65
Es dämmerte bereits, als ich das Hotel Atlantic Kempinski erreichte. Hinter den Sprossenfenstern der Fassade leuchteten erste gelbe Lichter. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das weiße Gebäude mit seinen üppigen Verzierungen in zarte orange-violette Farbtöne.
Ich fand einen Parkplatz keine zwanzig Meter entfernt am Straßenrand und eilte zum Eingang. Der Portier in seinem dunklen Kostüm, dessen Mantel an das weite Cape eines Kutschers erinnerte, tippte sich an den Zylinderhut und lächelte mir zu.
Ich stieg die steinernen, von mächtigen Säulen gesäumten Stufen empor, ging durch die gläserne Tür, durchquerte das Foyer und nahm den Lift bis zu Suzanne Carstens’ Räumen.
Einer der beiden Beamten, die zur Wache eingeteilt waren, kannte mich. Wir wechselten ein paar nette und belanglose Worte und er übergab mir die Schlüsselkarte.
Dennoch klopfte ich zunächst an, bevor ich sie dann benutzte.
Ich betrat die Suite. Halbdunkel empfing mich. Nur eine einzelne Stehlampe brannte im Wohnbereich neben der
Couch. Auf der lag Suzanne Carstens. Sie hatte die Augen geschlossen. Doch sie trug keine Kopfhörer.
Mein Blick fiel auf den Boden. Ich entdeckte eine umgeworfene Wasserflasche, daneben ein Glas und ringsum verschiedene aufgerissene Medikamentenschachteln.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich rannte zu ihr, rüttelte sie an der Schulter.
Sie schlug die Augen auf und lächelte mich an.
»Frau Carstens!«, sagte ich.
Sie reagierte nicht weiter.
Ich bückte mich, hob eines der Tablettenröhrchen hoch. Leer. Ich las den Aufdruck und wandte mich ihr zu. »Haben Sie die alle geschluckt?«
Sie nickte stumm.
Ich ließ das Röhrchen achtlos fallen, eilte zum Nebenzimmer, das wir für unsere Gespräche nutzten. Die Tür war nur angelehnt. Und innen … mein Rollcontainer war in die Mitte des Raumes geschoben worden, seine Schubladen aufgebrochen.
Ich kehrte zu Suzanne Carstens zurück und sah zu ihr hinab. »Haben Sie die Tabletten alle von drüben?«
»Ja«, sagte sie leise. »Bitte holen Sie keinen Notarzt. Bitte nicht! Es ist ohnehin zu spät. Ich habe im Internet nachgeschaut. Die Frist ist vorüber, die Wirkstoffe sind schon im Blut. Man kann mir nicht mehr helfen.«
Ich atmete tief durch. Dann nickte ich. »Okay.« Ich setzte mich zu ihr auf den Couchtisch und beugte mich ein wenig vor.
»Frau Carstens«, begann ich. »Was ist geschehen? Warum wollen Sie sterben?«
Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten fast unirdisch in dem dämmrigen Licht. »Es hat doch alles keinen Sinn mehr.«
Ich runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«
»Der Staatsanwalt … Herr Gutenberg war bei mir.«
Eine furchtbare Vorahnung keimte in mir auf. Ich biss die Zähne zusammen, um das klamme Gefühl in
Schach zu halten.
»Aha«, stieß ich hervor.
»Er hat es mir verraten.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
Ihre Miene blieb gelöst, aber ausdruckslos. »Das von Peter. Dass er gestorben ist.«
»So?«
Alex, dieser Vollidiot. Dieser karrieresüchtige Mistkerl
, dachte ich. Was hat er nur angerichtet? Ich hatte es ihm doch erklärt. Überdeutlich!
»Sie brauchen mich nicht mehr zu schonen«, sprach Suzanne Carstens weiter. »Ich weiß alles. In der JVA hat es einen Kampf gegeben. Peter ist geschlagen worden, unglücklich gefallen und …« Sie brach ab.
»Wenn Ihnen Herr Gutenberg das so berichtet hat«, meinte ich leise.
»Ich bin ihm dankbar für seine Ehrlichkeit.« Sie hielt inne. »Peter war der einzige Mensch neben meiner Mutter, der sich jemals um mich gekümmert hat. Noch einmal schaffe ich das nicht. Ich will einfach nicht mehr.«
Ich blieb still.
»Mein Großvater«, begann sie und ihre Stimme klang rau und tonlos. »So ehrenwert nach außen. In Wirklichkeit war er ein Monster. Ich habe es Ihnen auf der Ad Astra erzählt. Er hat meine Mutter immer geholt. Er hat gepfiffen. Sie musste zu ihm. Seine eigene Tochter … Sie hat so gelitten. Er hat ihr wehgetan. Sehr. Als Kind habe ich das nicht verstanden. Und ich hatte solche Angst … Ich habe mich unter der Treppe versteckt. Trotzdem habe ich alles gehört. Jede Einzelheit.« Sie blickte mich direkt an. »Und ich sage Ihnen: Er hat den Tod mehr als verdient. Ich würde es wieder tun.«
Sie
war die Mörderin. Ich zwang mich, sachlich zu bleiben.
