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Evelin war bei Alex mit eingestiegen. Sie fuhren durch die Nacht. Schweigend.
Alex sah nach vorn. Dann warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie starrte halb abgewandt aus dem Seitenfenster.
Er überlegte, was er ihr sagen könnte. Dabei wurde ihm bewusst, dass er bei Suzanne Carstens nicht anders hätte handeln können. Er würde es wieder genau so machen. Deshalb hatte es keinen Sinn, Evelin besänftigen zu wollen. Sie würde sofort durchschauen, dass er es nicht ehrlich meinte und es nur des lieben Friedens willen sagte. Und das würde die Situation verschärfen, statt sie zu entschärfen.
Sie fuhren weiter, erreichten eine Überführung und gerieten in den Abendverkehr. In konstanter, wenn auch gemächlicher Geschwindigkeit rollten sie dahin; sie würden ihr Ziel erreichen, aber nicht besonders schnell.
Evelin brach ihr Schweigen. »Sie hat gestanden.«
Verdammte Scheiße! Ich wusste es!
, dachte sich Alex. Laut sagte
er: »Aha?«
»Sie rief mich an und bat mich, zu ihr zu kommen, ohne mir den Grund zu verraten«, fuhr Evelin fort. »Ich bin sofort von meinem Vater weg und zu ihr. Sie lag auf der Couch, hatte alle Placebos geschluckt und war felsenfest davon überzeugt, dass sie sterben würde. Sie war richtig schläfrig. Das passiert bei hochsensiblen Menschen: Sie steigern sich so sehr rein, dass ihr Körper ihrer Erwartungshaltung folgt.«
»Hat sie es allein gemacht? Die Morde, meine ich«, kam Alex gleich zum Punkt.
Evelin schüttelte den Kopf. »Nein. Peter Westphal war definitiv mit von der Partie. Aber sie hat es bis zum Schluss abgestritten.«
»Wie hat sie es getan?«
»Wie wir es vermutet haben. Mit Nikotin und Fentanyl in den Drinks. Bei Grauel hat es funktioniert. Die anderen drei haben es gemerkt. Sie sind sich zuerst gegenseitig nach, und als sie sich auf sie gestürzt haben, geriet es völlig außer Kontrolle.«
»Hat sie sonst noch etwas zum Ablauf erzählt?«
»Sie hat mir gegenüber gestanden, ihren Großvater umgebracht zu haben.«
»Mit dem Entermesser?«
»Ja. Mit dem Säbel aus der zerbrochenen Vitrine.«
»Und alles wegen diesem verdammten Geld.« Alex schüttelte angeekelt den Kopf.
Evelin drehte sich auf ihrem Sitz zu ihm, um ihn direkt ansehen zu können. »Nein. Es ging überhaupt nicht ums Geld.«
Er warf ihr einen schnellen Blick zu, bevor er sich wieder aufs Fahren konzentrierte. »Okay. Peter Westphal hatte ein anderes Motiv. Der Manschettenknopf, den er bei seinem Vater gefunden hat. Und auch sie hatte eins, weil ihr Großvater ihre Mutter missbraucht hat. Das kommt hinzu.«
»Das ist erst die Spitze des Eisbergs.«
Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. »Was meinst du?«
Die Ampel vor ihnen sprang auf Rot. Er hielt an.
»Carstens hat ihre Mutter umgebracht.
«
»Nein. Sie starb an einem Blinddarmdurchbruch.«
»Das stimmt nicht. Die Todesursache war eine schiefgelaufene Abtreibung, die Schilling an ihr in dem Klo im Keller durchgeführt hat.«
Er starrte sie an. »O mein Gott!«
»Ihre Mutter ist verblutet, und Suzanne musste hinterher alles aufwischen.«
Alex antwortete nicht. Um Himmels willen! Wie kann man so etwas einem Kind nur antun? Das arme Mädchen!
Das Auto hinter ihnen hupte. Er riss sich von seinen Gedanken los und schaute nach vorn. Grün. Er fuhr wieder an.
»Kurz nach dem Tod ihrer Mutter begann ihr Großvater, sie regelmäßig zu missbrauchen. Er hat sie auch seinen drei Freunden zugeführt.«
Alex erinnerte sich an den Keller und an dessen Einrichtung. Er wollte nicht einmal ansatzweise nachvollziehen, was sie mit dem Mädchen da unten angestellt hatten. Er blieb still und sagte dann: »Warum ist die Mutter nicht einfach weg?«
»Ich nehme an, sie war psychisch bereits zu schwach und dazu nicht mehr fähig.«
»Wegen des Missbrauchs durch Björn Carstens?«
»Carstens war nicht nur der Vater des ungeborenen Kindes, das Schilling abgetrieben hat. Er war auch Suzanne Carstens’ Vater.«
»Was für ein widerliches, unmenschliches, dreckiges Schwein!« Alex bis die Zähne hart zusammen.
»Da hast du dein Motiv. Es ging nicht ums Geld. Überhaupt nicht.«