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Das Hamburger Untersuchungsgefängnis an der Straße Holstenglacis ist ein klotziger, rund einhundertfünfzig Jahre alter Bau. Mehrere Stockwerke hoch aus rotem Ziegel gefertigt, umgeben von einer mächtigen Steinmauer mit gerolltem Stacheldraht – imposant und bedrückend zugleich.
Schweigend waren Alex und ich aus dem Krankentrakt in seinen BMW zurückgekehrt. Hier saßen wir nun und starrten durch die Windschutzscheibe auf das beleuchtete Gebäude. Noch immer sprach niemand von uns ein Wort.
Wie sehr ich mich auch anstrengte – das, was Peter Westphal und davor Suzanne Carstens berichtet hatten, klang dumpf in mir nach. Obwohl ich es nicht wollte, wanderten meine Gedanken zu den Morden in jener Nacht.
Wie war es genau abgelaufen? Suzanne befand sich im Keller. Und Peter? Ich runzelte die Stirn. Oben. In Suzannes Zimmer? Nein. Zu weit entfernt. Er musste sich in der Nähe aufgehalten haben. Als Schutz für Suzanne, falls etwas schieflief. Wo also? Im Wohnzimmer. Er saß sicher im Wohnzimmer. Auf einem der Sessel oder auf der Couch. Hatte er eine
Lampe angemacht? Bestimmt nicht. Er blieb im Dunkeln, er wollte nicht entdeckt werden.
Suzanne Carstens hatte mir ihren Teil der Geschichte detailliert geschildert. Im Vergleich dazu hatte sich Peter Westphal Alex und mir gegenüber gerade wesentlich zurückhaltender gezeigt. Konnte ich ihre beiden Aussagen zu einem Ganzen zusammenfügen? Mir vorstellen, welche Rolle Peter dabei gespielt hatte? Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf ihn. Und plötzlich wusste ich es:
Der Raum vor Peter war groß, schien kein Ende zu nehmen. Der Mond, der von außen silbrig hineinschien, spendete nur wenig Licht. Es verlieh den Möbeln unirdische, fremde Konturen, die sich bewegten und veränderten, wann immer eine Wolke über den Himmel zog.
Peter wartete, es herrschte absolute Ruhe – schwer und drückend kündigte sie ein unheilvolles Ereignis an, das alles verändern würde. Der Tod würde leise kommen, schleichend und doch endgültig.
Peter war aufs Äußerste angespannt und seltsam erleichtert zugleich.
Von weit weg drangen Geräusche an sein Ohr. Er richtete sich auf, lauschte. Er wagte es nicht einmal, zu atmen.
Nichts. Er hatte sich getäuscht.
Unvermittelt kamen die Geräusche zurück. Diesmal lauter.
Stimmen. Zusammenhanglose Wortfetzen wurden gebrüllt. Er konzentrierte sich, beugte sich weiter vor.
Und dann hörte er es. Überdeutlich: »Du Missgeburt! Du dreckige Missgeburt!«
Wieder und wieder und wieder…
Peter blickte auf den Tisch vor sich. Auf die Pistole, die er sich bereitgelegt hatte. Er ergriff sie, sprang auf und rannte los.
Seine Schritte hallten dumpf durch das Wohnzimmer. Er erreichte die Bedienstetentreppe, die nach unten führte. Auch hier
kein Licht. Er nahm zwei, drei Stufen auf einmal. Und noch immer diese Schreie, dieses Brüllen.
Du dreckige Missgeburt…
Er umrundete eine Ecke.
Plötzlich ist vor ihm alles hell. Der große Partyraum. Schilling sitzt auf einem der Sessel. Seine Kehle ist aufgeschlitzt. Aus der klaffenden Wunde pulst schwallweise Blut heraus. Suzi steht gebückt in der Nähe des Schranks, in dem die nautischen Hieb- und Stichwaffen ausgestellt sind. Sie schützt ihren Kopf mit beiden Armen. Big Karl und Björn Carstens schlagen abwechselnd auf sie ein. Sie wehrt sich nicht. Sie werden Suzi umbringen.
Peter ist wie erstarrt. Unfähig, sich zu bewegen. Unfähig, zu handeln.
Jetzt packt Björn Suzi. Er hebt sie hoch, mühelos, und wirft sie in die Vitrine hinein. Das Glas zerbricht. Einzelne Säbel fallen heraus.
Peters Starre löst sich. »Aufhören!«, schreit er. »Aufhören!«
Die beiden Männer verharren in ihren Bewegungen, drehen sich zu Peter um. Ohne jedes Zögern kommt Big Karl auf ihn zu. Schnell. Er trägt ein blutiges Messer in der linken Hand.
Peter hebt die Pistole. Das geschieht automatisch. Wie von selbst krümmt sich sein Finger um den Abzug. Das Dröhnen eines Schusses. Das großkalibrige Geschoss klatscht in den Oberkörper des Zuhälters, der geht zu Boden.
Peter richtet die Waffe auf Björn Carstens. Ihre Blicke treffen sich. Carstens hat keine Furcht. Nicht die geringste Spur von Angst. Nur Hass, Gewalt und Mordlust spielen auf seinen Zügen.
Eine Bewegung neben Carstens. Peter sieht für einen Moment lang hin.
Da ist Suzi. Sie kommt wieder auf die Beine, ihr Gesicht blutüberströmt und geschwollen. Schwankend hält sie einen der großen Säbel mit beiden Händen fest.