»Wie haben Sie es denn getan?«, fragte ich. »Vier erwachsene Männer und Sie allein?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mit Fentanyl. Und Nikotin – dazu habe ich eine der Zigarren meines Großvaters eingeweicht. Ich machte Eiswürfel aus der Brühe.«
Ich
nickte.
»Ich musste sie unten immer bedienen, während sie aufgegeilt auf die Frauen gewartet haben. Ich habe ihnen das Zeug einfach in die Drinks geschüttet.«
»An der Mischung ist aber nur einer gestorben«, sagte ich. »Im angrenzenden Bad. Alistair Grauel.«
»Leider.« Sie schüttelte den Kopf. »Die anderen … Grauel ist raus aufs Klo. Big Karl, dieses Schwein von einem Zuhälter, hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Keine Ahnung, wieso … Vielleicht hat er was Ungewöhnliches geschmeckt … Den Drink hat er jedenfalls in einem Zug runtergekippt.« Sie lachte auf. »Dieser Drecksack! Hat zuerst gedacht, es sei sein Kumpel Schilling gewesen.«
»Der Frauenarzt?«
Sie schnaubte. »Genau! Frauenarzt – Metzger trifft es eher. Schilling wäre problemlos an Gifte herangekommen. War naheliegend. Karl hat sein Messer gezückt. Er hat gern sein Messer benutzt, vor allem in Gesichtern von Frauen … Er ist auf Schilling los, hat ihn angeschrien, dass er alle vergiften wollte…«
»Big Karl hat Schilling die Kehle durchgeschnitten«, stellte ich klar.
»Mit einer einzigen Bewegung. Das ging ruckzuck.«
Sie presste die Lippen zusammen. Ich wartete, und als sie nichts weiter sagte, fragte ich: »Und Ihr Großvater? Der ist nicht eingeschritten?«
»Zuerst war er verwirrt. Erschrocken. Damit hatte er nicht gerechnet. Wollte sich einen netten Abend
machen … Dann fiel sein Blick auf mich. Er hat es sofort gewusst.«
»Er hat Sie angegriffen?«
»Er hat angefangen, mich zu schlagen. Hart. Wie damals, als er mir die Nase gebrochen hat. Du Missgeburt
, du dreckige Missgeburt
, hat er dabei geschrien. Immer wieder. Und Big Karl kam ihm zu Hilfe. Sie haben mich gegen die Vitrine geschleudert. Das Glas ging kaputt.«
»Und dann?
«
»Eines der Entermesser fiel heraus. Ich habe es genommen. Ich habe Schwung geholt. Viel Schwung. Mein Großvater wich vor mir zurück, strauchelte … Der obere Teil des Schädels ist einfach … weggeflogen.«
»Sie haben ihn anschließend erstochen.«
»Er saß plötzlich auf dem Stuhl …« Ihre Mundwinkel hoben sich.
»Und Big Karl? Was hat der in der Zwischenzeit getan? Zugeschaut?«
Sie sah weg.
»Lassen Sie uns noch einmal zu dem Punkt zurückkehren, wo Sie gegen die Vitrine geworfen wurden«, versuchte ich es nach einer Weile erneut. »Sie lagen am Boden, vor Ihnen zwei starke Männer.«
Sie schaute mich noch immer nicht an.
»Ich werde Ihnen erzählen, was wirklich passiert ist«, sagte ich. »Sie hätten die Morde nie allein begehen können. Sie hatten Hilfe. Von Peter Westphal.«
»Nein!«, stieß sie hervor.
»Doch«, beharrte ich. »Peter hatte sich oben im Haus versteckt. Er war es auch, der die Außenleuchten angeschaltet hat, damit die Prostituierten gar nicht erst in die Villa kamen. Sie und er wollten ungestört bleiben.«
»Nein«, wiederholte sie.
Ich ging nicht auf sie ein. »Peter hat sich die gravierte Pistole aus dem Safe geholt. Die Kombination hatte er von Ihnen. Als er das Geschrei von unten hörte, wurde ihm klar, dass Ihr Plan nicht funktioniert. Er rannte die Treppe hinunter und hat Big Karl erschossen. Erst dann haben Sie Ihren Großvater getötet.«
»Das ist nicht wahr«, flüsterte sie.
»Leider ist es wahr«, erwiderte ich. »Sie und Peter Westphal haben das gemeinsam ausgeheckt. Sie hatten ihm auf der Ad Astra das Foto Ihrer Mutter gezeigt. Und er hat den Manschettenknopf erkannt.
«
Sie leckte sich über die Lippen. »Mein Großvater hat Peters Vater ermordet und es wie einen Selbstmord aussehen lassen. Das stimmt. Das andere nicht.«
»Und der Manschettenknopf in der Hand Ihres Großvaters? Den hat Peter dort hineingelegt, richtig? Der Knopf hatte nur für Peter eine Bedeutung. Für Sie nicht. Also war Peter am Tatort.«
Suzanne Carstens blieb mir eine Antwort schuldig.
