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Mithilfe eines Rollators konnte sich mein Vater relativ sicher fortbewegen. Er hielt sich an beiden Griffen fest und schob ihn über den mit Natursteinen gepflasterten Weg langsam, aber stetig vor sich her. Ich schritt dicht neben ihm.
Der Park des Seniorenheims war nahezu verlassen. Nur ein weiteres Pärchen drehte seine Runden: eine weiß gekleidete Pflegerin und eine Frau mit Stock. Sie waren bestimmt an die fünfzig Meter von uns entfernt.
Mein Vater und ich schwiegen. Die Nachmittagssonne schien. Vögel zwitscherten um die Wette, und die lilafarbenen Krokusse in der Wiese blühten noch üppiger als vor rund einer Woche.
Es war schon traurig. Trotz Feiertag war ich offenbar die Einzige, die ihren Verwandten besuchte. Arme, alte Seelen – abgeschoben und vergessen.
Urplötzlich strauchelte mein Vater. Er knickte auf der linken Seite ein. Ich stützte ihn und lenkte ihn behutsam zu einer Bank. Wir
nahmen Platz.
Er schenkte mir einen dankbaren Blick. Stumm blieben wir nebeneinander sitzen.
Zwei Eichhörnchen sprangen von einem Baum, jagten sich quer über die Wiese und kletterten einen Ahorn hinauf. Dabei gaben Sie die typisch schnalzenden Schimpfgeräusche von sich. Putzig – ich lächelte.
»Deine Mutter ist sehr fleißig«, sagte mein Vater unvermittelt.
Ich sah ihn an und unterdrückte das melancholische Gefühl, welches in mir aufsteigen wollte. »Das ist sie.«
Er deutete auf die Krokusse. »Schau, wie schön sie den Garten hergerichtet hat. Die vielen hübschen Blumen. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißen. Aber Rosi kennt sie alle.«
»Mutter arbeitet gern draußen«, sagte ich.
Er nickte. »Ja. Dadurch unterscheiden wir uns.« Er runzelte die Stirn. »Das ist sehr gut. Ich erfreue mich an den Pflanzen. Aber mit meinem Beruf, da bin ich dermaßen eingespannt…« Er wies auf die alte Fernbedienung, die einsam im leeren Netz des Rollators lag. »Ich hätte gar keine Ahnung, was ich mit den Blumen machen soll. Wie viel Wasser sie brauchen oder Dünger.« Er hob hilflos eine Hand.
»Ihr ergänzt euch super«, bemerkte ich.
»Das tun wir, Evi.« Er tätschelte mir das Knie.
»Und ihr führt eine tolle Ehe.«
»In der Tat. Ich bin ein glücklicher Mann.«
Die Eichhörnchen jagten sie noch immer. Sie hatten die Baumkrone erreicht und kletterten über die halb kahlen Äste. Ich musste an Alex denken und an unsere Auseinandersetzung in der JVA.
»Du und Mutter, wieso streitet ihr euch nie?«, fragte ich meinen Vater. »Obwohl ihr so unterschiedlich seid.«
Er bedachte mich mit einem irritierten Blick. »Wir streiten uns nicht?«
»Jedenfalls habe ich es nie mitbekommen.
«
Er lächelte. »Das ist auch nichts für Kinder. Rosi und ich haben sehr wohl unsere Meinungsverschiedenheiten.« Sein Lächeln wurde verschmitzt. »Und wie!«
Das war mir völlig neu. »Wirklich?«
»Mhm.« Er nickte. »Die Kunst ist, sich hinterher wieder zu versöhnen. Dass man aufeinander zugeht. Sich verzeiht.« Er stockte. »Das ist das Schönste an unserer Ehe.«
Mein Handy klingelte. Ich beschloss, es zu ignorieren.
Das Klingeln hörte nicht auf.
Er wies auf meine Jackentasche. »Dein Telefon. Geh doch ran.«
»Ach, nein«, sagte ich. »Das ist sicher beruflich.«
Er schüttelte streng den Kopf. »Evi, Beruf ist wichtig!«
Ich seufzte und zog das Smartphone heraus. Eine mir unbekannte Nummer.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Frau Wolf?«, sagte eine junge weibliche Stimme zögerlich. »Ich bin’s, Suzanne Carstens.«
»Hallo, Frau Carstens«, gab ich zurück.
»Sie haben mir erlaubt, Sie anzurufen, wenn ich das Bedürfnis danach habe.«
Vielleicht lag es an der Verbindung, aber sie klang seltsam.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Was gibt es denn?«
»Ich würde Sie gerne sprechen. Persönlich.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich kann heute Abend vorbeischauen, wenn Sie möchten.«
Kurze Stille. Dann: »Es wäre besser, Sie kämen gleich.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah zu meinem Vater. Er hatte die defekte Fernbedienung aus dem Netz des Rollators genommen und tippte auf ihr herum.
»Gut«, sagte ich widerstrebend. »In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.«
»Das passt. Vielen Dank. Ich höre so lange Musik. Eine Oper.«
»Prima Idee«, erwiderte
ich.
»Ich probiere meine neuen Kopfhörer aus. Ich gebe dem Wachposten vor der Tür sicherheitshalber meine Schlüsselkarte, damit Sie nicht umsonst klopfen.«
»In Ordnung«, meinte ich.
»Vielen Dank.« Die Verbindung wurde beendet.
Ich legte die Hand auf den Unterarm meines Vaters. Er blickte mich an.
»Ich muss leider gehen«, sagte ich.
»Selbstverständlich.« Er schenkte mir ein nettes, aber unverbindliches Lächeln. »Frau…« Er hielt inne, sein Ausdruck wurde fragend. »Bitte entschuldigen Sie. Wie war Ihr Name noch mal?«