71
Ich hatte an einem der Tische vor dem Poseidon Platz genommen. Kurz nach zehn Uhr vormittags – die gesamte Freifläche gehörte mir. Die Sonne schien. Eine sanfte Brise strich mir über das Gesicht. Sie trug den Geruch von Wasser und Frühling mit sich.
Mir war warm, ich zog die Jacke aus und hängte sie an die Lehne meines Stuhls.
Georgios’ junge Kellnerin war gerade damit beschäftigt, die restlichen Tische abzuwischen und zu bestücken. An einem Werktag, und um diese Tageszeit, war noch nicht viel los. Ein paar Ruderer und kleine Segelboote hatten sich auf die Alster verirrt. An der Flusspromenade flanierten nur wenige Menschen, die meisten von ihnen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern oder Touristen.
Georgios mit seiner etwas zu engen schwarzen Weste über dem weißen Hemd trat ins Freie, erblickte mich und eilte zu mir.
»Evi, meine Liebe«, begrüßte er mich. »Schön, dich zu sehen. So
früh heute?«
»Notgedrungen«, erwiderte ich. »Ich hatte nichts mehr zu essen im Haus, also musste das Frühstück ausfallen. Im Büro habe ich dann Hunger bekommen. Und da dachte ich mir, du zauberst mir bestimmt einen netten Brunch.«
Georgios strahlte. »Und wie ich das mache!« Er musterte mich kurz, aber eindringlich. »Für dich allein oder kommt dein Team auch?«
Bei der Formulierung dein Team
musste ich lächeln. »Nein, das denke ich eher nicht. Heute bin ich solo.«
»Das macht überhaupt nichts. Ich werde dir sofort, persönlich …« Er stockte, kniff die Augen zusammen und sah die Straße hinunter. »Ah! Da ist Alex! Du bleibst doch nicht solo.«
Ich drehte mich halb um und folgte seinem Blick. Alex im Anzug ohne Mantel kam auf uns zu.
»Guten Morgen«, sagte er, als er uns erreicht hatte.
»Guten Morgen«, gab ich zurück.
»Einen wunderschönen
guten Morgen«, sagte Georgios.
Alex machte keine Anstalten, sich zu mir zu gesellen. Und er lächelte nicht.
Georgios schaute von Alex zu mir und wieder zurück. Er seufzte leise, ergriff einen Stuhl und zog ihn einladend ein Stück nach hinten. »Bitte, Herr Gerichtspräsident. Nimm doch Platz bei Evi. In der Sonne. Die ist gut für das Gemüt. Macht prima Laune.«
Alex runzelte die Stirn, setzte sich aber zu mir.
»Na also!«, sagte Georgios. Er wandte sich an Alex. »Ich bereite jetzt gleich für Evi einen phänomenalen Brunch zu. Du willst sicher ebenfalls etwas essen. Hast du besondere Wünsche?«
»Nein.« Alex lächelte leicht. »Überrasche mich. Ich vertraue dir voll und ganz.«
»Ist besser so.« Georgios zog sich die Weste gerade, nickte uns beiden zu und verschwand im Lokal.
Alex und ich blickten zum Fluss. Wir schwiegen
.
Nach einer Weile räusperte er sich. »Seit der Pressekonferenz hatten wir keine Gelegenheit, unter vier Augen zu sprechen.«
»Das stimmt«, gab ich ihm recht. »Wie hast du mich hier gefunden?«
»War nicht schwer. Ich habe in deinem Büro angerufen. Die Sekretärin hat mir verraten, du würdest nur schnell etwas frühstücken gehen. Da war das Poseidon naheliegend.«
»Keine Geheimnisse«, sagte ich.
»Keine Geheimnisse.« Er machte eine Pause. »Es war falsch von mir, Suzanne Carstens aufzusuchen. Ich hätte ihr nicht suggerieren dürfen, dass Peter Westphal gestorben ist. Das war ein großer Fehler, der schlimm hätte enden können.«
Ich strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. »Und ich hätte wissen müssen, dass du nicht aufgibst und alles versuchen wirst, um den Fall zu knacken. Ich hätte bei dir bleiben und dich begleiten müssen.«
Die Kellnerin brachte uns Mineralwasser und Kaffee. Wir warteten, bis wir wieder allein waren.
Alex nahm seine Tasse und trank einen Schluck.
»Wieso hast du deine Meinung geändert?«, fragte ich ihn. »Warum hast du die beiden doch nicht verraten?«
»Warum?« Er setzte seinen Becher ab. »Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. In dem Moment, als sich Bolsen nach meinen neuesten Informationen erkundigt hat … da konnte ich es einfach nicht tun. Ich habe es nicht über mich gebracht.«
»Weil Suzanne Carstens und Peter Westphal Vergebung verdienen«, sagte ich.
»Ja. Vielleicht deswegen.« Er spielte mit einem Tütchen Zucker herum, das auf der Untertasse gelegen hatte. »Was machen Suzanne Carstens und Peter Westphal jetzt? Er wurde inzwischen entlassen. Er muss sich zwar wegen der Sache in der Klinik verantworten, aber das werden wir auf kleiner Flamme halten.«
»Im Moment wohnen beide im Hotel Atlantic.
«
»In die Villa nach Blankenese wollte Suzanne Carstens nicht zurückkehren?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat mir berichtet, sie wird das Anwesen verkaufen. Sie sucht einen Bauträger, der das Haus abreißt und dort etwas Neues errichtet.«
»Ist besser so«, sagte Alex.