»Sie haben vier Menschen auf dem Gewissen«, fuhr ich fort. »Was Ihr Großvater Ihrer Mutter angetan hat, ist schrecklich. Aber die anderen hatten damit doch gar nichts zu tun. Und was Björn Carstens angeht … Sie können nicht einfach Selbstjustiz üben. Das ist der falsche Weg.«
»Sie haben doch keine Ahnung!«, zischte sie unvermittelt.
Ich verstand nicht. »Was meinen Sie?«
»Ich hatte jedes Recht der Welt dazu. Schilling, der sogenannte Frauenarzt
. Allein er hat den Tod tausendfach verdient.«
»Er hat sich um Big Karls Prostituierte gekümmert.«
»Genau. Gekümmert
!«, stieß sie hervor. »Er hat dafür gesorgt, dass sie weiter anschaffen gehen konnten. Und meine Mutter…«
»Was war mit Ihrer Mutter?«
»Sie war wieder schwanger. Großvater wollte das nicht. Nicht schon wieder … Eines Tages hat er sie an den Haaren nach unten geschleift. Sie hat so geschrien … Sie hat geweint und gebettelt, dass er sie loslässt. Er kannte keine Gnade.« Sie stockte. »Schilling hat ihr das Baby aus dem Unterleib geschnitten. In dem Bad im Keller. Nur leider waren sie wie immer alle betrunken und zugedröhnt. Die Blutung hat nicht aufgehört…«
Ich war fassungslos. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Ihre Mutter ist dort unten gestorben?«
»Sie ist krepiert wie ein Hund.«
»Wissen Sie das mit Sicherheit?«
Ein mitleidiger Blick von ihr. »Großvater hat mich runtergebracht. Er hat mir gezeigt, was passiert, wenn ich nicht
gehorche. Ich musste das Blut aufwischen. Da war ich zehn … Die vier Männer standen daneben und haben gelacht. Sie haben einfach gelacht …« Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange.
»Ich habe den Bericht gelesen. Ihre Mutter ist an einem Blinddarmdurchbruch gestorben.«
»Das hat mein Großvater arrangiert. Schilling hat den Totenschein ausgestellt. Nicht das erste Mal, dass sie so etwas gemacht haben.«
Draußen vor den Fenstern nahm die Dämmerung zu. Suzanne nickte ein.
Ich tippte sie an. Sie riss ihre Lider auf.
»Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie entsetzt ich bin. Aber eins verstehe ich nicht«, sagte ich.
»Was denn?«, meinte sie leise, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht zeigte mir, dass sie bereit war, loszulassen.
»Ihre Mutter war schwanger. Wo war denn der angehende Vater? Warum ist sie nicht mit Ihnen zu ihm gegangen?«
»Zum Vater?«
Ich nickte. »Genau.«
»Sie war doch beim Vater.«
»Sie missverstehen mich. Ich meine nicht Björn Carstens, den Vater Ihrer Mutter. Ich meine den Vater des ungeborenen Kindes. Zu dem hätte sie gehen können.«
»Genau da war sie.«
»Wie?«
»Björn Carstens war der Vater. Der Vater meiner Mutter, der Vater des ungeborenen Babys und mein Vater.«
»O mein Gott …«, entfuhr es mir. »Ich … Es ist … es ist unvorstellbar, wie Sie und Ihre Mutter gelitten haben müssen.«
»Sie halten das für unvorstellbar?« Ihr Gesicht glich einer Totenmaske. »Nachdem sie gestorben war … ein paar Wochen später … fing es an. Er pfiff wieder. Diesmal nach mir. Und er hat mit mir gemacht, was er wollte, wo er wollte und wann er wollte. Als er genug von mir hatte, waren seine drei Freunde dr
an. Hat ihnen gefallen. War mal was Neues. Ein Kind, Sie verstehen?«
Ich fand keine Worte mehr. Ich streckte die Hand aus und streichelte ihr sanft über das Haar. Sie kauerte sich zusammen und schloss die Lider.
»Bleiben Sie bei mir?«, flüsterte sie.
»Sicher«, sagte ich.
Ihr Atem wurde ruhiger. »Peter hatte damit nichts zu tun«, murmelte sie. »Ich war’s. Ich war’s ganz allein.«
Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen. Ich blieb sitzen, betrachtete ihr ebenmäßiges Gesicht, die dichten Wimpern, die zarte, helle Haut und die gebrochene und leicht schief zusammengewachsene Nase. Irgendwann stand ich auf und verließ die Suite. Ich schloss die Tür hinter mir.
Die beiden Beamten sahen mich an. Und der Polizist von vorhin sagte: »Frau Dr. Wolf? Ist alles in Ordnung mit Frau Carstens? Sie sehen so … bleich aus?«
Ich straffte die Schultern. »Frau Carstens schläft.«
Der Polizist lächelte. »Das ist schön! Sie ist sonst recht nervös. Wir hören sie immer durch die Räume geistern. Bestimmt haben Sie ihr Beruhigungstabletten gegeben.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »In Frau Carstens’ Suite gibt es keine einzige Tablette. Nur Placebos.«