Zeit gehabt, sie aufzuräumen. Dort türmte sich das benutzte Geschirr von unserem gestrigen Frühstück. Und jetzt machte er für mich sauber … Ich seufzte. Daran konnte ich nichts mehr ändern. Dann war das eben so.
Rund eine Viertelstunde später kam ich nach unten, diesmal in einem durchaus präsentablen Zustand, und stockte. Im Esszimmer war für zwei Personen gedeckt. Und die Küche war nicht wiederzuerkennen. Blitzblank.
Alex drehte mir den Rücken zu. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln stand er am Herd und briet irgendetwas in der Pfanne. Der Holster am hinteren Teil seiner Hüfte war sichtbar. Seine Pistole steckte darin.
Er wandte sich um und lächelte mir entgegen. »Das ging aber schnell«, sagte er. »Und du kommst gerade rechtzeitig. Die Rühreier sind gleich fertig.« Er hielt inne. »Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich deinen Kühlschrank geplündert habe?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz und gar nicht. Ich habe seit gestern Mittag nichts mehr gegessen.«
»Dann passt es ja«, sagte er sichtlich zufrieden.
»Du hast sie zurück?« Ich deutete auf seine Waffe.
»Ja.« Er grinste. »Stell dir vor: Ein Herr Hollensen hat sie mir gestern Abend überraschenderweise persönlich vorbeigebracht, kurz bevor ich nach Hause gehen wollte.«
»Wirklich?«, erwiderte ich.
»Mhm. Ist ein netter Kerl, dieser Hollensen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen, er zählt nicht unbedingt zu deinen Fans.« Der Kaffee war durchgelaufen. Ich nahm die Kanne heraus und trug sie ins Esszimmer nebenan.
Alex folgte mir mit der Pfanne. Er verteilte die Eier auf unseren Tellern. Wir setzten uns.
Brötchen, Plunderteile, Orangensaft, Butter, Käse und Wurst sowie Marmelade. Er hatte an alles gedacht. Deshalb die zwei großen Tüten, die er mitgebracht hatte.
»Hmmm. Himmlisch«, meinte ich kauend.
»Muss es auch sein. Stammt vom Bäcker der Gourmet-Tankstelle «, erwiderte er.
Wir lachten beide.
Den Rest des Frühstücks sprachen wir nicht viel. Kein Wort über die Arbeit und kein überflüssiger, erzwungener Smalltalk. Durch das Fenster schien die Sonne zu uns herein und tauchte den Raum in ein hellgelbes, warmes Licht. Ich genoss es.
Alex stand auf, räumte die benutzten Teller in die Küche, kam zurück und schenkte uns Kaffee nach. Er setzte sich wieder.
»Es gibt Neuigkeiten in unserem Fall«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich und fühlte zugleich eine gewisse Enttäuschung, dass die kurze Idylle eines unbeschwerten Ostermontags zu Ende ging.
»Heute früh hat mich Strobelsohn angerufen«, sprach er weiter. »Das Labor hat sich gemeldet. Die Projektile aus den Toten im Osterfeuer und die Kugel aus der Carstens-Villa wurden von der gleichen Waffe abgefeuert. Und zwar von der, die wir in dem Bauernhaus bei der Schleuse sichergestellt haben. «
Sichergestellt – eine nette Umschreibung , dachte ich und sagte: »Demnach haben die zwei Russen das Massaker in der Villa begangen und haben auch die Leute vom Osterfeuer auf ihrem Gewissen?«
Alex spielte gedankenverloren mit seinem Becher. Er hielt ihn am Henkel fest und drehte ihn unschlüssig auf der Untertasse hin und her. »Zumindest sieht das Bolsen so.«
»Mir gefällt das nicht«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
»Mir ebenfalls nicht«, stimmte er mir zu.
»Nur, weil die Kugeln aus einer Waffe stammen … damit ist rein gar nichts erklärt. Kein Motiv. Dann das Nikotin, mit dem die Opfer in der Villa vergiftet worden sind. Der aufgebrochene Safe ein paar Tage später. Und Suzanne Carstens … warum haben die Kerle sie nicht gleich ermordet? War doch offenbar ihr Auftrag. Das passt alles nicht.«
Alex schob die Tasse von sich fort. »Ich habe versucht, Bolsen umzustimmen. Vergeblich. Er hat mir erklärt, seiner Meinung nach handle es sich eindeutig um eine Fehde im Rotlichtmilieu…«
»Und Björn Carstens?«, unterbrach ich ihn.
»Puh.« Alex blies die Wangen auf und ließ die Luft hörbar ausströmen. »Laut Bolsen hat Björn Carstens damit eigentlich gar nichts zu tun. Er habe eben leider Gottes einige menschliche Schwächen gehabt … Sexueller Natur. Und den falschen Umgang. Bedauerlicherweise sei dann alles aus dem Ruder gelaufen.«
Ich konnte es nicht glauben. »Das klingt fast so, als würde Bolsen Carstens ein Stück weit reinwaschen wollen.«
»Den Eindruck hatte ich auch.«
»Kannten sich die beiden? Bolsen und Carstens?«
Alex verzog den Mund. »Bolsen kennt alle VIPs der Stadt. Sonst hätte er nicht den Job, den er hat.«
»Das heißt im Klartext: Bolsen will die Fälle abschließen?«
»Ja.« Alex nickte. »Er hat es bereits angewiesen.«
»Und Strobelsohn und Henrik?«
»Die sind darüber alles andere als glücklich. Aber sie tun, was man ihnen sagt. Du weißt doch, wie das läuft.«
»Klar weiß ich das.«
Wir schwiegen.
»Bolsen bereitet eine große Pressekonferenz vor«, durchbrach Alex die Stille. »Örtliche und überörtliche Medien. Wir dürfen mit.«
Ich schnaubte. »Darauf kann ich gerne verzichten! Und wie erklärt er diesen Dmitri Ivanov und dessen Verwicklung in der Sache?«, versuchte ich es erneut.
»Gar nicht. Das seien nur Gerüchte. Es stünde überhaupt nicht fest, dass es dieses Phantom tatsächlich gibt.« Er machte eine Pause. »Da hat er nicht ganz unrecht. Nicht einmal der BND hat konkrete Infos über den Mann.«
»Okay«, sagte ich. »Oder besser: nicht okay.«
Alex sah mich prüfend an.
»Wie ich Suzanne Carstens erlebe … dann Peter Westphal. Da steckt weitaus mehr dahinter, als wir bislang wissen.«
»Richtig. Das nutzt aber nichts. Peter Westphal werden wir entlassen müssen. Und Suzanne Carstens kann machen, was sie will. Sich einen anderen Psychotherapeuten suchen. Geld genug hat sie.«
Ich stand auf, ging in den Flur und kam mit einer leicht angegilbten Akte zurück.
»Was ist das?«, fragte mich Alex.
»Das sind die Unterlagen zum Suizid von Peter Westphals Vater«, sagte ich. »Henrik hat sie mir per Hauspost zukommen lassen. Sie befanden sich in meinem Fach, als ich von Suzanne Carstens zurückkam.«
Alex runzelte die Stirn. Er wirkte nicht überzeugt. »Das soll uns etwas bringen?«
»Keine Ahnung. Ich denke aber, es würde zumindest mir helfen, loszulassen.«
»Dann werfen wir einen Blick hinein«, sagte er. »Kann ja vielleicht auch ganz interessant sein. «
»Danke.« Ich zog meinen Stuhl auf seine Seite und nahm neben ihm Platz. Die Akte legte ich zwischen uns und schlug sie auf.