»Ganz sicher.«
»Weißt du sonst etwas von den beiden?«
»Nicht viel.« Ich verzog den Mund. »Ich habe ihnen einen guten Therapeuten besorgt. Sie möchten mittelfristig an die dänische Grenze ziehen. Nah ans Wasser. Da können sie segeln, und er kann weiter als Unterwasserschweißer arbeiten … Was die Zukunft bringt, wird sich zeigen.«
»Werden es die zwei schaffen?«
Ich legte den Kopf schief. »Wenigstens haben sie jetzt eine Chance. Es liegt bei ihnen.«
»Eine Sache treibt mich um«, sagte Alex.
»Welche denn?«
»Der Zuhälter auf dem Stuhl. Peter Westphal hat uns doch erzählt, dass er Big Karl, nachdem er ihn erschossen hat, auf einen Sessel gesetzt hat.« Alex runzelte die Stirn. »Warum zur Hölle hat er das getan? Ich verstehe es nicht. Warum hat er ihn nicht einfach liegen lassen?«
»Puh«, machte ich. »Genau werden wir das nie erfahren. Allerdings habe ich schon eine Theorie.«
»Und die wäre?«
»Der Raum war voller Blut, Zerstörung und Tod. Der Frauenarzt saß mit aufgeschlitzter Kehle auf einem Sessel. Carstens ist sitzend auf einem zweiten Sessel gestorben … dadurch, dass Peter Westphal den Zuhälter ebenfalls auf einen Stuhl platziert hat, hat er eine gewisse Art von Ordnung in das Chaos gebracht.«
»Quasi … aufgeräumt?«
Ich nickte. »Zumindest unterbewusst. Damit hat er sich selbst bewiesen, dass er noch immer die Kontrolle über die entgleiste Situation
besitzt.«
»Die er nicht hatte.«
»Die Illusion hat Peter Westphal bei dem geholfen, was anstand und getan werden musste.«
»Das Säubern der Waffe und das Zurücklegen in den Safe.«
»Zum Beispiel.« Ich nickte erneut. »Sowie das Einräumen der Gläser mit den Giftrückständen in die Spülmaschine, das Absetzen des Notrufs … Und die ganze Zeit über musste er sich um Suzanne kümmern. Versuchen, sie aus ihrem Schockzustand zu bekommen.«
»Der war echt?«
»Das war er. Eindeutig.«
Georgios und seine Kellnerin brachten uns zwei große Platten, üppig beladen mit Zucchini-Omelette, Fava Erbsencreme, gefüllten Paprika, Weinblättern, einem Frischkäseaufstrich mit Knoblauch und Basilikum sowie selbst gebackenem Pitabrot und Sesamkringeln. Sogar an meine heiß geliebten Honigschnecken hatte Georgios gedacht.
Er nahm unsere Komplimente stillvergnügt zur Kenntnis, wünschte uns guten Appetit und überließ uns dem Brunch.
Auch Alex hatte Hunger. Für eine Weile blieben wir still und aßen.
Meine Kaffeetasse war leer. Alex sah mich schweigend an, ich neigte meinen Kopf und er goss mir nach.
»Die Morde in der Villa haben eine riesige Lawine ausgelöst«, sagte er.
»Mhm«, gab ich zurück. »Wenigstens diesen Teil hat Bolsen ganz gut zusammengefasst.«
Alex schnaubte. »Auch wenn er Björn Carstens’ Beteiligung heruntergespielt hat.«
»Bolsen ist eben fast schon ein Politiker«, sagte ich. »Wir wissen alle, dass Carstens die Strippen gezogen hat. Er war der Chef. Er hatte die Kontakte zu diesem Ivanov nach Russland.«
»Klar«, gab mir Alex recht. Er tunkte ein Stück seines Sesamkringels in die Fava.
»Die beiden Russen, die wir in dem Bauernhaus aufgescheucht haben, kamen eindeutig von Ivanov«, sagte ich
.
»Er hat sie geschickt, nachdem die Ware
in den Containern verdorben
ist. Sie sollten nach dem Rechten sehen. Deshalb haben sie sich die beiden Hafenmitarbeiter geschnappt und sie gefoltert. Und als sie mitbekommen haben, dass Carstens und Co tot sind, hat ihnen Ivanov den Auftrag gegeben, sauber zu machen
.«
»Das glaube ich auch. Ivanov hat sicher gewusst, dass Carstens ein Dossier von ihm angelegt hatte. Das wollte er garantiert nicht in falsche Hände geraten lassen.« Ich widmete mich meiner Honigschnecke. Supersüß, superpappig. Traumhaft.
»Deshalb der Einbruch in der Villa«, sprach Alex unterdessen weiter. »Und deshalb der versuchte Anschlag auf Suzanne Carstens. Der BND-Mann hat uns erzählt, dass das ein Markenzeichen Ivanovs ist. Er räumt immer sehr gründlich hinter sich auf und rächt sich an der gesamten lebenden Verwandtschaft seiner Gegner.«
Ich griff mir eine Serviette und wischte mir die Finger ab. »Den flüchtigen Russen habt ihr bislang nicht geschnappt?«
Alex verzog den Mund. »Der ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich nehme an, er hat sich auf irgendein Schiff geschlichen und befindet sich schon längst auf der Rückfahrt nach Russland.«
»Das gefällt dir nicht«, stellte ich fest.
»Nein.«
»Genauso, wie es dir gegen den Strich geht, dass wir diesem Dmitri Ivanov nicht das Handwerk legen konnten.«
Alex hob einen Finger an. »Noch
nicht. Solche Verbrecher hören nicht auf. Irgendwann wird er geschnappt werden.«
»Das bleibt zu hoffen«, sagte ich.