Auch Carstens hat sie bemerkt.
Er schaut sie an.
Suzi richtet sich auf, ächzt und holt mit voller Kraft aus. Die breite Klinge des Entermessers saust zischend durch die Luft.
Carstens weicht zurück, stößt mit dem Fuß gegen den Couchtisch. Er strauchelt und fällt rückwärts in einen der leeren Sessel. Er kommt zum Sitzen, will sich an den Armlehnen abstützen und hochstemmen, wieder auf Suzi losgehen.
Die Schneide des Säbels trifft ihn an der Schläfe, gleitet wie mühelos durch seinen Kopf. Ein Stück seines Schädels fliegt weg. Blut spritzt.
Suzi wird durch den Schwung fast umgerissen, findet ihr Gleichgewicht wieder. Sie hebt das Entermesser und rammt es mit einem unmenschlichen Schrei ihrem Großvater mitten in die Brust…
Ich öffnete die Augen. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und sah zu Alex. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatten ihn ähnliche Gedanken beschäftigt wie mich.
»Nicht unbedingt die typischen Mörder«, sagte ich.
»Peter Westphal und Suzanne Carstens?« Alex seufzte. »Ganz sicher nicht.«
»Sie haben sich nicht gegenseitig belastet.«
Er schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Sie haben die Schuld jeweils allein auf sich genommen. Um den anderen … ja was? Um den anderen zu schützen?«
»Genau.«
»Und doch bleiben vier vorsätzliche, kaltblütige Morde.«
»Vorsätzlich bestimmt«, gestand ich ein. »Jedoch nicht kaltblütig.«
»Wie auch immer.« Er zuckte mit den Schultern. »Mord bleibt Mord. Dafür werden sie sich verantworten müssen.«
»Vor einem Gericht?«
»Wo denn sonst?«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig und blickte zum Seitenfenster hinaus. Es begann zu regnen.
»Was ist?«, fragte er mich.
»Das ist unbefriedigend
und äußerst unfair.«
»Wieso, bitte, ist das unfair?«
Ich drehte mich ihm zu. »Insbesondere Suzanne Carstens, aber auch Peter Westphal, haben durch diese vier Männer extrem gelitten. Sie sind traumatisiert. Ihr Leben ist ein einziges Trümmerfeld.« Ich stockte. »Selbstverständlich war es falsch, was sie gemacht haben. Das steht außer Frage. Nur, was ihnen angetan wurde, was ist damit? Das war doch vor allem für Suzanne wesentlich schlimmer als der Tod.«
Er zögerte. »Schon«, meinte er schließlich.
»Und jetzt? Jetzt willst du sie wieder bestrafen.«
Er runzelte die Stirn. »Worauf zielst du ab? Was willst du mir suggerieren? Soll ich die beiden einfach laufen lassen?«
»Im Moment kennen außer den zweien nur wir die Wahrheit.«
Sein Mund wurde schmal. »Und morgen werde ich es bei der Abschlussbesprechung Bolsen und Strobelsohn erzählen. Die ganzen Umstände werden bei der Verhandlung und bei der Bemessung des Strafmaßes mit einfließen.«
»Das kannst du verantworten?«, fragte ich.
»Ja. Anders geht es nicht.«
Ich spürte, wie ich wütend wurde. Eiskalter, ohnmächtiger Zorn stieg in mir hoch. »Bei denen bist du unerbittlich. Da kennst du keine Gnade. Aber …« Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Aber?« Seine Augen blitzten. »Sprich dich ruhig aus!«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Doch. Doch! Jetzt kommt alles auf den Tisch.«
»In Ordnung«, sagte ich. »Dir gegenüber bist du großzügiger.«
»Was soll das heißen?«
Ich hatte es nicht sagen wollen. Doch jetzt brach es aus mir heraus. »Was du in Afghanistan gemacht hast. Bei deinem Freund.«
Er sah mich ungläubig an. »Das kann man unmöglich vergleichen! Das war etwas vollkommen
anderes!«
»Nein. Du hast auch getan, was du glaubtest, tun zu müssen. Du hast nach deinen eigenen Regeln gehandelt.«
Er schwieg eine Weile. Dann fragte er leise: »Ernsthaft?«
»Da ist kein Unterschied.«
Er atmete hörbar aus. »Doch! Ein gewaltiger sogar!«
»Eben nicht«, beharrte ich. »Lüg dir ruhig weiter etwas vor.«
»Unsinn«, brachte ich heraus.
»Nur, weil du dir selbst nicht verzeihen kannst, heißt das nicht, dass andere Menschen keine Vergebung verdienen.«
Der Blick seiner Augen wurde ausdruckslos. »Ich werde Bolsen, Strobelsohn und Breiter morgen über alles informieren.«
»Du bist fest entschlossen?«, fragte ich, obwohl ich seine Antwort bereits kannte.
»Ja.«
»Gut. Dann nehme ich mir lieber ein Taxi.« Ich wandte mich von ihm ab und öffnete die Beifahrertür.
»Ist vielleicht besser so«, sagte er zu meinem Rücken.
Inzwischen regnete es in Strömen. Ich stieg ins Freie, ging ein paar Schritte und kramte das Handy heraus.
Während ich nach der Nummer der Taxizentrale suchte, hörte ich, wie Alex den Motor seines BMWs anließ und wegfuhr.